Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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9. Kapitel.

Kleine Einquartierung.

Drüben sah es bös aus. Der ohnehin schon herbstliche Garten zertrampelt. Alles niedergetreten. Statt der würzigen Luft, die ihnen der Grunewald herüberschickte, feuchtbrenzliger Geruch.

Und nun erst drinnen! Geradezu trostlos! Frau Annemarie griff sich immer wieder an die Stirn, ob dies denn tatsächlich ihr trauliches Nest sei, auf das sie beide so stolz gewesen. Herrgott, es waren ja keine Kostbarkeiten, die sie sich angeschafft hatten. Aber alles gediegen und geschmackvoll, mit Liebe und Verständnis ausgewählt und zusammengestellt. Was hatte es ihnen in den sieben Jahren für eine Freude gemacht, bald hier, bald dort etwas Neues zusammenzusparen. Die Diele mit ihren hübschen Korbsesseln stammte von ihrem letzten Geburtstag. Rudi hatte sie damit überrascht. Durchweicht lag dort alles übereinander geworfen.

Die Räume im Erdgeschoß waren noch am besten fortgekommen. Wohn- und Sprechzimmer konnte man leicht wieder instand setzen. Nur die Fensterscheiben waren fast allenthalben von der Hitze gesprungen.

Das Eßzimmer – ihr hübsches Eßzimmer –, nein, zum Heulen traurig war es! Eine reine Sintflut. Darin schwamm ihr Nähkörbchen, Kinderstrümpfe, Decken und die Biedermeierdame, die Margot ihr als Kaffeewärmer gearbeitet hatte. Als Arche Noah ragte der noch nicht abgedeckte Frühstückstisch heraus. Waren es wirklich erst wenige Stunden her, daß sie hier gemütlich ihr Frühstück eingenommen hatten, daß Vronli mit der neuen Schulmappe losgezogen war? Um Jahre älter geworden kam sich Annemarie vor.

Flora, obwohl sie sonst gerade nicht besonders feinfühlend war, sondern nach Annemaries Ansicht sogar dickfellig wie ein Nilpferd, mußte doch wohl trotz ihrer Nilpferdnatur eine Ahnung davon haben, was in Annemaries Seele vorging. Denn sie faßte es, wenn auch auf ihre Art, in die Worte zusammen: »Jotte doch – dazu ha'mer nu allens so scheene jebohnert.« Dann stampften ihre gelben Kanarienfüße davon, Vronli von der Schule abzuholen.

Der rote Kokosläufer, die Treppe hinauf bis zum Obergeschoß, hatte häßliche braune Sengflecke. Er zeigte die Spuren von lehmigen Männerstiefeln.

Puh – war das eine Luft hier oben! Nicht zu atmen. Dieser Brandgeruch legte sich einem wie eine dicke Mauer auf die Lunge. Annemarie glaubte zu ersticken. Die Tür des Schlafzimmers hing geborsten, bloß noch Stückwerk, in der Angel. Einen Blick nur warf Annemarie in ihr rosenrotes Reich – sie schloß die Augen. Eine schwarze, rauchende Trümmerstätte. »In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.« Wie gedankenlos hatte sie diese Worte als Schulmädel heruntergeplappert. Heute empfand sie ihre ganze Tragweite. Alles, was mit ihr gelebt, was sie mit hausfraulichem Kerzen tadellos zu erhalten gesucht, in Rauch aufgegangen. Alles!

Annemarie lehnte das blonde Haupt gegen den angekohlten Türpfosten, und die Tränen flossen ihr die Wangen hinab. Ganz leise und still. Es kam selten vor, daß sie weinte. Bei ihrem heiteren Naturell konnte sie sich kaum der Zeit entsinnen. Ja doch – damals, als sie zum erstenmal ihr Kind im Arm gehalten hatte, ihr Vronli – aber das waren Freudentränen gewesen.

Jetzt weinte sie um verlorenes Glück. Nein – nicht doch –, energisch wischte sich Frau Annemarie die Augen aus. War sie denn ganz und gar nicht gescheit? Ihr Mann und ihre Kinder waren ihr unversehrt geblieben, und sie vergoß Tränen um leblose, ersetzbare Gegenstände.

