Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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14. Kapitel.

Schwere Tage.

Es war das letztemal, daß die Familie vollzählig versammelt gewesen. Während noch die Hochs ertönten, während die Gläser klangen, nahte unsichtbar bereits einer und streckte die dürre Knochenhand nach Großmamas treuer Weggenossin aus.

Tante Albertinchen stand nicht mehr auf von ihrem Lager. Pfefferminztee und heiße Umschläge, auf die Tante Albertinchen sonst geschworen, versagten ihre Heilkraft. Auch die Kunst von Doktor Braun und seinem Schwiegersohn, die treue Pflege, die Frau Doktor Braun dem alten Tantchen angedeihen ließ, wollte nichts mehr nützen. Still und ohne viel Aufhebens davon zu machen, wie das ihre Art ihr ganzes Leben lang gewesen, ging sie auch hinüber in das Reich der Schatten.

»Unser Urtantchen ist tot«, teilte Annemarie betrübt ihren Kindern mit. Es ging Annemarie wirklich recht nahe, der Abschied für immer von der verwandtschaftlich treuen alten Frau, deren Liebling sie seit ihrer Kleinkinderzeit gewesen war.

Aber als Hansi jetzt, nachdem er angestrengt nachgedacht hatte, fragte: »Wer hat se denn totdeßießt?«, weil ihm das Wort tot nur in Verbindung mit dem Häschen, das der Jäger mausetot schoß, bekannt war, konnte Annemarie sich nicht helfen, sie mußte lachen, trotzdem es ihr weh genug ums Herz war.

Die Kinder fielen sofort jubelnd ein: »Maujetot – maujetot is Urtantßen deßießt!«

»Nein, Kinder, das gehört sich nicht, diese Lustigkeit. Wenn jemand stirbt, ist man traurig«, sagte Annemarie jetzt ernst, während ihr die Tränen in die Augen traten.

»Na, warum lachste denn, wenn du traurig bist?« verwunderte sich auch Vronli. Ja, mein Kind, das wirst du noch öfters im Leben erfahren, auf welcher schmalen Grenzscheide Lachen und Weinen steht. »Kann Urtantchen nun nicht mehr zu mir sagen: ›Annemiechen, Kind, du bist noch auf? Als deine Mutter solch kleines Mädchen war, ging sie immer schon um halb sieben ins Bett?‹« Das schien Vronli die Hauptsache bei dem Ereignis.

»Nein, Vronli, Urtantchen ist doch tot.«

»Is sie denn ganz tot gesterbt?« Wie sollte sich das Kind einen richtigen Begriff von diesem Weg ins geheimnisvolle Dunkel machen, da es die Großen nicht zu begreifen vermögen.

»Muttißen, fenn man des-terbt is, lebt man denn noch?« Hansi hatte sicher etwas vom zukünftigen Philosophen in sich.

»Nein, Hansi, dann lebt man nicht mehr.«

»S-tärbste auch bald, Muttißen?«

Annemarie mußte über die teilnehmende Frage wieder lachen. Ob sie wollte oder nicht. »Ich hoffe, noch nicht so bald. Ihr braucht doch eure Mutti.«

»Nee – och nee – wir bauchen diß dar niß. Du tannst danz huhig mal 'n bissen s-tärben. Einßes Muttißen, s-terb doch mal danz snell.« Wirklich, Hansis kindliche Liebe ließ nichts zu wünschen übrig.

»Ja, Hansimann, warum soll die Mutti den sterben? Du hast sie doch lieb?«

»Doll sreckliß lieb. Aber denn mußte auch snell s-tärben. Also s-tärb mal defällist.«

»Ja, warum denn bloß?« Der Junge hatte es ja wirklich mächtig eilig, sie ins Jenseits zu befördern.

»Feil Hansi boß mal sehen muß, ob de denn auch so mit die Trallen machst wie unser des-tärbter Tanarienvogel.«

»Aber, Hansi, Mutti hat doch keine Krallen, Mutti is doch kein Kanarienvogel.« Annemaries noch vor kurzem betrübtes Gesicht sah schon wieder heiter drein. Die beste Medizin für alle Trübsal blieben doch die Kinder.

