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II.
Inclusa

Forschungen ueber das Räthsel der mannmännlichen Liebe.

»Vincula frango.«

Der Titel (inclusa = ›eingezwängt, eingesperrt‹) verweist auf den Zweizeiler, den Ulrichs auf S. IV und noch einmal auf S. 63 anführt:
Sunt mihi barba maris, artus, corpusque virile;
His inclusa quidem: sed sum maneoque puella
Ich habe den Bart eines Mannes, männliche Glieder und einen männlichen Körper; zwar bin ich in ihnen eingesperrt, aber ich bin und bleibe eine Frau.

Von

Numa Numantius.

Selbstverlag des Verfassers.

In Commission bei Heinrich Matthes in Leipzig.

1864

»Inclusa.«

Anthropologische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe.

Zweite Schrift über mannmännliche Liebe.

Naturwissenschaftlicher Theil.

Nachweis, daß einer Classe von männlich gebauten Individuen Geschlechtsliebe zu Männern geschlechtlich angeboren ist.

 

»Rerum cognoscere causas.«

Lucretius Das Motto ›Rerum cognoscere causas‹ (die Ursachen der Dinge erkennen) ist hier noch fälschlich Lukrez zugeschrieben. Siehe aber IV. Formatrix, Titelblatt: Vergil, Georgica 2, 490.

 

»Und sollte sich Natur nicht noch ergründen?«

Göthe.

 

»So klar, wie Sonnen sich entzünden,
»So klar wird dir sich einst verkünden,
»Daß diese Gluth durch Schöpfers Hand entbrennt.«

N. Num.

 

»Sunt mihi barba maris, artus, corpusque virile;
»His inclusa quidem: sed sum maneoque puella.«

N. Num.

 

»Siehe: dieses ist Land und fester Boden zu stehen.«

N. Num.

III. Geschlechtliche Unbehaglichkeit des Urnings im eigenen Körper. Antonius Heliogabalus. §.105-116 ...

Einleitung.

I.

O! daß es mir möglich wäre, auch nur einen Augenblick lang euch in das Innere unserer Seele hineinzuversetzen, so daß ihr empfändet, was wir empfinden, wenn wir die Blüthe eines jungen Mannes erblicken, wenn, wie Phrynichus Phrynichus (von Athen), griech. Tragiker (um 500 v. Chr.), zitiert von Athenaios von Naukratis (2. Jh. n. Chr.), Das Gelehrtenmahl [Auswahl]. Aus dem Griechischen von U. und K. Treu (1985) S. 368. singt von des Troilus jugendlichen Wangen,

»λάμπει δ'ἐπὶ πορφυρέαις
παρηίσι φῶς Ερωτος«! » Es erglänzt auf seinen purpurnen Wangen das Licht des Eros (Athenaeus, deipnosophistarum lib. XIII. p. 566. [al. lib. XIII, cap. 17.])

Dann würde es euch gegenüber einer Rechtfertigung unserer Liebe ohne Zweifel überall nicht bedürfen. Eurer begeistertsten Sympathien wären wir gewiß.

So aber ist jenes unmöglich; wie es denn ebenso unmöglich ist, daß jemals wir empfinden werden, was in eurem Inneren vorgeht beim Anscheinen eines blühenden weiblichen Wesens.

Euer Empfindungsvermögen also steht mir nicht zur Disposition. Eure Sympathie steht uns nicht zur Seite. Im Gegentheil, ungezügelte Antipathie lodert in euch gegen uns und gegen eine Liebe, deren zauberische Gewalt und deren himmlische Herrlichkeit ihr nicht einmal leise zu ahnen befähigt seid.

Darum bleibt mir nichts übrig, als an euren Verstand nachstehend mich zu wenden, als an euren nackten kalten Verstand mit nackten kalten Vernunftschlüssen heranzutreten. Euer Verstand steht mir zu Gebote. Verstand und Vernunftschlüsse sind ein gemeinsamer Boden euch und mir. Auf diesem Boden seid ihr Rede und Antwort mir schuldig.

