Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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10. Kapitel.

Wieder im Mädchenstübchen.

So wohnte Doktor Brauns Nesthäkchen denn wieder in ihrem Mädchenstübchen, und es war alles so wie früher, und doch ganz anders. Wo einst das halbe Dutzend Puppen geschlafen hatte, schlummerten jetzt lebendige Püppchen, die allerdings ihrer Mutter bei weitem mehr zu schaffen machten als die früheren. Wieder preßte ein kleines Blondköpfchen das Näschen an das Fensterglas, wenn der Leierkastenmann unten im Hof aufspielte. Wieder tobte es im Braunschen Haus mit durchdringender Jungenstimme, wie das früher nur Klaus verstanden hatte. Und wiederum malte ein kleines Schulmädel mit Rattenschwänzchen eifrig i und n in ein Heft und vergoß Tränen, wenn die Feder die Bosheit besaß, einen Klecks zu machen.

Ja, alles wie einst. Und doch so anders. Doktors Nesthäkchen fühlte sich nicht mehr so richtig daheim in dem Reich ihrer Kindertage und ihrer Mädchenjahre. Die allererste Zeit wohl. Da hatte sie ganz das Behagen ausgekostet, wieder Kind im Elternhaus zu sein. Aber bald kam sie sich überflüssig vor, wußte nichts mit ihrer Zeit, von der im eigenen Nest jede Minute kostbar gewesen, anzufangen. Das Versorgen der Kinder nahm ihr die Mutter nur zu gern ab. Die Omama mußte es doch gründlich genießen, die kleine Gesellschaft mal ganz und gar da zu haben. War der Opapa daheim, hatte es Annemarie auch nicht nötig, die Kinder zu beschäftigen. Jede freie Minute verbrachte der Opapa in der Kinderstube. Er war unermüdlich im Erfinden von Spielen. Ja, selbst wenn Hansi während der Sprechstunde den Kopf zur Tür hineinsteckte: »Opapa, sind noch Pajenten da?« gab es keinen Anschnauzer, wie daheim beim Vater. Meistens wurde Hansi sogar hereingerufen, mußte eine Patschhand geben und wurde mit Großvaterstolz präsentiert. Das Schlimme war nur, daß er dann nicht wieder hinaus mochte, daß er durchaus mit behandeln wollte. Blitzschnell hatte er ein Thermometer vom Instrumententisch ergattert und denselben dem Patienten unter den Arm geklemmt mit den beruhigenden Worten: »Tomm – tomm her, Pajent, Tätatur messen. Iß meß diß danz desund.«

Ja, Doktorblut verleugnet sich nicht.

Für das leibliche Wohl der Kleinen sorgte die alte Hanne in geradezu rührender Weise. »Vor unsere Nesthäkchens« – da war Annemarie auch mit einbegriffen – »is mich nischt zu ville«, versicherte sie jeden Mittag, wenn zur Überraschung und zum lauten Jubel der Kinder stets eine Süßspeise als Abschluß erschien.

»Hanne, Sie verwöhnen mir die Krabben, wie soll ich die wieder zur Einfachheit erziehen«, erhob Annemarie Einspruch.

»Ach, lassen Se man, Frau Doktern. Hungerpoten saugen kennen se draußen in Lichterfelde. Wenn se bei ihre olle Hanne hier in Schlorrendorf sind, sollen se ooch wat Jutet zu präpeln haben, unsere kleenen Nesthäkchens.«

Auch die Großeltern verwöhnten die Kinder. Annemarie konnte sich dem nicht verschließen. Sie taten ihnen allen Willen, und Klein-Ursel, die an und für sich schon einen recht ausgeprägten Willen zeigte, machte ausgiebigen Gebrauch davon. Selbst an ihren ungezogensten Tagen war sie in Lichterfelde nicht so eigensinnig gewesen wie jetzt. Vronli war noch am bravsten. Die ging am liebsten zum Urmütterchen herum. Dort saß sie auf dem kleinen roten Holzstühlchen, auf dem schon Omama und Mutti gesessen, und lernte beim Urmütterchen den ersten Seifenlappen stricken. Ganz wie dereinst Doktor Brauns Nesthäkchen. Tante Albertinchen aber saß daneben im Lehnstuhl, wackelte mit dem Kopf und mit den Löckchen und erzählte das alte Märchen vom Katerlieschen, das keiner weiter kannte als sie, und das Vronli immer wieder hören konnte. Nirgends war es so gemütlich wie bei Urmütterchen und bei Urtantchen. Da zischten Bratäpfel in der Ofenröhre, die dem modernen, an Zentralheizung gewöhnten Kinde auch wie aus einem Märchen erschien. Da waren die hübschen alten Sachen alle, zu denen Urmütterchen stets eine Geschichte wußte.