»Mutterli, wo ist man denn, wenn man tot ist?« erkundigte sich Vronli.

O Gott, war das schwer, dem Kinde die richtige Erklärung zu geben, wenn man selbst seiner Sache nicht so ganz sicher war.

»Du hast doch schon mal einen Kirchhof gesehen, Vronli. Unter den Blumen in der Erde schlafen die Toten.« Das Einfachste war es, sich mit der konkreten Tatsache herauszureden.

»Tante Albertinchen auch?«

»Ja, wenn sie beerdigt ist.«

»Stimmt nicht – stimmt ganz, ganz gewiß nicht! Urmütterchen sagt, Tante Albertinchen ist jetzt im Himmel. Und die ist viel älter als du, Mutti, die weiß das besser.«

In ihrem ganzen Leben hatte das gute Tantchen Albertinchen Annemarie nicht solche Schwierigkeiten bereitet, wie nach ihrem Tode. Aber es half nichts, Vronlis kluge graue Augen verlangten eine Bestätigung.

»Ja, Vronli, Urmütterchen hat recht und Mutti auch. Du hast doch mal was von einer Seele gehört, daß jeder Mensch eine Seele hat?«

»Ja, aber wir haben keine Säle. Flochen hat welche, da geht sie Sonntags immer hin tanzen.«

Annemarie konnte vor Lachen keine Antwort geben. Das kam davon, wenn man sich mit Kindern in philosophische Gespräche einließ. Aber sie hatte es sich doch nun mal zur Pflicht gemacht, den Fragen ihrer Kinder Rede zu stehen, soweit sie es selbst vermochte.

»Das sind wieder andere Säle, Vronli. Also die Seele, die ich meine, die kommt in den Himmel und der Körper in die Erde. So – und nun wollen wir von etwas anderem sprechen.«

Hansi war durchaus nicht der Meinung seiner Mutter. Er fand es noch lange nicht an der Zeit, das Gespräch abzubrechen.

»Fird Urtantßen in die Ärde eindeflanzt?«

Annemarie konnte nur nicken. Hätte sie jetzt gesprochen, sie wäre erstickt vor Lachen.

»Wätse denn wieda raus in Sommer?«

Nein, nun ging es nicht länger. Annemarie brach in helles Lachen aus.

»Das ist recht, Weibli, daß du den Kopf nimmer hängen läßt. Damit ändert man halt auch nix.« Doktor Hartenstein, der von der Praxis heimkehrte, war glücklich, seine Frau wieder heiter zu sehen.

»Ach, Rudi, wenn du wüßtest, wie wahnsinnig komisch die Kinder sind. Vronli behauptet, nur Flochen hätte eine Seele, weil sie Sonntags in die Säle tanzen geht. Und Hansi hat mich gefragt, ob Tante Albertinchen in die Erde eingepflanzt wird, und ob sie zum Sommer wieder rauswächst. Ich weiß, es ist unrecht von mir, daß ich heute lache. Aber – ich kann nicht anders.« Und Annemarie lachte aufs neue. »Ich habe mir es doch nicht so schwer vorgestellt, den Kindergeist den richtigen Weg zu leiten.«

Tante Albertinchens Tod beschäftigte die Kinder noch tagelang. Vronli wollte durchaus mit zum Kirchhof und ihr rosa Mullkleid dazu anziehen. »Denn wenn se nachher in den Himmel reist, muß man sich fein machen. Die Engelchen sind auch alle fein.«

Und Hansis liebstes Spiel wurde es, die kleinste Puppe seiner Schwestern in einen Blumentopf einzupflanzen, sie eifrig zu begießen und jeden Tag nachzusehen, ob sie schon gewachsen sei. »Wenn Sommer is, is se so droß wie Mutti«, versicherte er.