Ersetzbar – –, nun, damit würde es nicht so einfach sein. Die Sachen, die damals noch erschwingbar gewesen, waren jetzt ins Unermeßliche gestiegen. Die Versicherungssumme bedeutete nur einen Tropfen auf einen heißen Stein. Man kam ohnedies jetzt nur gerade so aus. An Zurücklegen, wie in den ersten Jahren ihrer Ehe war gar nicht mehr zu denken. Sie hatte sich schon manchmal den Kopf zerbrochen, wie sie es möglich machen könnte, auch ihr Teil zum Verdienst mit beizusteuern. Aber Rudi hatte sie jedesmal ausgelacht, sooft sie davon gesprochen hatte, und hatte ihr die Sorgen von der Stirn geküßt. »Du hilfst ja tagtäglich erhalten und sparsam verbrauchen. Von früh bis spät bist du im Hause tätig. Ist das gar nix? Hätt' ich nit solch ein tüchtiges kleines Fraule, müßten wir uns Kinderfräulein und Stubenmädel halten, gelt? Was ich dadurch spare, wird halt auf dein Verdienstkonto gebucht, Herzle.« Ja, so hatte sich Rudi jedesmal geäußert, wenn sie ihm mit so »arg törichten Dingen«, wie er es nannte, kam. Aber jetzt war das anders. Jetzt hieß es Neuanschaffungen machen. Da mußte sie unbedingt auch ihr Teil dazu beitragen. Wie – das war ein Kapitel für sich. Das war ihr noch völlig unklar. Sie wußte nur, daß man dem Mann, dem lieben, guten, nicht allein die ganze schwere Last aufbürden dürfte.

Aber augenblicklich war keine Zeit mehr, fruchtlosen Gedanken nachzuhängen. Frisch ans Werk, wie sie ihr Lebtag alles angepackt hatte. Es sollte sie nicht wieder unterkriegen.

Die Kinderstube, die blütenweiße, war mohrenschwarz. Immerhin waren die Möbel wohl noch gebrauchsfähig, wenn man sie auflackierte. Dort ein verkohltes Bein – ach Gott, es gehörte zu dem in eine schwärzliche Masse verwandelten Teddybären, den Klein-Ursel ganz besonders liebte. Auch Puppe Gerda – Vronli nannte stets eins ihrer Kinder Gerda, seitdem die Mutter ihr erzählt, daß dies einst ihre Lieblingspuppe gewesen – ja, auch Puppe Gerda hatte dran glauben müssen. Hansis Schaukelpferd, auf dem Onkel Hans und Onkel Klaus schon geritten, hatte seinen stattlichen Schwanz durch die Glühhitze eingebüßt. Sonst aber schaute es ganz munter in das Durcheinander. Annemarie zog es am Zügel aus seinem verkohlten Stall, als ob ihm jetzt noch Gefahr drohe. Sie mußte lachen. Das erste, wobei sie in diesem Chaos ordnende Hand anlegte, war der Gaul. Sicher das Allernotwendigste.

»Mutti heiten – Lein-Usche auch heiten«, klang es da plötzlich hinter ihr.

»Ursel, wie kommst du denn hierher?« Erschreckt wandte sich Annemarie um.

Keiner weiter zu sehen. »Ja, Urselchen, bist du denn ganz allein gekommen?«

»Danz lein!« bestätigte das winzige Persönchen stolz. »Lein-Usche ausdeneift. Bei ollen Onte Bubumann dar niß ßeen. Danz etlis!«

Annemarie konnte sich nicht helfen. Anstatt ihrer Tochter wegen ihrer eigenmächtigen Handlungsweise Vorhaltungen zu machen, lachte sie hellauf über das energische kleine Ding.

»Ja, Urselchen, was willst du denn hier bloß?«

»Pielen in ßeene Tinnertube.«

»Da, sieh, wie deine Kinderstube ausschaut.« Sie nahm das Kind auf den Arm.

»Baba!« sagte Ursel. Und dieses eine Wort kritisierte die ganze Verwüstung treffender als eine ausführliche Beschreibung.

»Nein, Urselchen, hier ist es nicht schön für dich. Komm, ich bringe dich wieder hinüber.«

»Niß zu ollen Bubumann, – Mutti beiben.« Fest preßte Ursel ihr angesengtes Köpfchen an den der Mutter.

»Kindchen, hier kann ich dich wirklich nicht gebrauchen. Ach, sieh mal, da kommt ja das Vronli aus der Schule. Die geht mit dir hinüber und spielt mit dir.«

»Ah, jieh mal!« begrüßte Klein-Ursel freudig die große Schwester.

