Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13. Kapitel.

Siebzigster Geburtstag.

Der Winter war mit weißem Flockenpelz ins Land gezogen. Eisblumen blühten am Fenster. Der alte Junggeselle konnte nicht mehr hinüberschauen zu dem Nähtischplatz, wo Frau Annemarie jetzt ihren Küken von Schneewittchen und Frau Holle erzählte.

Dafür bekam er die Kleinen aber häufiger zu Gesicht. Sie lieferten mit rosenroten Näschen lustige Schneeballschlachten in dem verschneiten Garten. Sie purzelten johlend draußen auf der Straße von ihrem kleinen Rodelschlitten in das weiche Flockenbettchen – der winzige rote Punkt, die Ursel, immer tapfer mittendrunter. Ihr Stimmchen erschallte am lautesten, sie kommandierte energisch die Großen.

Wenn Herr Pfefferkorn mittags zwischen zwölf und eins in Gummischuhen und Pelz vorsichtig seine tägliche Promenade machte, wurde er von den Kleinen jubelnd »Onkel Bubumann – Onkel Bubumann« umlagert. Wehe, wenn er keine »Bomboms« in den Taschen hatte! Dann ging es ihm schlecht, dem armen Herrn Pfefferkorn. Den ersten Schneeball schleuderte sicherlich Frau Annemaries freches Nesthäkchen, Klein-Ursel. Und die andern folgten ihrem lobenswerten Beispiel pflichtschuldigst. Nein, da sorgte Herr Pfefferkorn lieber dafür, daß seine Taschen stets gefüllt waren, als sich diese ekelhaften, naßkalten Geschosse um die Ohren sausen zu lassen. Das schlimme war nur, daß die Schar seiner kleinen Freunde von Tag zu Tag wuchs. Immer neue waren da, die Absichten auf seine Taschen hatten. Sie wuchsen nach wie die Köpfe der Hydra. Gleich dem Rattenfänger von Hameln zog Herr Pfefferkorn jetzt durch die Straße. Und daran war kein anderer schuld als Klein-Ursel.

Heute fehlten die lautesten Schreier in der sich bei prächtigem Frostwetter tummelnden Kinderschar. Vergeblich spähte der alte Herr nach Ursels Rotkäppchen, nach dem treuherzigen Gesicht Hansis aus. Sie waren doch nicht krank, seine kleinen Freunde?

O nein! Wäre die dichtverzweigte Eisblumenhecke nicht am Fenster emporgewachsen, dann hätte Herr Pfefferkorn gesehen, daß Frau Annemarie mit ihren Küken schon vor einer Stunde die Straße entlanggeschritten war, einen großen Karton in der Hand. Die Kinder in unglaublicher Aufregung. Ging es doch zu Urmütterchens siebzigsten Geburtstag.

In der Elektrischen teilte Klein-Ursel jedem Passagier mit, daß sie heute zu »Tittatts Buttasch« fahre und daß es dort »Tuchen« gäbe.

Und Hansi erklärte noch eingehender: »Sreckliß viel Tuchen. Weil Urmütterchen sibten Debuttasch hat.«

»Tittatt«, schrie Ursel dazwischen. »Hat du auch 'ne Tittatt?« Sie hatte offenbar ein Attentat auf die Westentasche des neben ihr sitzenden Herrn vor.

Derselbe war ein Brummbär. Er hatte sich hinter seine Zeitung verschanzt und schien bei den politischen Abhandlungen die süßen Kinderstimmchen überhaupt nicht zu hören. Aber eine gegenübersitzende Dame, die ihre helle Freude an den reizenden Kindern hatte, öffnete ihr Täschchen und schob dem Blondköpfchen ein Stück Schokolade in das Mäulchen.

»Lade – meh, meh Lade – Hanni Lade – Voni Lade – Mutti Lade – Tittatt auch Lade – – –.« Ursel wollte sofort die ganze Familie versorgen.

»Ja, mein Kleinchen, mehr Lade hat die Tante nicht«, lachte die nette Dame.

»Mal jehnen – jehnen – – –.« Und da die Dame die Tasche nicht öffnete, begann Ursel zu schimpfen: »Olle Babatante!« Zum Dank für die Schokolade bekam sie jetzt von Ursel Prügel.