Vorläufig aber war es noch Winter, bitterkalter Winter. Um das verschneite Haus in Lichterfelde pfiff der Ostwind. Herr Pfefferkorn ward nicht mehr in Pelz und Gummischuhen des Mittags Punkt halb eins in der stillen Straße von einer lärmenden Kinderschar umdrängt. Er ließ sich nicht mehr bei Hartensteins sehen, wo er pünktlich einen Abend in der Woche zuzubringen pflegte. Rudolf und Annemarie mußten ihn jetzt besuchen. Der alte Herr lag an einer Lungenentzündung danieder. Annemarie konnte jetzt die Gastfreundschaft, die er ihnen damals gewährt, durch treunachbarlichen Beistand in der Pflege wettmachen.

Auch Hansi bewies seine Freundschaft. Eines Tages, da Annemarie ihn beim Schneemannbauen im Garten glaubte, erschien er drüben bei Herrn Pfefferkorn.

»Nanu, was haste denn hier zu suchen? Jeh man wieder bei deine Mamma.« Sehr einladend klangen Frau Lübkes Worte nicht.

Aber Hansi war nicht empfindlich. »Iß fill Ontel Bubumann Tätatur messen, danz desund messen.« Er hielt das alte Thermometeretui kampfbereit wie einen Dolch in der Rechten. »Die ßöne Horche hat iß auch mitdebingt.« Aber weder die schöne Horche noch das Thermometer nützten Hansi etwas. Frau Lübke stand wie ein Zerberus vor dem Eingang und ließ den enttäuschten Hansi nicht zum Onkel Bubumann.

»Na, nu jeh doch bloß schon, ich hab' keine Zeit nich vor deine Dummheiten«, knurrte sie ihn ähnlich wie der Höllenhund an.

»Biste die Hetze aus Hänsel und Dretel?« erkundigte sich Hansi erstaunt, der gewöhnt war, daß man stets freundlich mit ihm sprach.

Zum Glück verstand Frau Lübke den schmeichelhaften Vergleich nicht mehr. Die hatte bereits die Tür zugemacht. Der kleine Doktor mußte unverrichtetersache abziehen und seinem Vater die Alleinbehandlung überlassen.

Auch Flochen ging nicht mehr in ihre Säle tanzen, sondern hatte sich am letzten Sonntag dabei erkältet und lag nun mit brennendem Kopf im Bett. Die Grippe, die Annemarie bereits aus ihren Mädchentagen zur Genüge kannte, herrschte in diesem Winter ganz besonders tyrannisch. Die Kinder legten sich eins nach dem andern. Die arme Annemarie opferte sich rein auf bei der Pflege. Tag und Nacht war sie auf den Füßen. Und dabei den ganzen Haushalt allein besorgen, die Kohlenheizung, die Küche versorgen, während fortwährend eins der Kinder nach ihr rief und irgendein Anliegen hatte. Ohne ihr glückliches Temperament hätte Annemarie diese schwere Leidenszeit kaum ertragen können. Natürlich wollte Frau Doktor Braun nebst der treuen Hanne sofort ihrem »Nesthäkchen« zu Hilfe eilen. Aber Annemaries Mutter litt selbst an einem Bronchialkatarrh und mußte das Bett deshalb hüten. Die Großmama, die seit Tante Albertinchens Tod zu Brauns übergesiedelt war, pflegte ihre Tochter, denn auch Hanne versagte. Oder vielmehr ihre Füße. Die wollten – wie sie sagte – »partuh nich mehr von die Stelle.«

Natürlich versuchte auch Rudi, sofort zu Annemaries Entlastung eine Aushilfe ins Haus zu nehmen. Das war leichter gesagt, als getan. Waren diese kostbaren Individuen in Berlin schon kaum aufzutreiben, so konnte man sie da draußen in Lichterfelde mit der Laterne vergeblich suchen. Das einzige, was Doktor Hartenstein erreichte, war, daß eine »dankbare Patientin«, eine Briefträgerfrau, jeden Morgen eine Stunde die gröbste Arbeit verrichtete, bis auch sie von der Grippe ergriffen wurde und nicht mehr kommen konnte.