Die stand starr. Die Augen weit aufgerissen, als wären sie aus Glas. »Nanu – was ist'n hier los? Sind Räuber da gewesen?«

»Schlimmer als das. Feuer ist ausgebrochen, weil der ungezogene Hansi die Streichholzschachtel angefaßt hat.«

»Lein-Usche auch anfaschen, auch ßeenes Tuckelißtsen matten!« Das waren die pädagogischen Erfolge.

»Untersteh dich. Ja, sieh' nur, Vronli, wie es bei uns ausschaut. Schlafzimmer, Kinderstube, alles verbrannt.«

»Meine neue Zensurenmappe von Tante Ola etwa auch?« Vronlis bisher nur erstaunte Augen wurden entsetzt. »Dort drüben auf dem Pult hat sie gelegen. Aber da sind jetzt bloß noch olle verbrannte Papiere. Muttichen, das ist ja meine neue Zensurenmappe« – ein Jammerschrei hallte durch den Raum – – »schau nur, da ist noch ein kleines Stückchen rot mit Gold. Ach Gott, was mach ich denn nun bloß? Nun kann ich überhaupt nimmer in die Schule gehen!« Vronlis Schmerz löste sich in einem heftigen Tränenausbruch.

»Dehaut ninner«, bestätigte Klein-Ursel.

Frau Annemarie mußte lächeln. Vronli weinte um ihre Zensurenmappe – sie selbst hatte um andere verbrannte Dinge geweint. Kindische Tränen, die einen wie die anderen.

»Weine nicht, Vronli, der Weihnachtsmann bringt eine andere Zensurenmappe. Eine blaue oder grüne? Oder wieder eine rote?« Eine Mutter versteht es doch stets, Kinderschmerz zu heilen.

»Eine grüne.« Vronli schien getröstet.

»Ling-ling-ling-ling isch da deseid«, berichtete Klein-Ursel.

»Das Kind meint die Feuerwehr«, erklärte Annemarie ihrer verständnislosen Großen.

»Was, die Feuerwehr war auch hier?« Wieder gab es einen Jammerausbruch. »Immer, wenn was Schönes bei uns los ist, bin ich nicht da! Ich geh' überhaupt nimmer in die olle Schule.« Vronli trampelte vor Ärger über das versäumte Schauspiel mit dem Fuß.

»Aber, Vronli, wie unartig!« Zum erstenmal fand Annemarie bei diesem temperamentvollen Ausbruch, daß Vronli doch auch ihre Tochter sei. »Und wie unüberlegt, Herzchen. Ist denn das was Schönes, wenn unsere hübschen Zimmer, unsere Kleider und Wäsche und die Spielsachen alle verbrannt sind?«

»Puppe Gerda auch?« Vronli begann den verrußten Puppenwagen mit der Herzensangst einer Mutter zu untersuchen. »Mutti–i–i!« Gellend klang der Entsetzensschrei. Da lag ein verräucherter Lederbalg, schwarzgewordene Flachshaare und ein Paar schreckliche Augen – das war alles, was von ihrem Kinde noch übriggeblieben. Das hübsche rosige Biskuitgesicht war in tausend Splitterchen geborsten.

»Mutti, ich graule mich ja so; ganz furchtbar haben sie mich angeschaut!« Vronli verbarg den Kopf an Muttis Kleid, nur um die toten Augen nicht mehr zu sehen.

Annemarie nahm Vronli an die Hand. »Du bist mir ein rechter Hasenfuß. Wenn ich mich nun auch graulen würde, wenn einem von euch etwas zugestoßen ist. Das ist ja nette Mutterliebe! Komm, wir gehen jetzt hinüber zu unserem Nachbar, dem Herrn Pfefferkorn. Bei dem wohnen wir jetzt, bis unser Häuschen wieder menschlich ist.« Sie wollte das erregte Kind auf andere Gedanken bringen. Dies gelang ihr auch sofort.

»Zu wem gehen wir?« fragte Vronli interessiert.

»Olle Onte Bubumann«, übernahm Klein-Ursel die Erklärung.