Die beiden Kleinen liebten den Aufenthalt bei den alten Damen weniger, als ihre große Schwester. Dort durfte man nicht toben, denn dann wackelten Urtantchens sämtliche Locken vor Schreck. Und wenn man irgend etwas anfaßte, sah Urmütterchen ängstlich über die Brille hinweg, ob auch nichts passiert sei.

Viel lieber waren die Kleinen bei Onkel Hans und Tante Ola. Dort konnte man sich mit den beiden kleinen Vettern gründlich austoben. Das war manchmal ein Radau, daß selbst der Tante Ola, welche die gesunden Nerven einer Jungsmutter hatte, das Trommelfell beinahe platzte. Auch im Tiergarten waren die Kinder meistens zusammen. Annemarie brauchte ihre Küken nur dem Kindermädchen auf dem Spielplatz zu übergeben und sie nachher wieder in Empfang nehmen.

So war sie auch zum Spazierengehen überflüssig. Wollte sie der Hanne, die jetzt den Braunschen Haushalt allein besorgte, der vermehrten Arbeit wegen zur Hand gehen, stieß sie auf höchst energischen Widerstand.

»Jotte doch, Annemiechen, det wär' ja noch scheener mit den verbrannten Arm! Schuften kennen Se in Lichterfelde. Hier sind Se zu Besuch und uff Erholung, Frau Doktern. Nee, nee! Dis mach ich noch allens so janz pöh a pöh.«

Das war es ja eben. Sie war zu Besuch zu Hause, zur Erholung, und nicht wie früher ein festeingefügtes Glied. Gott, sie hatte sich ja früher als Mädel nicht gerade nach häuslicher Arbeit gerissen. Da hatte sie sich nur allzu gern von etwas gedrückt. Aber inzwischen war sie treibende Kraft in der eigenen Haushaltsmaschine geworden, und die fühlte sich jetzt brachgelegt.

Wäre die dumme Brandwunde am Arm, den sie deshalb noch immer in der Schlinge tragen mußte, nicht gewesen, hätte sie dem Vater in der Sprechstunde assistieren können, wie sie das bei Rudolf hin und wieder tun mußte. Auch am Nähen verhinderte sie die schmerzende Wunde; sonst konnte man versuchen, aus Mutters Flickenkasten ein paar Kittelchen und Röckchen für die Kinder zusammenzudrechseln. Besonders handgeschickt war Annemarie ja gerade nicht. Aber nun würde sie's wohl lernen müssen. Man konnte unmöglich alles neu anschaffen.

Die schönste Stunde des Tages war unbedingt zwischen zwei und drei, wenn Rudi zum Essen heraufkam. Wie früher als Braut, stand Annemarie im Erker und sah nach seinem elastischen, schnellen Schritt aus. Ja, das Herz klopfte ihr jedesmal vor Freude, bemerkte sie das Aufleuchten seiner grauen Augen, wenn er zu ihr heraufwinkte. Frau Annemarie ertappte sich sogar dabei, daß sie auf ihre Kinder eifersüchtig war, wenn diese den Vater allzusehr für sich in Anspruch nahmen. Jeden Tag bestürmte sie ihn, wie weit die Arbeiten fortgeschritten seien, ob sie denn noch nicht bald an Heimkehr denken könnte.

»Weißt du, Lotte, wir könnten das eigentlich sehr übelnehmen, daß du dich von uns fortsehnst«, neckte der Vater sie.

»Ein Kind kann den Eltern keine größere Freude machen, als wenn es ganz und gar bei seinem Mann daheim geworden ist«, meinte die Mutter verständnisvoll.