Eure erwähnte leidenschaftliche Antipathie ist ein wesentliches Hinderniß einer richtigen, rein objectiven, Auffassung der mannmännlichen Liebe. In dieser Sache fehlt euch, um mit Arthur Schopenhauer Arthur Schopenhauer (1788-1860): den in II. Inclusa ausführlich zitierten Philosophen hat Ulrichs erst während der Niederschrift kennengelernt (II. Inclusa S. 45). Siehe aber Briefe S. 69. zu reden, die »vom Willen nicht bestochene Erkenntniß«, welche man mit Recht für jedes Erkennen verlangt. Eure Erkenntniß ist in Fesseln geschlagen von Sympathie für Weiberliebe und von maßloser Antipathie gegen mannmännliche Liebe.

Ihr seid Partei, wie ich Partei bin. Unparteiisches, von Parteieingenommenheit freies, Urtheil kann ich bei niemandem von euch mit irgend welcher Sicherheit voraussetzen.

Ich würde mich auch gar nicht an euch wenden mit meiner Rechtfertigung der mannmännlichen Liebe, wäre ich nicht gezwungen, es zu thun. Perhorresciren würde ich euch, wie man einen befangenen Richter perhorrescirt. Es giebt auf Erden keinen über euch stehenden Richter, an den ich mich wenden könnte. Ihr beherrscht die Wissenschaft und die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft. Indem ich meine Rechtfertigung deßhalb dennoch an euch richte, seid ihr daher Partei und Richter in Einer Person. Wollet das, bei eurer Prüfung meiner Sätze, bedenken. Nur bei völlig Geschlechtslosen, bei den Engeln im Himmel, würde ich völlig unbefangenes Urtheil voraussetzen dürfen. Annäherungsweise auch bei Greisen, in denen der geschlechtliche Liebestrieb bereits erloschen, und bei Kindern, in denen er noch nicht erwacht ist.

Eine ganz andere Stellung, als ihr Männer, werden vermuthlich wissenschaftlich gebildete Frauenzimmer zur mannmännlichen Liebe einnehmen; freilich auch sie erst, nachdem sie meine Verstandesgründe werden erkannt haben. Denn zunächst ist auch bei ihnen eine hemmende Antipathie vorhanden. Dann aber werde ich bei ihnen auch voller Sympathie gewiß sein. Denn sie halte ich, ihrer weiblichen Natur wegen, für fähig, unsere Liebe auch mit dem Empfindungsvermögen zu erfassen, d. i. sie nachzuempfinden; was bei euch undenkbar ist.

Unbefangene Männer, die meine Sätze aufrichtig zu prüfen entschlossen sind, bitte ich daher um zwei Dinge: 1) den festen Entschluß zu fassen, lediglich mit dem kalten Verstände zu prüfen und wenigstens den Versuch zu machen, von aller Antipathie ihre Vernunft zu emancipiren; 2) falls thunlich, auch die Stimmen gebildeter urtheilsfähiger Frauenzimmer zu vernehmen.

Keineswegs verzweifle ich jedoch auch an eurer leidenschaftslosen und richtigen Beurtheilung. Habe ich doch bei einzelnen unter euch den Beweis solcher unbefangenen Urtheile bereits in Händen an den Urtheilen Heinse's und Arthur Schopenhauers (siehe unten §. 75. und §. 86.), von denen letzterer mit nachahmenswerter Gerechtigkeit von der mannmännlichen Liebe sagt »Die Welt als Wille und Vorstellung,« 3. Aufl. 1859. Bd. II. S. 644.:

»Der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, ist mein angeborner Beruf. Diesem Berufe auch hier getreu, anerkenne ich zunächst das sich darstellende Phänomen« (nämlich das tatsächliche Vorhandensein mannmännlicher Liebe unter allen Völkern und in allen Jahrhunderten, und ihre beharrliche Unausrottbarkeit) »nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus.«

Ferner sagt er A. a. O. S. 643.:

»Dieser Folgerung« (nämlich, daß die mannmännliche Liebe » irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgehe«) »können wir uns schlechterdings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren wollen.«

Möchten doch alle so gerecht gegen mich verfahren, wie ich, nach diesen Worten, von ihm erwarten dürfte, wäre er noch unter den Lebenden.

II.

Meinen Gegenstand scheint die herrschende hergebrachte Meinung für absolut unberührbar zu erklären: und ich, ich erdreiste mich, ihn einer eignen wissenschaftlichen Erörterung zu unterwerfen?

Mich rechtfertigen zwei Gründe.