Flochen, auf deren Genesung man drei Wochen lang vergeblich gehofft hatte, war so rücksichtslos, sich auch noch eine Rippenfellentzündung zuzulegen. Man mußte sie ins Krankenhaus schaffen. Hansi, der bereits in der Rekonvaleszenz war, konnte überhaupt nicht mehr gebändigt werden. Sobald Annemarie den Rücken gewandt, war er außerhalb des Bettes, um den übrigen »Pajenten Tätatur zu messen«. Dabei erkundigte er sich menschenfreundlich, ob denn noch immer keiner »ges-tärbt« sei. Während seine Eltern die Überführung Floras ins Krankenhaus bewerkstelligten, klebte er wie eine Winterfliege an dem gefrorenen Fensterglas und hauchte Gucklöcher hinein.

»Floßen fird auf'n feines Auto abdeholt, nu s-tärbt se destimmt bald und denn wird se eindeflanzt.« Er war selig, daß einer nun glücklich soweit war.

Aber seine Schwestern, die große sowohl wie die kleine, hatten gar kein Interesse für seine Mitteilung. Vronli lag noch immer mit hohem Fieber im Bett und machte die Augen überhaupt nicht auf. Und als Hansi die Mutti gefragt hatte: »Muttißen, is Vronli nu bald maujetot?« da waren der Mutter die Tränen aus den Augen gestürzt, und sie hatte ganz leise gesagt: »Gott erhalte sie uns, unser Vronli!« Und Hansi, trotzdem er noch ein rechtes Dummerchen war, merkte doch an Muttis Tränen, daß »S-tärben« durchaus nicht eine so lustige Sache ist.

Klein-Ursel dagegen, die noch immer geringe Temperatursteigerungen hatte, zeichnete sich durch grenzenlose Ungezogenheit aus. Sie war so gnauig und mauzig, daß man das liebenswürdige Kind gar nicht wieder erkannte. Annemarie mußte alles mögliche ersinnen, um sie zu beschäftigen und gnädiger zu stimmen.

Ja, es war ein bitterschwerer Winter für die arme Annemarie. Ihre schlanken Finger zeigten Frostbeulen, Spuren vom Scheuern und Heizen. Rudolf war ihr rührend zur Seite. Er schleppte ihr die Kohlen aus dem Keller herauf, legte selbst mit Hand an, soviel es seine Praxis ihm nur erlaubte. Und vor allem trug er die schwere Sorge um Vronli mit ihr gemeinsam, sprach ihr Mut und Zuversicht zu und richtete sie liebevoll immer wieder auf, wenn sie verzagen wollte, weil das Fieber zu erschreckender Höhe stieg. Hatte der Würgeengel die zarte, holde Menschenknospe, die sie gehegt und gepflegt, bereits in seinen Fängen?

In diesen schweren Tagen gemeinsamen Bangens erstarkten die Banden, welche Annemarie und Rudi in frohen Tagen umschlungen, zu eherner Festigkeit. Jeder dachte nur an das Leid des andern und versuchte ihm dasselbe zu erleichtern.

Ein bitterkalter Tag war es. Durch die Küchenfenster pfiff der Nordost. Annemaries klamme Finger konnten den Quirl kaum halten, mit dem sie den Grießbrei für die Kinder rührte. Zu gleicher Zeit klingelte das Telephon und die Entreeglocke. Klein-Ursel weinte, weil Mutti noch keinen »Scholodschen Datten« mit ihr gebaut hatte. Vronli mußte eine neue Packung bekommen. Und zum Überfluß erschien Hansi barfuß bei der Eiseskälte in der Küche, um mitzuteilen, daß es »linnelt«. Ach, Annemarie war schon ganz rasend von der doppelten Klingelei. Sie wußte nicht, wo sie zuerst hinlaufen sollte. Es war einer von den Augenblicken im Leben, in denen einem zumute ist wie einem Ertrinkenden, der in einen Wasserstrudel geraten ist.