»Ist das wahr, Mutterli?«

»Ja, freilich, der alte Herr war so lieb, uns ein Obdach anzubieten.«

»Ach, Muttichen, da graule ich mich ja noch viel doller.« Vronli überlegte allen Ernstes, was vorzuziehen sei, die furchtbaren Augen im Puppenwagen oder der alte Mann da drüben, vor dem sie alle drei Angst hatten.

Fest klammerte sie sich an der Mutter Hand, als man das gefährliche Terrain betrat.

Dort hatten die beiden Herren, der alte und der junge, inzwischen eine amüsante Stunde verlebt. Dieselbe hatte auch keine Einbuße erlitten, als Hansi ein prächtiges Pfauenauge, den Stolz der Schmetterlingssammlung, mit »ach, wie niedich!« zwischen seine derben kleinen Fingerchen packte und ihm dabei die Flügel zerriß. Herr Pfefferkorn lächelte sogar, als Hansi, ein wenig betreten, meinte: »Wie is es denn taputt detommen?«

Du mein Himmel, was bedeutete solche tote Liebhaberei, wenn man auch noch soviel Sorgfalt darauf verwendet hat, solch einem lebensprühenden kleinen Kerlchen gegenüber! Jetzt erst, bei jedem Wort des drolligen kleinen Besuches, empfand der alte Mann die ganze Leere seines Lebens, das ihm Vater- und Großvaterglück schuldig geblieben war.

Als dann der Regen nachgelassen hatte, mußte Herr Pfefferkorn seine bequemen Hausschuhe mit Stiefeln vertauschen, den Schlafrock mit dem Gehrock und das graue Troddelmützchen mit einem Hut von undefinierbarer Farbe. Denn Hansi bestand darauf, daß seine »Ssotoladenziretten« gekauft würden. Er selbst konnte leider nicht mitgehen, was ein wütendes Empörungsgeheul auslöste, das seltsam genug durch die stillen Zimmer, in denen man sonst nur das Summen der Fliegen hörte, hallte. Aber sogar Herr Pfefferkorn, der keinen Blick für Äußerlichkeiten hatte, und für Kleiderkram nun schon ganz und gar nicht, fand, daß er den jungen Mann in diesem Zustand nicht mit auf die Straße nehmen konnte. Hansi war nämlich nur mit Strümpfchen, Nachthöschen und einem braunen Sammetjackett des Vaters bekleidet, in das dieser noch geschwind bei dem eiligen Aufbruch den Kleinen gewickelt hatte. Nein, so konnte Hansi sich unmöglich auf der Straße sehen lassen.

Herr Pfefferkorn versprach, alsbald zurückzukommen, und legte seinem kleinen Kameraden mehrere naturwissenschaftliche Bücher, die Abbildungen hatten, auf den Tisch zur Unterhaltung.

Hansi war in einer Minute mit den »Bilderbüchern« des Onkel Bubumann fertig. Er klappte sie zu und sagte: »Dummes Zeuß!« Dann aber, nachdem er einige dutzend Male auf dem alten Ledersofa hin und her gehopst war, bis dieses zu ächzen begann, fand er es für geraten, sich doch wieder eingehender mit dem dummen Zeug zu beschäftigen. Den Federhalter verkehrt in die Tinte getaucht, begann er die Pflanzenabbildungen in den guten Werken auszutuschen. Unbekümmert darum, daß schwarze Tintenseen gähnten, schlug er die beschmierten Seiten um. So – die drei Bäumchen hier sahen jetzt aus wie die Tintenbuben. Der kleine Maler war ungeheuer stolz auf sein Werk. Nun mußte er auch noch das Feuer malen – das hatte doch großen Eindruck auf ihn gemacht. Da war ja zum Glück auch rote Tinte. Die Flammen züngelten nur so aus den Büchern des Herrn Pfefferkorn heraus. Auch auf die grüne Tuchplatte des Schreibtisches griffen sie über, Vaters Sammetjackett bekam was ab. Ja, sogar des Künstlers eifriges Gesichtchen. Das sah aus, als ob er im Kriege gewesen wäre. Hansi hatte durchaus keine Langeweile mehr. Als er die schlürfenden Schritte des heimkehrenden Besitzers vor der Tür hörte, lief er ihm strahlend entgegen: »So ßön despielt – so ßönes Billerbuch danz erlein demacht.«

»Ih, du meine Güte!« sagte Herr Pfefferkorn und stand starr. Seine Bücher waren seine einzigen Freunde in all den langen Jahren gewesen. Sie hatten ihn dafür entschädigen müssen, daß er nicht seiner Neigung folgen und Naturwissenschaften studieren konnte, sondern Bankbeamter werden mußte. Seit seiner Pensionierung hatte er ganz und gar mit ihnen gelebt. Es war ja unvorsichtig von ihm gewesen, seine Heiligtümer Kinderhänden anzuvertrauen; aber auf solchen barbarischen Vandalismus war er nicht vorbereitet gewesen. Hatten die Freuden, die er als Junggeselle entbehrte, nicht am Ende doch starke Schattenseiten?