»Er will mich ja gar nicht, der Undankbare. Er hat nur Augen für die Kinder. Ich existiere überhaupt nicht mehr für ihn«, beschwerte sich Annemarie scherzhaft, aber eine Spur Ernst war doch dabei.

»Hast recht, Frauli. Ich brauch' dich nimmer. Flochen schielt mich so liebevoll an, daß mir gar nix abgeht. Von dem Aufschnitt, den ich mir zum Abendbrot besorge, nascht sie nit mehr, als unumgänglich notwendig. Eine himmlische Ruh' herrscht jetzt draußen bei uns in Lichterfelde, wenn die Arbeiter nit grad' hämmern. Wirklich, ich könnt' den Herrn Pfefferkorn um seinen Junggesellenstand beneiden.«

Annemarie packte ihren Mann bei den Ohren und zauste ihn gehörig. »Na warte, du frecher Kerl – – –.«

»Au weih, du hast zum Vater frecher Kerl gesagt«, vorwurfsvoll klang es von Vronlis Lippen.

»Fecher Terl!« kam sofort das Echo von Klein-Ursel.

Hansi nahm als Mann gegen die Frau Partei und begann den Vater mit seinen kleinen Fäusten zu rächen. »Du, Muttißen, laß los! Laß Vaters Topf los. Du tust ihm sa weh, dem armen Vaterle.«

»Mutterli macht ja nur Spaß«, beschwichtigte Rudi seinen kleinen Verteidiger und gab Annemarie einen Kuß. Und als er dann zur Sprechstunde fort mußte und sie ihm das Geleit bis zur Türe gab, flüsterte er ihr ins Ohr: »Länger als vierzehn Tag' dürfen die Arbeiter nimmer sich bei uns breitmachen. Ich zähl halt die Tag', bis du wieder daheim bist, Herzle.« Er schien den Junggesellenstand also doch wohl nicht allzu beneidenswert zu finden.

Annemarie war heute von strahlender Heiterkeit. Selbst als ihre Mutter ihr unter vier Augen in ihrer liebevollen Art Vorwürfe machte, daß sie noch immer in Gegenwart der Kinder alles heraussprudelte, ohne zu bedenken, daß dies in den jungen Gemütern, die Ernst und Scherz noch nicht unterscheiden konnten, Unheil anrichten könnte, lachte sie.

»Geliebter Muz, du hast tausendmal recht, aber er ist doch nun mal ein frecher Kerl. Und ändern werde ich mich wohl erst, wenn ich auf ewig verstummt bin.«

Drüben am Fenster saß Margot Thielen von morgens bis abends in unermüdlichem Fleiße bei ihrer Tätigkeit. Das heißt, sie entwarf nur, stellte die Farben und Stoffe zusammen und vergab die Arbeiten. Meistens an Damen der besseren Gesellschaft, die durch die schweren wirtschaftlichen Verhältnisse dazu gezwungen waren, zum Lebensunterhalt beizusteuern, da es der Mann allein nicht mehr schaffte. Auch viele Offizierswitwen kamen zu Margot, die es verstand, eine jede nach ihrer Fähigkeit an den richtigen Platz zu stellen und ihnen in ihrer feinfühlenden Art nicht nur zu einem Erwerb zu verhelfen, sondern ihnen auch die Befriedigung daran zu verschaffen. Dies wurde ihr um so leichter, als sie selbst vollauf befriedigt war durch den Erfolg, den ihre Arbeiten hatten. Sowohl in künstlerischer, wie in materieller Hinsicht. Die größten und vornehmsten Geschäfte rissen sich darum, Modelle von Margot Thielen zu bekommen.

Seit dem Tode des Vaters war sie die Ernährerin der Familie. Sie ließ den Bruder studieren, die jüngere Schwester kaufmännisch in der Handelsschule ausbilden und verschaffte der Mutter, die mittellos zurückgeblieben, ein sorgenloses Alter. Das gab ihr hohe Befriedigung.