Zuerst packte sie den strampelnden Hansi, der durchaus selbst die Entreetür öffnen wollte und spedierte ihn wieder ins Bett, was ein wildes Revolutionsgeschrei auslöste. Ursel beteiligte sich sofort daran, weil die Mutti noch immer nicht den Elefanten aus dem Zoologischen kommen ließ. Vronli stöhnte. Telephon und Türklingel bimmelten erbarmungslos weiter.

Rasch zum Telephon – vielleicht eine eilige Bestellung für Rudi: »Hier Doktor Hartenstein – wer ist da? Verachen, du? Warte eine Sekunde, mein Herz. Ich muß bloß die Tür öffnen. Es klingelt wie verrückt. Gleich bin ich wieder da.« Annemarie eilte zur Eingangstür. Ach, Vera ahnte es nicht, was für ein gehetztes Edelwild sie war, die saß an ihrem Schreibtischtelephon und hatte Zeit, sich gemütlich zu unterhalten. Sollte lieber herkommen und ihr helfen, anstatt sie noch obendrein aufzuhalten. Überhaupt die Freundinnen! Fünf Kränzchenschwestern, und keine kümmerte sich um sie. Keine wagte sich nach Lichterfelde in das Grippelazarett hinaus. Allenfalls erkundigten sie sich am Telephon, wie es ginge, und störten sie in ihrer knappen Zeit. Solche bitteren Gedanken kamen Annemarie, während sie der wie besessen läutenden Türschelle endlich Folge leistete.

Draußen stand mit schwarzer Pelzkappe und kältegeröteten Wangen Ilse Hermann.

»Menschenskind, ihr sitzt wohl auf den Ohren? Ich habe mir schon Gedanken gemacht, glaubte, ihr seid alle miteinander bereits im Jenseits. Gott sei Dank, daß du mir wenigstens noch grippeheil entgegenkommst. Und das Vronli? Geht es noch immer nicht besser? Sorg' dich nur nicht so arg, Annemie. Kinder fiebern leicht hoch. Der Hansi scheint ja schon wieder ganz mobil zu sein. Wenigstens seine Stimme klingt nichts weniger als schwach. Und Klein-Ursel ruft auch schon nach ›Tatte Ise‹. Ja, Kinder, ich komme ja gleich, nur meine Sachen muß ich erst ablegen.« Ilse erschien Annemarie wie der Rettungsball, der dem Ertrinkenden zugeworfen wird.

»Wagst du dich denn wirklich hier hinein in unsere Isolierbaracke, Ilse?« gab Annemarie dennoch pflichtgemäß zu bedenken.

»Leibhaftig. Solange ich in der Schule zu unterrichten hatte, fühlte ich die Verpflichtung, mich jeder Ansteckung und Übertragung fernzuhalten. Aber seit heute sind Grippeferien. Es fehlen zu viele Schülerinnen und Lehrkräfte. Und da haben mich keine zehn Pferde, respektive alle Gegengründe meiner ängstlichen Mutter, nicht länger zurückhalten können. Ich mußte nach euch sehen, und ob ich dir in deiner Not zur Seite sein kann.«

»Ach, Ilslein, du bist wirklich der Retter in der Not und zeigst mir, daß es doch noch wahre Freundschaft gibt, auf die man sich verlassen kann, gerade als ich daran zweifeln wollte. Und daß du dich von deinem Inseparable getrennt hast – – –.«

»Marlenchen wollte natürlich mit nach Lichterfelde. Aber ich fand es richtiger, uns nach und nach in die Höhle des Löwen zu begeben. Es genügt, wenn erst eine von der Grippe gefressen wird, nicht gleich beide auf einmal. Dann hast du wenigstens immer noch Ersatz an der anderen.«

Annemarie lachte hell und befreit auf. Alles Schwere, was ihr die Brust mit ungewohntem Druck einengte, schwand für einen Augenblick vor der munteren leichten Art der Freundin.