»Aber Ursel, schämst du dich nicht?« Bei all ihrer freien, unbefangenen Art begann Annemarie sich jetzt doch selbst ihrer Tochter zu schämen.

»Szämt diß dar niß«, bekräftigte Ursel mit Gemütsruhe.

»Ihr bekommt ja heute soviel Kuchen«, tröstete die Dame, weil ihr Hansis begehrliche Augen, die unentwegt auf ihre Tasche gerichtet waren, leid taten.

»Szotolade smeckt aber viel ßöner!« fand dieser.

»Was schenkt ihr denn der Urgroßmama?« lenkte die Dame ab.

»Tittatt«, verbesserte Klein-Ursel.

»Einen Seiflappen – ganz allein hab' ich ihn gestrickt. Es sind bloß drei Prudellöcher drin.« Vronli war ungeheuer stolz auf ihr erstes Werk.

»Und Hansi hat ein Törbßen defleßtet.« Die Bahnfenster erzitterten, so brüllte Hansi.

»Oh, wie wird sich die Urgroßmama da freuen.«

»Tittatt.« Klein-Ursel schien nicht übel Lust zu haben, wieder die Prügelstrafe in Anwendung zu bringen. Aber sie wurde von ihrer Mutter krampfhaft an der Leine, an welcher die Fausthandschuhe hingen, festgehalten.

»Und du Kleinchen, was schenkst du denn?«

»Jüschen Tusch!« Nun war die ganze Bahn über die Geschenke für Urgroßmütterchen orientiert.

Annemarie atmete auf, als man endlich am Ziel war.

»Bringst du mir auch Kuchen mit?« erkundigte sich die Dame noch scherzend bei Hansi.

»Iß wer miß sa hüten! Du hat Hansi sa auch teine Szotolade deßenkt.« Unter allgemeinem Gelächter verließ Annemarie mit ihren Küken die Elektrische.

War das festlich in den lieben alten Räumen. Großmama in ihrem silbergrauen Damastkleide, das nur zu den feierlichsten Gelegenheiten das Licht erblickte, thronte in dem neuen Klubsessel, den ihre Enkel Hans und Klaus ihr heute verehrt. Frisch und vergnügt nahm sie all die guten Wünsche in Empfang. Daneben läutete Tante Albertinchen, aufgelöst vor Rührung, mit sämtlichen Löckchen. Sie sah so zusammengeschrumpft und verhutzelt aus, daß Vronli erfreut ausrief: »Tante Albertinchen, du wächst immer kleiner. Ich bin bald so groß wie du!«

Zunächst aber mußten die Kinder ihre Gedichte aufsagen. Annemarie hatte sich das eigentlich recht feierlich vorgestellt. Rudi hatte so hübsche Verschen für sein Trio verfaßt. Aber es wurde nichts weniger als feierlich. Denn Klein-Ursel warf in jeden Vers der Geschwister den »jüschen Tusch«, den sie erst zum Schluß zu spenden hatte. Und Hansi, der kleine Pedant, rief dazwischen: »Dar niß rißtiß!« Vronli rettete die Situation, indem sie alle Verse, auch die von Hansi, hersagte, was ein empörtes Geheul desselben auslöste. Mit geballten Fäusten ging der kleine weiße Hosenmatz auf Vronlis schönes rosa Batistkleidchen los, wobei natürlich auch gleich Klein-Ursel sich veranlaßt sah, keinen »jüschen Tusch«, sondern einige Hiebe hineinzuwerfen.

Urmütterchen lachte Tränen über die merkwürdige Beglückwünschung. Während Tante Albertinchen doch ihre Löckchen schüttelte: »Annemiechen, Kind, ein bißchen mehr Strenge könnte nichts schaden!«

Aber Annemarie war heute gar nicht nach strenger mütterlicher Erziehung zumute. Die war so sprühend von Lebensfreude und Glück, daß die Großmama diesen Tag so rüstig begehen konnte, daß Klaus, der sich natürlich dazu eingestellt hatte, bewundernd meinte: »Annemie, du wirst alle Tage jünger und hübscher.«

»Du, Kläuschen, derartige Komplimente sind bei andern Leuten mehr am Platz.« Annemarie blinzelte pfiffig zur Tür hin, wo gerade Marlene und Ilse, die Inseparables, zur Gratulationscour erschienen.