Margot Thielen hatte keine Zeit mehr, wie früher an die benachbarte Braunsche Balkonwand zu klopfen. Um so öfter aber klopfte jetzt Annemarie Hartenstein an die Tür Margots, saß neben ihr und schaute bewundernd zu, wie ein kleines Kunstwerk nach dem andern aus ihren schlanken Fingern hervorging.

»Margot, was bist du geschickt! Wenn ich nur ein Bruchteilchen davon hätte, wie glücklich wäre ich!« seufzte sie eines Tages.

»Ich denke, das bist du auch ohnedies, Annemie. Als Mutter von solch süßen Kindern, von deinem Mann auf Händen getragen, in einem schönen Heim – – –.«

»Ja, ja, du hast ja ganz recht, Margot. Ich will ja auch nicht undankbar sein. Aber du glaubst nicht, wie schwer es für eine Frau ist, um jeden Groschen, ach was, Groschen, damit kann man jetzt nichts mehr anfangen, um jede hundert Mark zu ihrem Manne kommen zu müssen. Besonders wenn man sieht, wie schwer er es verdient, und wie leicht es sich ausgibt. Siehst du, Margot, wir Frauen von heute haben nun mal eine gewisse Selbständigkeit und den Wunsch nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit, den unsere Mütter und Großmütter nicht gekannt haben. Und wenn man seinen Mann lieb hat – ja, dann möchte man doch nicht ihm allein die Schwere des Lebensunterhaltes aufbuckeln, dann möchte man ihm die Last doch erleichtern und tragen helfen.«

»Das tust du ganz gewiß, Annemie. Wo ist noch mal eine Hausfrau so tüchtig und sparsam wie du – – –.«

»Sagt Rudi auch immer. Aber damit verdiene ich keinen Pfennig. Und das wäre doch jetzt gerade notwendig, wo es soviel wieder anzuschaffen gilt.«

»Nun, ich denke, die Betten gibt euch die Großmama, die noch von früher gleich en gros hat. Und versichert seid ihr doch auch gegen Brandschaden.« Margot entwarf, während sie sich unterhielt, mit flotter Hand ausdrucksvolle Muster auf Seiden- und Wollstoffe.

»Damit ist es noch lange nicht getan. Die Kinder müssen neu eingekleidet werden – – –«, überlegte Annemarie sorgenvoll.

»Das könntest du doch selbst übernehmen, Annemie«, mischte sich Frau Thielen, die strickend am andern Fenster saß, ins Gespräch. »Für solche kleinen Dinger läßt sich jedes Flickchen verwenden. Ich habe nie schneidern gelernt und habe stets für meine Kinder alles selbst gemacht.«

»Ja, Sie sind eben alle so geschickt. Aber ich bin ein Kamel. Nichts kann ich. Keine Spur von irgendeinem Talent, das ich verwerten könnte. Das einzige, was ich gelernt habe, die paar Semester Medizin und praktische Klinikarbeit, bringen kein Geld ein.«

»Ich gebe dir gern eine Anleitung, Annemie. Diese Kleinkindersachen sind ja eins, zwei, drei fabriziert. Und Margot hat allerliebste Modelle, da werden wir schon etwas Nettes zurechtkriegen.«

»Ach, liebste Frau Thielen, wie gern nähme ich Ihren Vorschlag an und käme gleich heute abend zur Schneiderstunde herüber. Ich habe ja genug freie Zeit. Aber mein dämlicher Arm streikt doch noch immer. Vater sowohl wie Rudi warnen mich, ihm schon zuviel zuzumuten. Ich verschleppe den Heilprozeß um Wochen, sagen sie.«

»Dann mußt du natürlich vernünftig sein. Aber ich habe mir inzwischen überlegt, Annemie, ob ich dir nicht helfen kann, auch dein Teil am Erwerb zu übernehmen. Es kommen doch so viele Damen zu mir, die sich durch Sticken, Stricken oder Häkeln ernähren. Wie wär's, wenn du's auch einmal versuchtest?« Margot brachte ihren Vorschlag mit einer gewissen Schüchternheit hervor.