Während Herr Pfefferkorn diese Fragen eingehend erwog, während sein kleiner neuer Freund nichts davon ahnte und angelegentlich in des Onkel Bubumanns Rocktaschen nach seinen »Ssotoladenziretten« forschte, kehrte Annemarie mit ihren beiden kleinen Mädeln, den Arm voll Kindersachen, die sich zum Glück im Reserveschrank noch gefunden, zurück.

»Ei, Hansi, warst du auch artig und hast dem Onkel nicht zuviel Mühe gemacht?« erkundigte sie sich freundlich.

Merkwürdig, – der Ärger, den Herr Pfefferkorn noch soeben verspürt hatte, verflog vor den strahlenden blauen Augen des blonden Frauchens, vor ihrer anmutigen Art.

»Bewahre, gnädige Frau, ih bewahre«, versicherte er.

Aber Mutteraugen sehen scharf.

»Na – na, – der Hansi sieht ja aus wie ein geschundener Raubritter. Und dort drüben der Schreibtisch – ja, Hansi, hast du etwa die schönen Bücher dort verdorben?«

»Ssöne Billerbücher für Onkel Bubumann demalt. Haste noch mehr Ziretten?« Er hatte bereits zwei Pakete ergattert.

»Aber, Hansi, du benimmst dich ja bodenlos! Herr Pfefferkorn,« – hier erfolgte ein lautes Kinderlachen. Es kam von Vronli, der trotz ihrer Angst der Name gar so komisch erschien. »Ja, Herr Pfefferkorn, ich bitte tausendmal um Entschuldigung für meinen zerstörungswütigen Sohn. Es ist mir recht peinlich – –.«

»Liebe gnädige Frau, die Stunde Freude, die der Junge mir gemacht hat, ist die Bücher reichlich wert.« Jetzt war Herr Pfefferkorn endlich mit seinen Überlegungen fertig geworden und zu diesem Resultat gekommen. »Ei, sieh, da ist ja noch jemand.« Vronli, die bisher verschiedene unbemerkt gebliebene Knickse in die Luft gemacht hatte, fühlte ihre Wange von knochiger Hand onkelhaft geklopft. »Wie heißt du denn, mein Kind?«

»Vronli.«

Pause. Herr Pfefferkorn sah zu, wie Frau Annemarie mit Klein-Ursel schäkerte.

»Wie heißt du, mein Kind?«

»Vronli!« Das Kind schrie es, in der Meinung, er höre schwer.

»Nun, nun, ich verstehe ja. Also ein kleines Schulmädchen. Das muß doch auch eine Schultüte erhalten.« Aus der anderen tiefen Rocktasche kam eine bunte Tüte zum Vorschein.

Vronli, die bisher vor Furcht kaum aufzusehen gewagt hatte, vollführte plötzlich einen Luftsprung, wobei sie dem gütigen Geber nachdrücklich auf die Hühneraugen trat. Aber selbst das konnte Herrn Pfefferkorns freundliche Gefühle nicht beeinträchtigen.

»Der fremde Onkel ist gütiger als die Eltern. Die haben die Schultüte über das Feuer vergessen. Wie sollen wir Ihnen nur für all Ihre Freundlichkeit danken, Herr Pfefferkorn!« wandte sich Annemarie an den alten Herrn.

Ihre jüngste Tochter übernahm das für sie. Klein-Ursel begann die Beine des alten Herrn mit ihren winzigen Fäustchen zu bombardieren, aus Empörung darüber, daß sie keine Tüte und keine Zigaretten bekommen.

»Was krabbelt denn hier noch herum? Ach, du meine Güte, das kleine Blondköpfchen hätten wir ja beinahe vergessen.« Unbeholfen hob er das leichte Dingelchen in die Höhe. »Ja, Ursula – –.«

Wieder erfolgte ein Lachausbruch von Vronli. »Ursel heißt sie doch.« Die Schultüte hatte ihr jede Angst vor dem fremden alten Herrn genommen.