Klaus' Begrüßung der Jugendfreundinnen war aber alles eher als ein Kompliment.

»Fräulein Doktor, du siehst ja wie Braunbier und Spucke aus. Strenge dich doch nicht so an, Marlene. Die Gören werden auch ohne dich die Lektionen nicht lernen. Du mußt unbedingt ausspannen.«

»Ich bin kein Ackerknecht, der ausspannt, Klaus«, lachte Marlene. »Wer kann bei den heutigen Preisen an Reisen denken – – –.«

»Nun, in den großen Ferien müßt ihr alle miteinander zu mir nach Lüttgenheide auf die Weide kommen. Was, Peter? Mit jungen Damen sind wir nicht allzu reichlich dort gesegnet.«

»Nun,« lachte der Vetter, »die Stining, Mining und Trining, unsere Schönen in Holzpantinen, werden sich gekränkt fühlen, wenn du ihre holde Weiblichkeit derart unterschlägst. Aber Sie müssen sich wirklich unser Zwillingsgut einmal anschauen, meine Damen. Es ist ein wunderschönes Fleckchen Erde. Sogar das Meer hört man rauschen.«

»O wie schön!« Marlenes dunkelblaue Augen schienen bereits das Meer zu sehen. »Also Lüttgenheide heißt das Eldorado?«

»Grotgenheide, das ist Peter Frenssenscher Besitz. Ich hause auf Lüttgenheide. So heißt aber eigentlich nur das Dorf. Das Herrenhaus, oder vielmehr das ›Schloß‹, wie die Tagelöhner es nennen, wartet noch auf den Namen seiner Herrin. Vielleicht helft ihr mir, es taufen.«

»Gleich in Kompanie?« neckte Marlene.

»Freilich, ihr beide könnt doch nur einen türkischen Pascha heiraten, damit ihr euch nicht zu trennen braucht. Na, Ilse, ist dir die Sprache bei der Temperatur draußen eingefroren? Oder bockst du noch immer von neulich? Tranfunzeln kann ich auf Lüttgenheide nicht gebrauchen. Aber ich denke, der Name ›Ilsenheim‹ wäre gar nicht so übel für das Haus. Was meinst du?« setzte er übermütig hinzu, da Marlene gerade von Peter in ein Gespräch gezogen wurde.

»Ich finde ›Marlenenheim‹ bei weitem passender«, sagte Ilse mit zornigen Augen. Solch eine Unverschämtheit, sie derart zu verkohlen! Erst die große Sorge um Marlenens elendes Aussehen, und dann sie noch obendrein verulken. Aber nur nicht merken lassen, wie weh es tat.

»Aus die Luke kiekste?« Klaus lachte herzlich. »Also einigen wir uns auf Ilsen-Marlenenheim. Euch zuliebe, Kinder, lege ich mir sogar einen Harem an.«

Ilse, die fühlte, daß die Tränen sie wieder mal im Halse zu würgen begannen, wandte sich schnell Margot zu, die gerade eintrat. Ein gräßlicher Mensch, der Klaus! Kaum war man wieder beisammen, da ärgerte er sie schon wieder. Hatte er nicht die Frechheit, sogar laut zu singen:

    »Reich mir die Hand, mein Leben,
    Komm auf mein Schloß mit mich;
    Ich will dich Kuchen geben.
    Denn Semmel frißte nich.«

Nun mußte Ilse doch wieder lachen. Das war ja eben das Schlimme. Man konnte ihm nie ernstlich böse sein, dem Klaus. Dazu hatte man ihn eben zu – – –.

Ach, Unsinn! Ilse wollte den Satz durchaus nicht zu Ende denken. Aber eins wußte sie. Nach Lüttgenheide fuhr sie bestimmt nicht im Sommer.

Hannes wunderbare Torten – die alte treue Seele hatte ein ganzes Dutzend fabriziert – »denn einmal wird unser Jroßmamachen nur siebzig, und Jott weiß, ob se zum achzigsten noch leben dut« –, ja, diese Meisterwerke von Torten mit Nuß-, Schokoladen- und Fruchtfüllungen mußten auch die trübseligsten Stimmungen zerstreuen. Oder war es der feurige Sherrywein, der Ilses Augen so glänzend machte und ihre Zunge löste, daß sie wie in den Kindertagen mit Klaus scherzte und lachte?