Der Wissenschaft ist, meines Erachtens, nichts unberührbar. Schon dieser Grund allein reicht hin, meine ich, mich zu rechtfertigen. Auch dann würde er mich rechtfertigen, wenn nicht schon längst Socrates und Plato, neuerdings unter anderen M. H. E. Meier M. H. E. Meier (genauer zitiert auf S. 2), Art. Päderastie, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Dritte Section, Neunter Theil (1837) S. 149-189. und Arthur Schopenhauer, diesem angeblich unberührbaren Gegenstande ihre Forschungen und Studien gewidmet hätten.

Aber noch ein anderer Grund tritt hinzu. Es handelt sich für uns um sein oder nicht sein. Es handelt sich um die Frage:

Ist es noch länger zu dulden, daß ihr, lediglich auf Grund eines naturwissenschaftlichen Irrthums, absichtlich und systematisch darauf ausgeht, tausenden eurer Mitmenschen Ehre und Lebensglück zu zertreten und zu zerstören, Menschen, die ebenso brav sind, wie ihr, und die in Wahrheit in gar durchaus nichts sich vergangen haben?

Wo es aber darum sich handelt, die höchsten Güter des Lebens zu retten: da wahrlich heißt es: vincula frango! da hinweg mit der zartfühlenden Besorgniß, hergebrachten Ansichten von Unberührbarkeit in's Antlitz schlagen zu müssen; da wäre es geradezu sträflich, – um mich eines Ausdrucks des Paulus Julius Paulus, römischer Jurist (um 200), hier zitiert nach Corpus Iuris Civilis, Digesten 5, 3, 40 (Ausgabe von Th. Mommsen S. 86): sein Recht aus Furcht vor Gefahr nicht zu verteidigen. zu bedienen – »propter metum hujus periculi temere relinquere jus suum indefensum». Paulus lib. 20. ad ediclum. Enthalten in lex 40, princ., in fine, Digestorum, de hereditatis petitione, lib. V. tit. 3.

III.

Ich wünsche niemanden in nachstehendem zu verletzen oder zu kränken. Ich verzeihe allen, die mich kränkten, allen, die lieblos und hart gegen mich waren. Ich verzeihe meinem Verräther. Freimüthig aber werde ich reden. Meine Spannkraft fühle ich durch selbsterlittene Verfolgungen nur gesteigert.

IV.

Ich wollte lieber mit offenem Visir auftreten. Den Bitten derer, die mir die nächsten sind auf Erden, weichend, unterwarf ich mich der Fessel der Pseudonymität, die ich jedoch ehestens brechen werde.

A.
Präcisirung des zu beweisenden Satzes.

§. 1. Der Fundamentalsatz, den ich aufstelle, und auf den ich mein ganzes System aufbaue, ist der Satz:

Die Natur ist es, die einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau weibliche Geschlechtsliebe giebt, d. i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern.

Für diesen meinen Satz will ich hier die wichtigsten der mir zur Zeit bekannten wissenschaftlichen Beweisgründe anführen, mir vorbehaltend, in besonderen Schriften dieselben noch näher auszuführen und möglicherweise neuentdeckte noch hinzuzufügen.

§. 2. Ihr werdet mir wohl zugeben, daß ihr nur deßhalb meinen Satz bestreitet, weil ihr folgenden Vordersatz für unumstößlich haltet:

Entwickelt die Natur an einem Individuum ein wesentliches Stück, z. B. den Körper, männlich, so entwickelt sie stets auch jedes andere, z. B. das geistige Ich, männlich. Wie sie ein wesentliches Stück des Individuums geschlechtlich entwickelt – männlich oder weiblich –, so entwickelt sie stets das ganze Individuum.

Aus diesem Vordersatz leitet ihr sodann ganz folgerichtig ab:

daß sie einem Individuum, dessen Körper sie männlich entwickelt, stets auch männliche Geschlechtsliebe gebe, d. i. geschlechtliche Hinneigung zu Weibern, Horror vor Männern.

Ihr werdet mir also zugeben, daß, gelingt es mir, eueren Vordersatz umzustoßen, ich wesentlich schon am Ziele sein werde. Das factische Vorhandensein weiblicher Liebe in einer zahlreichen Classe männlich gebauter Individuen werdet ihr ja nicht leugnen wollen, und deren factisch vorhandene Liebesrichtung erklärt ihr ja nur auf Grund jenes eueres Vordersatzes für naturwidrig.