»Also dann an die Gewehre, Ilse! Da hast du eine Schürze. Du kannst die beiden Kleinen mit Grießbrei füttern. Ich mache inzwischen Vronli die Packung. Und dann muß ich Rudis Reich erst wieder zur Sprechstunde herrichten. Ums Mittagbrot müssen wir uns auch demnächst kümmern. Keine Ahnung, was man kocht.«

»Hast du noch gar nicht vorgesorgt, Annemie? Na, wie wär's, wenn wir deinen lieben Mann mit seinem Nationalessen, mit echten Schwäbischen Spätzli überraschen? Frau Kirchmäuser hat uns im Dreimädlehaus damals doch mehr als eine Lektion darin erteilt.«

»Ach, Ilse, willst du dir wirklich soviel Arbeit machen? Das heißt, dem Rudi würd' ich's gönnen, daß er mal was Besseres in den Magen bekommt. Die letzten Tage mußte er immer abwechselnd Reis und Nudeln futtern, was schnell geht. Und nun an die Arbeit! Zum Schwatzen bist du doch nicht hergekommen.«

Ilse Hermann wurde wirklich der Retter in der Not. Sie nahm der Mutter die beiden Kleinen vollständig ab, daß Annemarie sich ausschließlich mit Vronli befassen konnte. Das Kind war heute glühend heiß trotz der Packungen. Wenn nur Rudi erst wieder daheim wäre!

»Muttichen, ich wollt', ich wär' Tante Albertinchen und könnte auch mal ein bißchen ganz schnell in den Himmel hineingucken.« Wieder hörte Annemarie Vronlis Stimme, sah ihren sehnsüchtigen Blick.

Nein, nein, es war ja nicht möglich, daß man ihr das liebe Kind nehmen konnte!

Im Nebenzimmer jubelten Hansi und Klein-Ursel über die drolligen Tierstimmen, die Tante Ilse beim Bauen des Zoologischen Gartens nachahmte. Sie ahnte nichts von den Qualen des Mutterherzens.

»Tante Ilse is'n einjes Tamel, Ontel Tlaus soll se niß verhauen«, machte Hansi ihr sein Kompliment.

Annemarie mußte, trotzdem Tränen ihr den Blick verschleierten, lächeln. Schade, daß der Klaus und die Ilse nicht über die Kabbeleien ihrer Kinderjahre hinauskamen. Was gäbe die Ilse mit ihrer Tüchtigkeit und ihrem warmen Herzen für eine prachtvolle Frau ab! Wirklich schade!

Annemarie hatte im Lauf des Tages reichlich Gelegenheit, Ilses opferfreudige Hilfe kennen zu lernen. Keine Arbeit war ihr zu schlecht. Sie wischte die Stuben auf und scheuerte die Töpfe. Annemarie durfte überhaupt nicht an den Kochherd. Sie ließ nicht eher nach, als bis sich die Freundin eine Stunde hinlegte, denn Annemaries rosiges Gesicht war von den Nachtwachen und der Angst um Vronli schmal und blaß geworden. Aber trotzdem Annemarie in Ilses Händen alles wohl versorgt wußte, fand sie keine Ruhe. Sie zählte die keuchenden Atemzüge des Kindes, sie sprang verängstigt auf, um ihre kühle Hand auf Vronlis brennende Stirn zu legen. Eine wunderbare Beruhigung schien von Annemaries Fingern auszugehen. Als ob das Kind in seinen quälenden Fieberträumen fühlte, daß die Mutter ihm nahe sei, wurde das Zucken des kleinen Körpers weniger heftig, sobald Annemarie zärtlich leise Besänftigungsworte zu ihrem Liebling sprach. Schließlich verlangte aber Annemaries Natur doch ihr Recht. Die Hand auf der Stirn des Kindes, schlief sie auf einem Stuhl am Bettchen fest ein.

So fand sie der heimkehrende Rudi. Sein erster Blick galt der kleinen Kranken. Unter Annemaries Fingern standen feuchte Tröpfchen auf der Stirn Vronlis. Der sehnlichst erwartete Genesungsschweiß war eingetreten – das Kind gerettet!