»So gefällst du mir, Ilschen«, sagte Klaus beifällig.

»Darauf lege ich durchaus keinen Wert«, versicherte Ilse.

»Na – na – – –.« Klaus machte ein ungläubiges Gesicht. »Aber Marlenchen gefällt mir auch. Sieh nur, was für rosige Wangen sie vom Wein bekommen hat. Und wie die dunkelblauen Augen strahlen. Bildhübsch sieht Marlene aus!«

»Kann ich gar nicht finden.« Ilse hatte ein wahres Judasgefühl, daß sie die Freundin verriet. Und trotzdem – sie mußte es sagen.

»Trinke noch ein Glas Wein, Ilse, dann siehst du es auch. Du gehörst zu den Menschen, die erst nach dem dritten Glase genießbar werden«, neckte Klaus.

»Und du kannst zehn Flaschen trinken und bleibst immer noch ungenießbar«, gab Ilse schlagfertig zurück.

»Donnerwetter!« Klaus amüsierte sich höchlichst.

»Wonnerdetter is dar niß ßön, das darf man niß sagen!« erzog ihn sein kleiner Neffe Hansi.

»Hast recht, mein Junge. Aber ich wünsche dir, daß du dich mal nicht so zu ärgern brauchst wie ich.«

»Ärdert Tante Ilse?« Hansi blickte aufmerksam von einem zum anderen.

»Ja, Tante Ilse ärgert den Onkel Klaus immer.«

»Na, du, die Sache ist wohl umgekehrt«, protestierte Ilse.

»Hau se doch! Aber tüßtiß. Ontel Tlaus Tante Ilse verhauen!« Hansi ballte bereits kriegerisch die Fäustchen, um sich zu verbünden.

»Niß Tatte Ise hauen!« Ein rosenroter Punkt umklammerte zärtlich die Knie der von Ursel besonders geliebten Tante. »Szenz se jüschen Tusch!«

»Na, wenn du meinst, Urselchen. Es muß ja wohl nicht gleich sein. Aber jetzt hast du's gehört, Ilse, Kinder und Narren sprechen die Wahrheit.«

»Wenn du dich selbst mit dem Narren bezeichnest, bin ich damit einverstanden.« Ilse glühte wie ein Pfingstrose.

»Sie ist einverstanden – habt ihr's alle gehört – – –?« Klaus wandte sich strahlend vor Übermut an die Umstehenden.

»Womit einverstanden – habt ihr euch verlobt?« Das war treulos von Annemarie, sie so in Verlegenheit zu setzen.

»Noch nicht ganz, aber immerhin ein Anfang – – –.« Vergeblich suchte Ilse ihm den Mund zuzuhalten.

»Hört doch bloß nicht hin. Er hat ja zuviel Wein getrunken. Der Klaus hat bestimmt 'nen Schwips!« rief sie.

»Ja, aber nicht vom Wein. Du hast mich berauscht, Ilse. Ich bin wonnetrunken über den in Aussicht gestellten jüschen Tusch.« Nein, es war wirklich bodenlos, daß der Klaus sie vor allen hier so blamierte. Die Tränen traten Ilse in die Augen vor peinlicher Verlegenheit.

»Ärgere dich doch nicht, Ilslein. Du kennst doch den Klaus. Je mehr du dich ärgerst, um so schlimmer treibt er's. Es ist doch bloß Scherz!« redete Annemarie der Freundin gütlich zu.

Das war es ja eben, daß es nur Scherz war! Das trieb ihr die Tränen in die Augen. Daß er hier vor allen in solch unbefangener, ausgelassener Weise seinen Scherz mit etwas treiben konnte, was sie sich selbst kaum zu gestehen wagte. Ob er das wohl jemals bei Marlene getan hätte? Still wandte sie sich ab, dem Gabentisch der Großmama zu.

Klaus tat seine übermütige Neckerei nun doch leid, als er die Ilse, die noch eben so heiter gewesen, plötzlich verstummt sah. Am Ende hatte er es doch ein wenig zu sehr auf die Spitze getrieben. Taktvoll und feinfühlend war es ganz gewiß nicht von ihm gewesen. Aber, weiß der Deibel, sobald er die Ilse sah, mußte er sie necken und ärgern. Das tat seiner Liebe für sie gar keinen Abbruch – im Gegenteil. Nie sah sie hübscher aus, als wenn ihre Wangen zorngerötet waren, als wenn in ihren Augen ungeweinte Tränen brannten.