»Usche – Lein-Usche auch Lade!« Ursel begann jetzt sogar das graubärtige Gesicht mit Backpfeifen zu regalieren.

»Ursel ist ganz unartig und bekommt keine Schokolade, zur Strafe«, sagte Annemarie streng.

»So atig – eia, oller Onte Bubumann!« Plötzlich streichelte die kleine Evastochter das graue, stoppelige Gesicht.

»Aua – Büschte – aua – so detatzt!« Nein, das kleine Ding war zu putzig. Das mußte belohnt werden.

Der noch soeben verprügelte Onkel zog einen Schokoladenhahn aus der immer neue Herrlichkeiten zutage fördernden Tasche.

»Titteritti«, da hatte Ursel ihm bereits den Kopf abgebissen.

»So, nun bedankt euch, Kinder.« Ursel tat dies sogleich, indem sie ihr Schokoladenmäulchen an den grauen Bartstoppeln abwischte. »Und dann wollen wir ins Nebenzimmer gehen und dem Onkel mal ein Stündchen Ruhe gönnen. Sonst bekommt er uns gleich am ersten Tage satt.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht, gnädige Frau«, protestierte Herr Pfefferkorn.

Aber Frau Annemarie mußte auch ihre kleine Gesellschaft erst mal wieder in die ihnen gehörenden Kleidungsstücke befördern und sich in dem ihnen freundlichst überlassenen Zimmer ein wenig häuslich einrichten.

So blieb der alte Mann wieder allein. Und wenn die verschmierten Bücher vor ihm auf dem Schreibtisch nicht gewesen wären, dann hätte er denken können, er hätte das nur geträumt, daß eine schöne blonde Frau freundliche Worte zu ihm gesagt, daß Kinderstimmen sein einsames Heim duchzwitschert, daß sich weiche Ärmchen um seinen Hals geschlungen.

Aus der Küche ertönte lautes Räsonieren. Vronli lief mit Kinderneugier hinaus, nachzuschauen, was es gäbe.

»So ein Frauenzimmer, so ein verbohrtes – janz klüterig hat sie mir de Mehlschwitze jerührt, und de Hälfte Kompott fehlt auch aus de Schissel. Nee, bloß keenen fremden Menschen nich in de Kiche. Lieber rackere ich mich alleene ab«, erging sich Frau Lübke draußen empört.

»Flochen weint, und eine olle Frau, die wie die Hexe aus Hänsel und Gretel aussieht, schimpft doll«, berichtete das kleine Mädchen, sich ängstlich an die Mutter schmiegend.

Diese ging hinaus, um Frau Lübkes Zorn zu besänftigen. Daß Flora naschte, war bereits eine historische Tatsache. Und daß sie vom Kochen so wenig verstand, wie von irgend etwas anderem, auch das wußte Frau Annemarie. Sie hatte das Mädchen nur behalten, weil sie noch keine so hohen Gehaltsansprüche machte, wie die meisten heutzutage.

Frau Lübke war wirklich sehr erbost. Selbst Annemaries freundlichem Zureden gelang es nicht, die Wolken auf ihrer Stirn zu zerstreuen. Frau Lübkes Herr war, was Essen anbelangte, sehr verwöhnt. Seit über zwanzig Jahren hatte er nur das Beste auf den Tisch gekriegt. Und da kamen nun plötzlich fremde Leute, die einen in der Welt »jar nichts« angingen, machten nichts als Unruhe und Arbeit und verdarben einem das Essen. Hätt' doch jeder für sich kochen sollen. Dann hätte das grünschnäblige Ding mit den gelben Entenpfoten ja ihre eigene Mehlschwitze verklütern können. Bei ihr war so was nicht Mode. In ihrem Ärger vergaß Frau Lübke, daß sie selbst gewünscht hatte, einheitlich zu kochen, damit nich so ville Töppe rumstehen, und sie die freundlich angebotene Hilfe der jungen Frau höchst energisch abgelehnt hatte.

»Rühren Sie das Mehl doch durch ein Sieb, Frau Lübke«, riet Annemarie, deren Kochkenntnisse in den sieben Jahren ihrer Ehe ersprießlich zugenommen hatten.