»Mit Freuden, Margot. Bloß ich fürchte, du gibst mir einmal Arbeit und nicht wieder.«

»Das werden wir ja sehen. Zum Beispiel solche Schlupfjacken, die sogenannten Jumper, zu stricken oder zu häkeln, wie meine Mutter sie da arbeitet, ist höchst einfach und wird gut bezahlt. Ich denke, wir versuchen es damit zuerst. Du bist ja öfters hier bei deinen Eltern, dann hast du's ganz bequem.«

»Margot, du bist ein Engel!« Annemarie umarmte die Freundin mit altem Ungestüm, daß der feine Batiststoff, den diese unter den Händen hatte, auch etwas von diesen Freundschaftsbezeigungen abbekam. »Ich will jetzt noch zu Vera, die beklagt sich bitter, daß ich sie vernachlässige. Wird es mir nicht zu spät, hole ich vielleicht noch die beiden siamesischen Zwillinge von ihrer Schule ab. Ich möchte doch gar zu gern, solange ich noch hier in Charlottenburg bin, das Kränzchen wie in früheren Tagen zusammentrommeln. Meine Kinder habe ich heute ausgesetzt, zwei sind bei Ola, und Vronli ist mit meiner Mutter in der Stadt. Ich argwöhne, daß sie ihr heimlich einen Wintermantel kaufen will, weil sie mich durchaus nicht mithaben wollte. Nun räche ich mich, vagabundiere als Arbeitsloser und halte die fleißigen Leute von ihrer Arbeit ab. Leb' wohl. Margotchen, jetzt wirst du mich endgültig los. Auf Wiedersehen, Frau Thielen.« Fort war sie.

»Beneidenswert, diese Frische Annemaries und diese von Herzen kommende Fröhlichkeit. Als Kind und Backfisch habe ich mir schon gewünscht, nur etwas davon zu besitzen«, sagte Margot nachdenklich. »Ich habe immer alles schwer genommen.«

»Und hast durch deine Pflichttreue und deinen Fleiß doch mehr erreicht als sie, mein Kind.«

»Mehr? Nun, das kommt auf die Auffassung an. Annemarie ist immer alles spielend zugeflogen, während ich es mir stets sauer werden lassen mußte. Schon in der Schule.«

Während Margots Gedanken hinter Annemarie herspazierten, flogen die Annemaries zurück zu dem Arbeitsraum, welcher der Freundin Leben umschloß. Ein beschämendes Gefühl kam der jungen Frau, daß ihr gerade Margot, auf die sie ihrer geringeren geistigen Befähigung und ihrer schüchternen Bescheidenheit wegen als Mädel stets ein wenig herabgesehen hatte, jetzt die Hand bot, um ihr einen Erwerb zu schaffen.

Bei Vera traf sie es schlecht. Drei Parteien mit Kindern warteten bereits auf Sitzungen, denn sie hatte inzwischen einen Ruf bekommen für künstlerische Kinderbildnisse. Nur einen Augenblick konnte Vera den schwarzen Kopf aus dem Atelier herausstecken.

»Ach, Annemarrie, wie lieb! Nurr bin ich grrade serr von Kinderr heimgesucht. Kannst du warrten? In einerr Stunde werrde ich sein gewiß ganz ferrtig.«

»Total hops! Denkst du, ein Arbeitsloser hat nicht mehr zu tun, als bei der gnädigen Photogräfin zu antichambrieren? Sag' mir nur, ob du nächsten Mittwoch zum Kränzchen zu mir kommen kannst. Nach Charlottenburg natürlich, in meinem Mädchenstübchen seligen Angedenkens. Bei uns in Lichterfelde tanzen noch die Mäuse über Tisch und Bänke.«

»Natürrlich muß ich rrichten ein das. Ich werrde kommen, aberr errst nach sechs. Brruder Stani wirrd holen mirr ab in die Abend.«

»Sind eure Flitterwochen denn noch nicht vorüber, Verachen? Ein Jahr wohnt ihr jetzt schon beisammen und seid noch unzertrennlicher als unsere siamesischen.«

»Wirr haben nachzuholen viel, serr viel, Brruder Stani und ich. Unserre ganze Kinderr- und Jugendjahre. Aberr nun muß ich dirr werrfen rraus – – –.«

»Ich geh' schon allein. Kriech nur wieder in deinen Knipskasten zurück. Mit meinen Küken rücke ich dir auf die Bude, wenn Urselchens Locken erst wieder gewachsen sind. Vorläufig habe ich sie ratzekahl geschoren. Also für ein künstlerisches Bild kein geeignetes Motiv. Auf Wiedersehen, Verachen.«

»Auf Wiederrsehen – besuch' mirr bald wiederr.«

»Werd' mich hüten nach dem heutigen gastlichen Empfang.«

Annemarie stand im Oktobersonnenschein auf der Straße und überlegte. Wo nun hin?