Ich werde also zunächst gegen diesen eueren Vordersatz meinen Angriff richten.

*

§. 3. An diesem Orte möchte ich zur ersten Schrift nachtragen (zu Binder §. 2.):

Der παῖς, den der Griechische Urning liebte, war ein bereits waffenfähiger junger Mann, nicht ein Knabe.

»Παῖς μὲν γὰρ παριών
Κἀν πολέμῳ ...«

kommt vor in einem Liebesgedicht des Seleucus bei Athenäus siehe zu I. Vindex S. VII. (deipnosoph. XV. 697. d.). »Denn mein παῖς zieht mit mir in den Krieg.«

In Elis, Böotien und anderen Griechischen Staaten stellte man in der Schlacht Liebende und Geliebte absichtlich neben einander, um beide dadurch zur Tapferkeit zu ermuntern.

In Theben, auf der Insel Creta, etc., war es Sitte, den Geliebten mit einer Kriegsrüstung zu beschenken.

Der Geliebte des Epaminondas, Caphisodorus, fiel neben ihm, kämpfend, in der Schlacht bei Mantinea.

Die »heilige Schaar« der Thebaner, mit Ruhm bedeckt wegen ihrer Tapferkeit in den Schlachten, bestand aus lauter Liebenden und Geliebten. (Siehe über diese Angaben Meier siehe I. Vindex S. XI. in Ersch und Gruber's Encyclopädie Band Pac.–Pal. S. 164. beziehungsweise auch S. 161.)

Von den Liebenden und den Geliebten in Sparta sagt Meier, der Dioning (a. a. O. S. 162.):

In der Schlacht fochten sie neben einander; und man hat Beispiele von einer Treue, die sich bis in den Tod bewährte.

B.
Beweisführung.

Wissenschaftliche Beweisgründe für das Angeborensein der mannmännlichen Liebe.

 

»Non uno contenta valet natura tenere;
»Sed permutatas gandet habere vices.« »Mit einer einzigen Regel ist die Natur nicht zufrieden; vielmehr gefällt sie sich in Abwechselungen.«

Petronius. Petronius, Satyricon, Fragment 26 (32) (Ausgabe Müller – Ehlers S. 374). S. 52 zitiert Ulrichs auch den ersten Vers des Fragments:
So widerspricht (der Rabe) natürlichen Schöpfungsgesetzen ...

 

I.
Analogie der Zwitter, insonderheit der s. g. männlichen Hermaphroditen.

Vorbemerkung. Der anatomische Gegenstand macht nachstehend den Gebrauch einiger anatomisch-geschlechtlichen Ausdrücke unvermeidlich.

§. 4. 1) Als Regel erkenne ich allerdings eueren Vordersatz vollständig an. Wie die Natur ein wesentliches Stück des Individuums geschlechtlich entwickelt – männlich oder weiblich –, so entwickelt sie in der Regel das ganze Individuum.

Diese Regel hat die Natur sich selber gegeben. Aber von derselben weicht sie hin und wieder selber auch ab.

Die Natur schafft nämlich Zwitter, und zwar theils sogenannte männliche, theils sogenannte weibliche Hermaphroditen. D. i. einzelnen Individuen giebt sie

entweder

männliche Testikel, mehr oder minder unentwickelte, und daneben minder wesentliche geschlechtliche Körpertheile und Körperformen weiblichen Gepräges: sogenannte männliche Hermaphroditen, Casper's Vierteljahresschrift für gerichtliche Medicin. Bd. X. 1856. S. 18 ff. – Casper's Wochenschrift. 1833. Nr. 3. S. 61 ff.

oder

weibliche Eierstöcke und daneben minder wesentliche geschlechtliche Körpertheile und Körperformen männlichen Gepräges: sogenannte weibliche Hermaphroditen. Prager Vierteljahreschrift für praktische Heilkunde. Bd. 45. 1855. S.123 ff.

Damit aber ist euer Vordersatz bereits umgestoßen.