»Weible – Frauli – wach auf, Herzle!« Rudi, der sonst jede Minute, in der Annemarie Schlaf fand, segnete, küßte seine Frau auf das Goldhaar, um sie zu ermuntern. »Unser Vronli wird gesund werden – der Himmel hat sie uns heut halt zum zweitenmal geschenkt!«

Fest umschlungen standen die Gatten Hand in Hand am Bett ihres dem Tode abgerungenen Kindes.

»Ich muß Papa nach Charlottenburg telephonieren, er weiß halt, daß heute der kritische Tag ist. Es läßt ihm nimmer Ruh!« Doktor Hartenstein eilte an das Telephon.

»Ja, was ist denn das? Der Hörer abgenommen und nit zurück auf die Gabel gelegt? Annemie, das darf nit vorkommen, Kind. Es können doch inzwischen Patienten vergeblich angeläutet haben.«

»Richtig, die Vera hängt ja noch an der Quasselstrippe.« Annemarie war plötzlich wie ausgewechselt. Ihr durch Angst zurückgehaltener Frohsinn brach sich jetzt wieder Bahn. »Die Vera habe ich doch rein vergessen über das Vronli und über den Antritt unserer neuen Küchenfee. Du weißt wohl noch gar nicht, daß wir eine Aushilfe bekommen haben. Heute ist wirklich ein Glückstag, Rudi.« Wie ausgetauscht war Annemarie vor Glückseligkeit.

»Für uns, Herzle. Aber draußen sieht's wieder mal bös aus. Wer weiß, ob ich morgen zur Stadt 'neinkann. Man spricht halt wieder von Generalstreik. Hast Licht im Haus und Petroleum? Daß wir nit im Dunkeln sitzen müssen. Laß von der neuen Donna gleich eine Lampe richten. Und sag' ihr nix vom Generalstreik, sonst macht sie am End' kehrt und geht wieder heim. Ich bin heilfroh, daß du entlastet bist, mein Liebling.«

»Juste, unser Vronli ist außer Gefahr, und der Herr möchte eine Lampe in Ordnung gebracht haben, weil Streik kommen kann, aber ich soll Ihnen nichts davon verraten, damit Sie nicht etwa wieder ausrücken«, rief Annemarie übermütig in die Küche hinein.

Ja, war die Annemarie vor Freude ganz und gar närrisch geworden, daß sie einer wildfremden Person derartige Mitteilungen machte? Und gleich darauf hörte Rudi die Antwort aus der Küche: »Die Lampe kann sich der Herr jefälligst alleene putzen. Ick kann keene Petroleumfingers mang meine Spätzli jebrauchen.« Die Stimme klang trotz ihrer ungebildeten Art merkwürdig bekannt.

Erst mittags mit der Suppenterrine erschien Ilse vor dem Herrn. »Ick bin de Neue und muß mit Jlacéhandschuhs anjefaßt werden«, stellte sie sich lachend vor.

Aber Rudolf faßte sie durchaus nicht mit Glacéhandschuhen an, sondern packte sie an ihrem blonden Schopf und gab ihr in seiner süddeutschen impulsiven Art einen herzhaften Kuß. »Ilse, du bist halt a guetes Mädle – a arg braves Bürschle bist! Das vergessen wir dir unser Lebtag nimmer, daß du dich halt zu uns 'nausgewagt hast.«

»Au weh, die Jnädje kommt – die Jnädje wird eifersichtig.« Lachend machte sich Ilse los.

Die »Gnädige« aber kannte keine Eifersucht. Die Neue durfte sogar mit am Tisch sitzen und das Lob für die wohlgelungenen Spätzli gleich in Empfang nehmen.

Das wurde das erste frohe Mittagessen nach schweren Tagen. Natürlich stellte sich auch Hansi plötzlich dazu ein und erklärte: »Iß will auch Pätzli triegen. Hansi is dehaupt niß mehr trank, is bestimmt wieder desund demeßt.«

Sein Vater war anderer Meinung. Hansi bekam keine Spätzli, dafür aber einen Klaps, weil er sich gar so wüst gebärdete. Der allgemeine Streik setzte damit ein, daß als erster Hansi streikte und nun zur Strafe seine Milch nicht trinken wollte.