Zu Kluges oder zu den Inseparables? Wenn sie »die Füße in die Hand nahm« – wie Tante Albertinchen ein etwas eiligeres Gangtempo zu bezeichnen pflegte –, dann kam sie noch gerade zurecht zum Schulschluß. Es war ein tüchtiges Ende, aber fahren – nee, so hatte man das Geld jetzt nicht übrig. Lieber lief sie sich das doppelte an Stiefelsohlen ab.

Es war doch ganz hübsch, mal so zu baronisieren. Der Tiergarten stand noch im Herbstmetallschmuck. Die Oktobersonne ließ die Farben aufsprühen und blitzen. Die Charlottenburger Chaussee entlang flimmerte es wie lauter Gold. Trotzdem das Laub schon zu den Füßen raschelte, dachte kein Mensch an Vergehen. Im Gegenteil, alles genoß noch einmal freudig den wiedergekehrten Sommer.

Eigentlich gab es doch recht viele Nichtstuer. Sie mußte sich schämen, daß sie augenblicklich auch zu den Drohnen gehörte, die dem lieben Herrgott die Zeit fortstehlen. Wenn sie jetzt draußen in Lichterfelde wäre, müßte sie am Kochherd stehen, anstatt hier im schicken grauen Herbstkostüm durch den Tiergarten zu spazieren und bewundernde Blicke aufzufangen.

Der Herr, der ihr soeben entgegenkam, schaute sie denn doch aber gar zu dreist an. Das war schon mehr unverschämt.

»Neschthäkche, bischt's oder bischt's nit?« Der betreffende Unverschämte rief es voller Freude. Beide Hände streckte er ihr entgegen. »Ja, grüß dich Gott, Neschthäkche, das nenn i halt Glück.«

»Die Viehmuse – na, so eine Überraschung!«

»Gelt? Seit deiner Hochzeit bin i nimmer in eurem Sündenbabel gewese, Neschthäkche. Aber arg guet schaust aus. Halt noch schöner geworde als damals.«

»Ach, quatsch keine Opern, Viehmuse. Eine alte Frau bin ich inzwischen geworden – – –.«

»Ja, wenn die so ausschauen tun bei euch, hernach nehm' i mir auch eine alte.«

»Was – du bist doch überhaupt schon verheiratet. Wir haben dir doch ein Telegramm geschickt zu deiner Hochzeit.«

»Richtig, das hab' i halt über dich ganz vergesse, Neschthäkche. Du warst meine erschte Liabe – sollst auch meine letzte sein«, begann er ganz so ungeniert und genau so unmelodisch wie früher zu singen.

»Gröle bloß nicht, Viehmuse. Du bist hier nicht in Tübinge, sondern in Berlin, und fällst bereits unangenehm wegen öffentlicher Ruhestörung auf. Hast du deine Frau auch mitgebracht?«

»Hascht wohl Spätzli im Kopf, Neschthäkche? Wenn man eine Vergnügungsfahrt nach Berlin machen tut, schleppt man halt so lästiges Reisegepäck nimmer mit.«

»Viehmuse, du scheinst noch eben solch ein Windhund zu sein wie anno dazumal. Wenn du jetzt auch wohlbestallter Spezialarzt für Pferde, Hunde, Katzen und Rindviecher bist, du, ich hab' keine Zeit, hier noch länger wie eine Bildsäule stehenzubleiben. Statuen sind genug im Tiergarten. Wenn du nichts Besseres vorhast, darfst du mich begleiten. Ich bin gerade im Begriff, Marlene und Ilse feierlich von der Schule abzuholen.«