»So schlau bin ich selber. Gibt wieder 'n Stück mehr zum Abwaschen. Is noch gar nich jenug Arbeit.«

»Nun, Flora kann doch abwaschen, Frau Lübke.«

»Jott, die mit ihre schieligen Augen. Die guckt ja mit's rechte Auge in de linke Westentasche. Die würde mir scheen alles zerteppern.«

Sanftmut war durchaus nicht Annemaries Charakterstärke. Sie mußte sehr an sich halten, um diesem Knurren und Brummen des alten Wirtschaftsteufels gegenüber ruhig zu bleiben. Nein, wirklich, die Sache war hier unhaltbar. Wenn Herr Pfefferkorn auch lieb und gastfrei gegen sie war, er bedauerte gewiß auch schon heimlich seine Menschenfreundlichkeit.

Damit tat Frau Annemarie ihrem Wirt entschieden unrecht. Nein, Herr Pfefferkorn bedauerte ganz und gar nicht. Trotzdem heute ein jedes Stück, das zwanzig Jahre auf demselben Platz gelegen hatte, plötzlich verschwunden war. »Herrgott, wo ist denn mein Ding?« – Herr Pfefferkorn bezeichnete alles mit diesem Allgemeinbegriff. Er kramte in sämtlichen Taschen nach seiner kurzstummeligen Pfeife, die er eben noch auf dem Tisch gesehen hatte.

»Frau Lübke – Frau Lübke – mein Ding ist weg – wo haben Sie es hingelegt?« rief er aufgebracht. Ohne seine Pfeife war Herr Pfefferkorn wie ein anderer Mensch ohne Zähne.

»Was for'n Ding?« Frau Lübke erschien fettduftend.

»Herrgott, meine Pfeife.«

»Na, wo se immer liegt. Aber heute is ja allens auf'n Kopp gestellt bei uns. Wer weiß, wo die hinjekommen is.«

Jemand wußte es. Ein kleines, winziges Persönchen, das noch nicht bis zum Tisch reichte. »Juch mal – juch mal, oller Onte Bubumann!« erklang ein süßes Stimmchen. Ursels größte Freude war nämlich, etwas wegzuschleppen und zu verstecken, daß sich die großen Leute danach blind suchen mußten. Rudolf behauptete sogar, seine Tochter hätte eine wahre Elsternatur. »Juch mal – juch mal – –.« Sie klatschte in die Händchen und war selig, während der Suchende weniger vergnügt war. Denn meistens waren es Sachen, die man im Augenblick gerade höchst notwendig gebrauchte.

Der Onkel Bubumann sollte heute öfters Klein-Ursels neckendes »Juch mal!« vernehmen. Bald war es die Pfeife, bald die Schlüssel; jetzt das Taschentuch und einige Minuten später gar seine Brille, ohne die er ganz aufgeworfen war und nicht mal suchen konnte.

Er kam gar nicht zu Atem, der alte Mann. Zuerst hatte er freundlich zu dem Spiel gelächelt. Aber nach und nach wurde es ihm doch zu bunt. Das keine Ding war unermüdlich im Wegstibitzen und Verstecken. Und die Mutter konnte ihm nicht einmal helfen. Klein-Ursel hatte immer neue Schlupfwinkel, in die sie ihre Beute schleppte.

Das gemeinsame Mittagbrot entschädigte den alten Herrn für alle ausgestandenen Strapazen. Wie freundlich das Zimmer heute aussah! Lag das daran, daß die junge Frau Doktor den Tisch gedeckt und alles zierlich geordnet, ja, sogar ein Glas mit den letzten Astern hingesetzt hatte. Oder waren es nur ihre hellen, sonnigen Augen, das Leuchten ihres Goldhaares, was die sonst recht düstere Stube so hell machte? Oder am Ende die durcheinanderzwitschernden Kinderstimmen?

Herr Pfefferkorn kam zu keinem Resultat. Er wußte nur, daß ihm das Essen lange nicht so gut gemundet hatte wie heute! Trotzdem Frau Lübke bei jedem Gericht knurrig mitteilte, sie wasche ihre Hände in Unschuld, wenn es verdorben sei. Trotzdem Hansi seinen Löffel als Trommelstock benutzte und unausgesetzt einen ohrenbetäubenden Lärm damit auf dem Teller vollführte, bis der Teller entzwei war, und er selbst unter der verwunderten Frage: »Wie is er denn taputt bekommen?« vom Tisch gewiesen wurde. Trotzdem Klein-Ursel durchaus keinen »Nat« sondern nur »Apf« essen wollte, und Vronli sich höchst mißbilligend äußerte: »Au, der Onkel schlürft!« Ja, trotz alledem war es das herrlichste Mittagessen, das der alte Mann seit vielen, vielen Jahren eingenommen hatte.