Aber bald streikte es weiter. Zunächst die elektrische Klingel. Die Patienten schlugen fast die Tür ein während der Sprechstunde, um Einlaß zu erhalten und weckten Vronli aus ihrem stärkenden Genesungsschlaf.

Dann folgte das Licht. Mitten bei einer Kehlkopfspiegelung saß Doktor Hartenstein im Dunkeln. Die Petroleumlampe der neuen »Juste« mußte nun doch in Aktion treten. Auch sie streikte und verrichtete nur qualmend und übelduftend ihren Dienst.

Die Kinder heulten in der Dunkelheit und fürchteten sich vor dem »Bubumann«. Es half nichts, Annemarie, die doch wirklich Wichtigeres zu tun hatte, mußte sich zu ihnen setzen und Märchen erzählen. Aber auch dabei ging es nicht ohne Gebrüll ab. Als sie von den sieben Geißlein berichtete, wie der Wolf mit verstellter Stimme Einlaß begehrte: »Macht auf, Kinderchen, eure liebe Mutti ist da!« und die Geißlein ängstlich antworteten: »Du bist nicht unsere liebe Mutti, du bist der böse Wolf – – –«, da begann Klein-Ursel wie am Spieß zu schreien: »Nein, nein, du bit niß er, du bit niß bösche Holf, du bit unse jüsche Mutti!« Nur schwer war das durch die Krankheit erregte Kind wieder zu beruhigen. Trotz aller Beteuerungen Annemaries, daß sie ganz gewiß nicht der böse Wolf, sondern die Mutti sei, schrie Ursel ihre Naht fort. Und als sie aufhörte, begann Hansi zu heulen, weil das schöne Märchen von den »sieden Deißlein« nicht weiter erzählt wurde.

»Iß sa danz abßeulis, bloß feil die lixte Söre siß dault, verschält die olle Mutti niß mehr«, schimpfte er zum Gaudium von Ilse und Annemarie.

Aber auch die neue »Juste« begann plötzlich zu Annemaries Schrecken zu streiken. Sie bekam es mit der Angst, daß sie, wenn der Bahnverkehr stillgelegt wurde, auf unberechenbare Zeit von Berlin abgesperrt werden könnte und nach Ablauf der Grippeferien am Ende ihren Lehrerinpflichten dadurch nicht nachkommen konnte. Unbedingt mußte sie versuchen, noch eine Bahn nach Berlin zu bekommen. Vronli ging es ja nun besser; sobald wieder regelmäßige Bahnverbindung wäre, käme sie als Aushilfe zurück.

Schweren Herzens ließ Annemarie die Freundin ziehen. Auch die Kinder wollten sie nicht fortlassen.

»Der verflixte Streik!« Frau Annemarie räsonierte in der Finsternis ähnlich wie ihr Sohn Hansi.

Aber als Ilse nach Ablauf von einer halben Stunde wieder auf der Bildfläche erschien, weil sämtliche Bahnen bereits außer Betrieb gesetzt waren, segnete Annemarie den »verflixten Streik«. Was machte es ihr, daß die Wasserleitung gleichfalls streikte, und daß man das Wasser bei der Eiseskälte durch tiefen Schnee in Eimern von dem strohumwickelten Brunnen herbeischleppen mußte? Was tat's, daß das Gas streikte, und Rudi Holz hacken mußte, um den Küchenherd zum Teewasser zu heizen? Vronli wurde ja wieder gesund! Und was ihr allein bitterschwer gefallen wäre, wurde jetzt in Gemeinschaft mit Ilse zu einem humorvollen Ereignis. Noch in späten Jahren erinnerten sich die Freundinnen oft und gern der Zeit, da sie hinter der weißen Gottesmauer fast eine Woche lang ohne Licht und ohne Wasser wie auf einer Robinsoninsel gehaust hatten.



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