»Urmütterchens Geschenktisch ist schrecklich langweilig«, erklärte Vronli soeben der Ilse. »Gar kein Spielzeug! Ich möchte nicht siebzig Jahre alt werden.«

»Dar niß zu pielen hat das arme Urmütterßen!« Hansi, der kaum auf den Geburtstagstisch hinaufsehen konnte, machte ein mitleidiges Gesicht.

»Mal jehnen – jehnen, Tatte Ise – – –.« Klein-Ursel angelte an ihr empor. Ilse nahm das zierliche Dingelchen auf den Arm.

»Lein-Usche – da!« Ursel wies auf ein Bild, das Annemarie mit ihren drei Küken zeigte. Vera hatte ein ganz entzückendes Genrebild daraus gemacht.

»So könnte ich mir dich auch vorstellen, Ilse«, sagte Klaus da hinter ihr.

Schon wieder verspottete er sie.

»Ich lasse mich lieber mit meiner Klasse als olle Schultunte photographieren«, gab Ilse schnippisch zurück.

»Schade – ich finde, daß dir die Ursel vorzüglich steht.«

Mit einem Ruck setzte Ilse das Kind auf den Boden.

»Mehme – mehme Arm – – –.« Es half nichts, Ilse mußte das energische kleine Fräulein wieder emporheben.

»Lein-Usche Tatte Ise pieb – Onte Laus auch pieb.« Mit einem Ärmchen umfing Ursel den Hals Ilses, mit dem andern den von Klaus. »Jüsche Tusch debe.« Ursel versuchte die beiden Köpfe gegeneinander zu stoßen.

Bei einem Haar hätte Ilse das Kind fallen lassen. Klaus, dem Klein-Ursel als Amor ungeheuren Spaß machte, fing es noch rechtzeitig auf. Zum Glück blieb Ilses Befangenheit durch allgemeine Heiterkeit unbemerkt, da Vronli soeben mitgeteilt hatte: »Die schöne Bluse mit den Klistierspitzen hat meine Omama geschenkt.«

»Eine Bluse mit Klistierspitzen garniert, die muß ich auch sehen!« Gott sei Dank, Ilse war den Klaus los.

»Wie kommt denn das Kind nur darauf?« Beim besten Willen war an der schwarzen Crêpe-de-Chine-Bluse kein derartiges Instrument zu entdecken.

Annemarie lachte Tränen. »Gipürespitzen meint Vronli. – Sie war mit, als die Verkäuferin uns die echten Gipürespitzen an der Bluse anpries.«

»Da schaut man halt wieder das Doktorkind«, sagte Rudi mit Vaterstolz.

Ilse sah sich nach Marlene um. Es war Zeit für die Fremderen, aufzubrechen, damit die Familie, die zum Essen beisammen blieb, speisen konnte.

Marlene saß immer noch in ihrer Ecke mit Peter Frenssen und unterhielt sich lebhaft über volkswirtschaftliche Dinge. Er schien das Fräulein Doktor, vor dem er solchen kolossalen Respekt gehabt hatte – oder vielmehr »alle Manschetten vor solch einem gelehrten Frauenzimmer« – bei näherer Bekanntschaft doch gar nicht so übel zu finden. Denn er sprach beim Abschied die Hoffnung aus, im Sommer an der Waterkant weiter mit dem Fräulein Doktor plaudern zu können.

»Also bis zum Sommer, Ilschen«, sagte auch Klaus, Ilses Hand etwas länger festhaltend, als unbedingt nötig war. »Bis dahin lasse ich dir Zeit. Dann aber verlange ich meinen ›jüschen‹.«

»Laß dir die Zeit nur nicht lang werden. Mich bekommst du in Lüttgenwalde nicht zu sehen.«

»Aber auf Lüttgenheide, so heißt das Gut nämlich. Das Ilsenheim wartet auf seinen Namen, Ilse.«

Das klang merkwürdig ernst nach all den vorangegangenen lustigen Neckereien.

Ach, Unsinn! War sicher ebenso nur Scherz und Fopperei wie alles andere. Nur keine Schwachheiten einbilden, Ilse! So redete Ilse sich selbst ins Gewissen, als sie die Treppe hinunterstieg.