Hansi und Ursel, die nach Tisch schlafen gelegt wurden, taten alles andere, nur nicht das von ihnen Gewünschte. Sie verursachten einen solchen Mordsspektakel, daß auch Herr Pfefferkorn kein Auge zutun konnte.

Annemarie war es entsetzlich unangenehm, daß der alte Herr durch sie aus seiner Ordnung kam.

Am Nachmittag erschien plötzlich ihre Mutter, um sich persönlich davon zu überzeugen, daß auch noch alle am Leben waren; eher hatte sie keine Ruhe gefunden. Na, und ihre Sorge war ja auch berechtigt. Wenn ihre Lotte ihr auch ganz mobil entgegenkam, sie trug doch den Arm in der Binde und hatte Schmerzen, wie sie zugestehen mußte. Natürlich nahm sie die ganze Gesellschaft gleich mit sich nach Charlottenburg. Es war ja wohl das Nächstliegende, daß ein Kind ins Elternhaus zurückkam, wenn auch über eine Stunde Wegs dazwischen lag. Und Vronli? Nun, die i und n würde sie auch in Charlottenburg auf die Tafel malen können. Was schadete denn das, wenn sie die ersten Tage die Schule versäumte! Annemarie war doch früher nicht so skrupelhaft gewesen in bezug auf sich selbst. Und ihr und dem Vater würde sie die größte Freude machen, die allergrößte – Frau Doktor Brauns Augen leuchteten förmlich –, wenn sie ihre Lotte und die Kinderchen mal ganz und gar bei sich haben konnte. Hanne hätte schon alles vorbereitet. So käme doch wenigstens etwas Gutes bei dieser unseligen Brandgeschichte heraus.

Auch Annemaries Augen hatten aufgestrahlt bei der Vorstellung, für einige Tage unter Mutters Flügel zurückzukriechen, sich wieder verhätscheln und verwöhnen zu lassen und keine Hausfrauensorgen zu haben. Aber gleich darauf schüttelte sie den Kopf.

»Du vergißt, Muttichen, daß ich nebenbei noch einen Mann habe. Meinst du, ich werde Rudi treulos verlassen?«

»Rudi selbst ist dafür, daß ihr zu uns kommt, Lotte. Wir haben heute mittag alles besprochen. So schnell, meint er, wird es mit der Wiederinstandsetzung der Wohnung doch nicht gehen. Und gar zu lange dürft ihr die euch hier liebenswürdigerweise gebotene Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen. Er allein kann sich mit seinem Sprechzimmer behelfen. Flora besorgt ihm alles. Zum Mittagessen kommt er zu uns herauf. Da ist er ja selbst; nun besprecht das miteinander, Kinder.« Die Omama hatte Wichtigeres zu tun, nämlich Klein-Ursel auf ihrem Fuß tanzen zu lassen. Das verstand keiner so schön wie sie.

Ja, Rudi war auch dafür. Er hatte sich das reiflich überlegt. So war es sicher das allerbeste. Und als Annemarie berichtete, daß ihre Küken bereits das Haus von Herrn Pfefferkorn in den wenigen Stunden auf den Kopf gestellt hätten, und daß der alte Wirtschaftsdrachen alles dransetze, um sie herauszugraulen, war die Übersiedelung beschlossene Sache.

Herr Pfefferkorn machte zwar lebhafte Einwendungen, daß man ihn so schnell des Vergnügens beraubte. Aber als die Familie Hartenstein dann mit warmen Dankesworten und einem kleinen, schnell gepackten Köfferchen Abschied genommen, als kein »Juch mal, Onte Bubumann« mehr ertönte und jedes »Ding« auf seinem Platze lag, wo es über zwanzig Jahre gelegen, da empfand der alte Herr die Ruhe doch wieder ganz wohltuend.

Gewiß, Familienfreuden haben viel für sich, aber – auch das Junggesellentum hat seine Lichtseiten.



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