§. 5. 2) Die sogenannten männlichen Zwitter stehen ferner den Urningen sehr nahe, weil auch ihr Liebestrieb, soweit Fälle beobachtet worden sind, stets auf Männer, nicht auf Weiber, gerichtet ist. So war es z. B. der Fall bei dem etwa 1833 untersuchten Zwitter Marie Göttlich Casper's Wochenschrift. 1833. am angeführten Ort. und ebenso bei einem 1854 untersuchten Zwitter in der Gegend von Münster. Casper's Vierteljahreschrift a. a. O. S. 36. Einen ähnlichen Fall hat mir 1862 ein Urning mitgetheilt. In Berlin lebe ein Zwitter ganz derjenigen Körperbildung, wie wir sie bei der Marie Göttlich beschrieben finden, und mit Liebe zu Männern. Während übrigens Marie Göttlich und der Münster'sche Zwitter als Weiber, unter weiblichem Namen und in Weiberkleidern aufwuchsen, ist dieser Zwitter als Mann, unter männlichem Namen und in Männerkleidern aufgewachsen. Die dortigen Urninge betrachten ihn ganz als einen der ihrigen. Sein Habitus ist vollkommen weiblich, ganz wie der der Urninge.

[Bei diesen sogenannten männlichen Zwittern ist das correspondirende körperliche Substrat ihrer weiblichen Geschlechtsliebe offenbar die weibliche Formation der gedachten geschlechtlichen Körpertheile und Körperformen. – Da übrigens die Richtung der Geschlechtsliebe ein ebenso wichtiges Stück der geschlechtlichen Organisation des Individuums bildet, als die körperlichen Stücke derselben (Testikel, Eierstöcke, Brustmilchdrüsen etc.), so kann ich den Ausdruck »männlicher Zwitter« durchaus nicht billigen. Wegen seiner Testikel allein ist in dem sogenannten männlichen Zwitter das männliche Geschlecht noch gar nicht vorwiegend.]

Die drei genannten Zwitter beweisen, daß es irrig ist, anzunehmen: »neben Testikeln sei stets männliche Geschlechtsliebe von Natur vorhanden, sie stecke gleichsam in den Testikeln«, oder: »weibliche Geschlechtsliebe sei nur da von Natur vorhanden, wo Eierstöcke vorhanden sind.« Der Sitz der Geschlechtsliebe dürfte vielleicht überhaupt ganz anderswo zu suchen sein, als in den Testikeln oder in den Eierstöcken, oder auch als in den übrigen geschlechtlichen Körpertheilen, nämlich im Gehirn. Anderenfalls würde die weibliche Geschlechtsliebe dieser drei Zwitter (wie auch die unsrige) allerdings nirgend sonst als in den Testikeln stecken.

Giebt aber die Natur einem Individuum 1)  männliche Testikel, daneben 2)  weibliche Geschlechtsliebe, und außerdem 3) einzelne minder wesentliche geschlechtliche Körpertheile weiblichen Gepräges:

so ist in der That nicht abzusehen, warum sie nicht sollte noch einen Schritt weiter gehen können und anderen Individuen 1) männliche Testikel, 2) weibliche Geschlechtsliebe geben, 3) aber jene weniger wesentlichen geschlechtlichen Körpertheile zu männlicher Gestaltung entwickeln?

Beide Abweichungen von der Regel würden doch nur verschiedene Phasen von Zwitterbildung sein.

Die Schaffung eines Individuums in letzterwähnter Gestaltung aber würde nichts anderes sein, als die Schaffung eines Urnings. –

Die Natur schafft eine enorm größere Zahl von Urningen, als von Zwittern. Urninge zu schaffen, so scheint es fast, wird ihr zwar nicht so leicht, als Dioninge oder Weiber zu schaffen, leichter aber, als Zwitter.

II.
Das in uns vorhandene, beziehungsweise vorhanden gewesene, körperliche Substrat unserer weiblichen Geschlechtsliebe und der in jedem Embryo enthaltene weibliche Keim der Geschlechtsliebe.

§. 6. Ihr scheint anzunehmen:

In dem einen Embryo schlummere von Beginn seines Lebens an nur ein männlicher Keim, welcher demnächst auch zur Entwicklung gelange, in dem anderen nur ein weiblicher, welcher ebenfalls zur Entwicklung gelange. In uns nun habe in jenem Stadium unseres Daseins nur ein männlicher Keim geschlummert und sei solcher demnächst auch zur Entwicklung gelangt.