»Du glaubst gar nicht, Ilse, was für ein überlegter, ernst denkender Mensch dieser Peter Frenssen ist. Trotzdem er sich selbst als simplen Landmann bezeichnet, hat er ein klareres, gesunderes Urteil in allen Dingen wie manch anderer. Es plaudert sich wirklich recht angenehm mit ihm«, äußerte Marlene zu ihrer Intima.

»Noch angenehmer als mit Klaus?« Das klang ein klein wenig spitz.

»Klaus ist ein lieber Junge, aber ein Windhund. Peter Frenssen ist ein Mann!«

»Na, erlaube mal gefälligst! Wie kannst du in so wegwerfendem Tone von Klaus reden!« begehrte Ilse auf. Und dann fiel sie plötzlich im Hausflur völlig unmotiviert der Cousine um den Hals: »Ach, Marlenchen, ich freue mich ja so, daß dir Peter Frenssen so gut gefällt!«

»Wirklich?« sagte Marlene lächelnd und nichts weiter.

Droben ließ man sich den getrüffelten Truthahn inzwischen schmecken. Da brachte Doktor Braun einen Toast auf die Jubilarin aus, und Hansi rief dazwischen: »Fas sagt denn der Opapa da immer für dumm Zeuß?« Danach war keine Rede mehr möglich. Sobald sich einer von seinem Platze erhob und an sein Glas klopfte, begannen sämtliche Urenkelchen – auch Cousine Elli aus Kiel hatte ihr Quartett mitgebracht, so daß es neun an der Zahl waren – im Chor, von Klein-Ursel angeführt, zu schmettern: »Hoß doll se leden, hoß doll se leden, deimal hoß!« Es war ein solcher Tumult, daß man sein eigenes Wort nicht verstand, und daß selbst Hansi meinte: »Iß sa sreckliß, so'n Hadau!«

Tante Albertinchen fand den Radau noch viel störender. Ihr alter Kopf brummte, und ihre Löckchen waren in unaufhörlicher Bewegung. Oder waren die zwölf Torten von Hanne daran schuld? Denn Tante Albertinchen hatte sich verpflichtet gefühlt, eine jede zu probieren. Auch war Hansi als Detektiv zu der Jubilarin geeilt: »Urmüpperßen, Urtantsen fißt alle Nasen von dein Tuchenturm.« Das war der Baumkuchen. Da war es kein Wunder, daß sie, als die Eisspeisen gereicht wurden, bereits mit einer Gallenkolik und heißen Umschlägen im Bett lag. Hanne mußte ihr Pfefferminztee kochen.

Hansi sollte ebenfalls zu der Erkenntnis kommen, daß man selbst von dem Schönsten auf Erden leider nur ein beschränktes Maß genießen kann. Als er bei dem fünften Stück Torte angelangt war, begann er zu würgen: »Die olle Totte kaut niß. Iß ekle miß auf die Totte.«

Ursel aber wurde von Onkel Klaus aufs Glatteis geführt.

»Pusten, Urselchen – ist heiß!« sagte er, ihr ein Löffelchen Eis in den Mund schiebend. Und Ursel pustete, was das Zeug hielt, und als sie sich schließlich zum Kosten entschloß, rief sie: »Heisch – bennt! Onte Laus, puschen.«

»Klaus, mach' daß du wieder auf deine Sandklitsche kommst, du verdrehst hier bloß den großen Mädeln die Köpfe und den kleinen die Begriffe«, rief Annemarie lachend hinüber.

Gegen sieben Uhr war »Urmüpperßens Tinnerdesellschatt« – diese Bezeichnung stammte von Hansi – vorüber. Die alte Dame brauchte Ruhe. Und die kleinen Herrschaften alle mußten ins Bett.

Zum Schluß brachte das greise Geburtstagskind noch selbst einen Toast aus.

Es sei zwar nicht Sitte, sagte sie launisch darin, daß man sich selbst berede. Aber sie möchte heute, wo sie den Lebensbecher fast bis zur Neige geleert habe, doch den Wunsch aussprechen, daß es ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln vergönnt sein möge, einst mit der gleichen vollen Befriedigung auf ihr Leben zurückzublicken, wie sie es heute tue.



 << zurück weiter >>