»Holla, das Dreimädlehaus gleich beieinand'. I hab' scho' ganz gewiß nit Besseres vor, Neschthäkche, als hier im Sonnenschein mit einer schönen jungen Frau zu promeniere. Aber jetzt müsse mer halt a bißle schwätze. Wie schaut's aus im Lichterfelder Nescht? Wie geht's dem g'strengen Herrn G'mahl? Jammerschad' ischt's halt g'wese, daß der uns damals den Rang abg'laufe hat. Das Karpfenaug' kann's noch immer nit verwinde.«

Hellauf lachte Annemarie. Jahre versanken, während sie an der Seite der Viehmuse dahinschritt. Sie fand sofort wieder denselben kameradschaftlichen Ton wie früher in der Studentenzeit in Tübingen. »Hahaha – ich hätt' euch wohl alle drei heiraten sollen?«

»Halt nur mich. Das Beschte ist grad' guet für dich, Neschthäkche«, meinte die Viehmuse in anerkennenswerter Bescheidenheit.

»Du bist noch gerade solch verdrehtes Huhn wie damals, Krabbe. Also Stuttgart, die Heimatsstadt meines Rudis beglückst du mit deiner Viecherpraxis. Und der Neumann?«

»Ischt Lungearzt im Schwarzwäldischen. Nebebei ergibt er sich dem stille Suff und dem Zölibat, weil du ihn halt sitze g'lasse hascht. Und die beiden Inseparables? Fahre halt auch noch einspännig durchs Leben, gelt?«

»Zweispännig fahren sie schon, aber miteinander. Da wir es hier noch nicht so weit gebracht haben, daß ein Mann zwei Frauen zugleich heiraten kann, werden sie sich wohl kaum zur Ehe entschließen. Aber nach dem Egerling hab' ich doch noch gar nicht gefragt.«

»Der sitzt auf seiner Landpfarr' und wird alle Tag fetter. So – und nun bericht' auch noch von deinen Küken, Neschthäkche. Wieviel luege denn schon aus dem Nescht? Ischt's Dutzend voll?«

»Du bist wohl hops, Viehmuse! Ein viertel Dutzend ist's, ein fideles Trio, meine süßen Krabben.«

»Meinst mich?« Krabbe lächelte geschmeichelt. »Büble oder Mädle, was habt's?«

»Viertel Dutzend sortiert. Aber da sind wir ja angelangt an der Schule. Marlene und Ilse werden Augen machen.«

Vorläufig machte Annemarie Augen, und zwar recht entsetzte. Denn gerade vor der Nase schlug ihnen der Schuldiener das schwereiserne Tor in dem roten Backsteinbau zu und drehte zum Überfluß auch noch zweimal den Schlüssel herum.

»Wieder mal zu spät gekommen! Daran müßte ich eigentlich von meiner Schulzeit her gewöhnt sein. Dumm, daß man den weiten Weg umsonst gemacht hat.«

»Umsonst, wo du halt so ang'nehme G'sellschaft g'habt. Höflicher bischt grab' nit g'worde, Neschthäkche.«

»Ich hatte mich so darauf gefreut, was die zwei für Augen machen würden. Weißt du was, Viehmuse, du mußt am Mittwoch zu meinem Kränzchen kommen. Dann führ' ich dich dort in Freiheit dressiert vor. Aber nicht etwa nach Lichterfelde. Da ist das Nest leer. Mein hoffnungsvoller Sohn hat uns ausgeräuchert, zum Vergnügen ein bißchen Feuerwerk gemacht. Ich bin mit den Kindern in Charlottenburg bei Doktor Brauns. Da erwarte ich dich am Mittwoch Abend bestimmt, wenn dich das Sündenbabel inzwischen nicht verschlungen hat. Leb' wohl, Viehmuse, ich fahre hier mit der Bahn zurück. Sonst komme ich zum Mittagessen auch noch zu spät und kriege von Hanne einen Anschnauzer.« Leichtfüßig schwang sich Annemarie auf die Elektrische.

Die Viehmuse winkte ihr nach und dachte: »Schön ist das Berlin, weil's halt solche Frauen hat wie's Neschthäkche.«



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