Ich will euch zugestehen: wäre diese Annahme richtig, so wäre auch euere Theorie richtig. Wo die Natur weiblichen Keim überall nicht gab, da kann weibliches Wesen, sei es in der Geschlechtsliebe, sei es sonst irgendwo, sich auch nicht entwickeln. Wo es sich dennoch finden sollte, könnte es nicht von Natur vorhanden sein.

Ihr scheint ferner anzunehmen:

Unserer weiblichen Geschlechtsliebe fehle es an einem correspondirenden körperlichen Substrat.

Auch hier will ich zugestehen: wäre euere Annahme richtig, so wäre auch euere Theorie richtig. Ohne irgend ein correspondirendes körperliches Substrat kann, so scheint es auch mir, eine geschlechtliche Liebe von Natur nicht vorhanden sein.

§. 7. Allein beide Annahmen beruhen nur auf dem Schein. In Wirklichkeit sind sie beide unzutreffend. Wir haben als Embryo weiblichen Keim allerdings in uns getragen, und ein correspondirendes körperliches Substrat unserer weiblichen Geschlechtsliebe ist allerdings sichtbar und greifbar wenigstens vorhanden gewesen, zum Theil indeß auch noch vorhanden.

In jedem Embryo schlummert bis etwa zur zwölften Woche seines Daseins ein doppelter geschlechtlicher Keim, ein männlicher und zugleich ein weiblicher. Der Keim der Geschlechtstheile ist bis dahin bei ihm fähig, zu männlichen Geschlechtstheilen entwickelt zu werden, zu Testikeln etc., und zugleich fähig, zu weiblichen Geschlechtstheilen entwickelt zu werden, zu Eierstöcken etc.

Ein und derselbe Keim der Geschlechtstheile entwickelt und gestaltet sich nun unter den bildenden Händen der Natur entweder zu männlicher oder zu weiblicher Gestaltung, d. i. entweder zu männlichen oder zu weiblichen Geschlechtstheilen, entweder zu Testikeln, Hodensack, Raphe etc., oder zu Eierstöcken, labia majora, bleibt Körperhöhle, d. i. wächst nicht zu zur Raphe etc.

Andere geschlechtliche Stücke sind an sich entweder specifisch männlich oder specifisch weiblich und nehmen nur durch Entwicklung oder unentwickeltes Zurückbleiben männliche oder weibliche Gestaltung an. Unter diesen Stücken ist der Keim des Membrum das specifisch männliche Stück, der Keim der Brust-Milchdrüsen und Brustwarzen das specifisch weibliche Stück. In demjenigen Individuum nun, in welchem die weiblichen Stücke zur Entwicklung gelangen, gelangen sie auch zur Functionsfähigkeit, d. i. zur Fähigkeit, ihre natürlichen Functionen auszuüben und ihrer geschlechtlichen Bestimmung zu genügen: während in diesem Individuum das männliche Stück niemals zur Functionsfähigkeit gelangt. Dasselbe ist umgekehrt der Fall mit den weiblichen Stücken da, wo das männliche Stück zur Entwicklung, beziehungsweise zur Functionsfähigkeit, gelangt. Unentwickelte Brustdrüsen trägt der Mann zeitlebens zwitterhaft mit sich umher, das Weib ein unentwickeltes Membrum, die sogenannte Clitoris.

Wir Urninge waren als Embryo also ebenfalls mit weiblichem Keim versehen, nämlich theils mit jenen Keimen, welche sich hätten entwickeln können zu Eierstöcken, labia majora, (Körperhöhle) etc., theils mit den Keimen der Brustdrüsen und Brustwarzen, welche entweder sich entwickeln oder aber zurückbleiben mußten.

§. 8.  Dieser weibliche Keim, mit dem wir als Embryo versehen waren, ist nun, beziehungsweise war, das correspondirende körperliche Substrat unserer weiblich entwickelten Geschlechtsliebe: ein Substrat, dessen Entwicklung allerdings nicht in correspondirender Richtung erfolgt ist und von dem nur Rudimente übrig geblieben sind, nämlich unsere unentwickelten Brustdrüsen und Brustwarzen, die wir noch als erwachsene an uns tragen. Eine Körperhöhle ist also auch bei uns schon vorhanden gewesen.

§. 9. Gleichwie nun aber in jedem Embryo ein weiblicher Keim der Geschlechts theile vorhanden ist, beziehungsweise die erwähnte Fähigkeit des Keimes der Geschlechtstheile, weibliche Entwicklung anzunehmen, vorhanden ist: ebenso ist in jedem Embryo, also auch im Embryo des nachmaligen Urning, auch ein Keim weiblicher Geschlechts liebe vorhanden, beziehungsweise der Keim der Geschlechtsliebe, der in ihm schlummert, ist fähig, weibliche Entwicklung anzunehmen. Zum correspondirenden körperlichen Substrat hat dieser weibliche Keim der Geschlechts liebe, beziehungsweise diese Fähigkeit, jenen weiblichen Keim der Geschlechts theile, beziehungsweise jene Fähigkeit des Keims der Geschlechtstheile. Im nachmaligen Dioning entwickelt sich der Keim der Geschlechts liebe in männlicher Richtung, correspondirend mit der Entwicklung, die der Keim der Geschlechts theile annimmt, im nachmaligen Weibe in weiblicher Richtung, gleichfalls correspondirend mit der Entwicklung des Keims der Geschlechtstheile.

§. 10. Wo ein Keim weiblicher Geschlechtsliebe nicht vorhanden ist, da kann sich ein solcher auch nicht entwickeln. Wo der Keim der Geschlechtsliebe nicht fähig ist, in weiblicher Richtung sich zu entwickeln, da kann dies auch nicht geschehen.

Wo er aber vorhanden ist, wie – wie bewiesen – bei uns, da kann er sich auch entwickeln. Wo der schlummernde Keim der Geschlechtsliebe fähig ist, in weiblicher Richtung sich zu entwickeln, da kann dies auch geschehen.

Im nachmaligen Urning also entwickelt sich der im Embryo schlummernde Keim der Geschlechtsliebe in weiblicher Richtung, nicht correspondirend mit der Entwicklung, die der Keim der Geschlechts theile nimmt.

§. 11. Werdet ihr es für undenkbar erklären wollen, daß die Natur in einzelnen Individuen die beiden im Embryo schlummernden Keime, den der Geschlechts theile und den der Geschlechts liebe, in verschiedenen Richtungen entwickle? den einen in männlicher, den anderen in weiblicher Richtung?

Ich glaube, ihr werdet dazu nicht im Stande sein. So lange ihr übrigens für diese Undenkbarkeit Gründe nicht anführt, ist mein Ja so gültig als euer Nein. Allein ich werde nachstehend für mein Ja auch Gründe anführen.

a) Daß die Natur nicht ausnahmslos sich die Regel gab » alles entweder männlich oder aber alles weiblich«, beweist sie, wie wir sahen, an den Zwittern, nämlich daß es mitunter ihr gefällt, in ein und demselben Individuum körperlich männliches und körperlich weibliches mit einander zu mischen. Daß die Natur, im Wege eines Naturspiels, körperliches unter einander mischt, was verschiedenen Naturen angehört, beweisen auch der Wallfisch und der Delphin. Diese vereinigen in sich Säugethiernatur und Fischnatur: und zwar zu erheblicher Beschwerde dieser Thiere. So z. B. können sie, im großen Gegensatz zu den Säugethieren (beziehungsweise auch zu den Fischen), nur unter großen Schwierigkeiten zur Begattung gelangen. Ferner können sie nicht, wie der Fisch, stets unter dem Wasser leben, da sie des Athmens bedürfen. Gleichwohl können sie niemals, wie der Seehund oder das Wallroß, außerhalb des Wassers zubringen. –
Daß ein Embryo zum Zwitter werde in Folge einer nachtheiligen äußeren Einwirkung auf die Mutter in der zwölften Woche der Schwangerschaft, ist eine durch nichts bewiesene Hypothese, die ich meines Orts für durchaus unwahrscheinlich halte. Ich halte dafür, die Entstehung der Zwitter erfolge lediglich durch dieselbe geheime, innere, schaffende Lebenskraft, ohne äußere Einwirkung, durch welche die der Dioninge und Weiber erfolgt, wenn auch im Wege eines Naturspiels. Und im Wege eines Naturspiels halte ich allerdings auch uns für entstanden.

b) Daß es der Natur aber mitunter auch gefällt, körperlich männliches und geistig weibliches mit einander zu mischen, beweisen:

α) die erwähnten sogenannten männlichen Zwitter Maria Göttlich, der Münster'sche Zwitter, und der Berliner Zwitter,

β) das weibliche Charakterelement der körperlich männlich gebauten Urninge, welches ich unten (§. 12-19.) darlegen werde.

c) Daß der geistige geschlechtliche Keim, welcher im Embryo schlummert, d. i. der Keim der männlichen, beziehungsweise weiblichen, Geschlechtsliebe und der Keim des erwähnten weiblichen, beziehungsweise männlichen, Charakterelements, sich unabhängig entwickle (beziehungsweise wenigstens in einzelnen Fällen sich unabhängig entwickeln könne) von der Entwicklung des körperlichen geschlechtlichen Keims, d. i. von der Entwicklung des Keims der Geschlechtstheile zu Testikeln oder Eierstöcken etc.: dafür spricht auch der Umstand, daß beide Entwicklungen nicht gleichzeitig vor sich gehen. Der Keim des Charakterelements entwickelt sich jedenfalls erst dann, wenn ein Charakter vorhanden sein kann, also schwerlich vor der Geburt, der der Geschlechtsliebe erst lange nach der Geburt: der Keim der Geschlechtstheile aber bereits vor der Geburt, nämlich bereits mit der zwölften Woche des Daseins.

d) Die Natur waltet räthselhaft. Insonderheit auf dem Gebiete der Entwicklung des Geschlechts im Embryo ist der Wissenschaft, trotz zum Theil sorgfältigster Forschung, dennoch fast alles noch Räthsel. Wer wird sich vermessen, hier jene Undenkbarkeit behaupten zu wollen? Das Gebiet der Entstehung der Geschlechts liebe gar ist ein Gebiet, das man meines Wissens nur erst philosophisch, naturwissenschaftlich dagegen – wahrhaft unverzeihlicherweise! – noch gar nicht zu erforschen versucht hat. Dies geht so weit, daß z. B. frei der wissenschaftlichen Untersuchung der Zwitter die betreffenden Aerzte und Professoren fast niemals es für der Mühe werth erachtet haben, auch die im Zwitter vorhandene Richtung der Geschlechts liebe zu constatiren. Ein in der medicinischen Wissenschaft bekannter Deutscher Arzt schrieb mir 1862: »Was die Neigung oder den Liebestrieb der Zwitter betrifft, so fehlt es hierüber an zuverlässigen Beobachtungen«: wie es mir scheint, so fehlt es darüber überhaupt an Beobachtungen. Nur bei den beiden erwähnten Zwittern, Maria Göttlich und dem Münster'schen, hat man die Beobachtung, aber eigentlich auch nur nebenbei, auch hierauf ausgedehnt. Medicinalrath Tourtual zu Münster, der Beobachter des erwähnten Münster'schen Zwitters, erklärt dabei (1856): »Der Gesammtheit der von ihm ermittelten Thatsachen gegenüber« (d. i. der Thatsache gegenüber, daß das Individuum neben weiblicher Bildung verschiedener geschlechtlicher Körpertheile und Körperformen Testikel hatte), würde ein etwaiger Einwand gegen das von ihm behauptete Uebergewicht der Virilität, den man vielleicht aus der weiblichen Richtung des Geschlechtstriebes des Individuums ableiten möchte, » auf sehr schwachen Füßen stehen.« ((Casper's Vierteljahrsschrift a. a. O. S. 36.) Als wäre die Richtung des Triebes nur so ganz unbedeutende Nebensache und nicht vielmehr gerade eines der Hauptmomente im geschlechtlichen Gesammtorganismus des Individuums?

Aus diesen Gründen, meine ich, werdet ihr es durchaus nicht für undenkbar erklären können, daß in einzelnen Individuen, nämlich in uns, der im Embryo vorhandene Keim der Geschlechts liebe sich in weiblicher Richtung entwickelt habe unabhängig von der Entwicklung, die der Keim der Geschlechts theile in uns genommen hat.

III.
Inneres weibliches Element und weiblicher Habitus der Urninge.

§. 12. Abgesondert von der weiblichen Richtung unseres geschlechtlichen Liebestriebes tragen wir Urninge noch ein anderes weibliches Element in uns, welches, wie mir scheint, in überraschender Weise den positiven Beweis liefert, daß die Natur in uns körperlich den männlichen Keim entwickelte, geistig aber den weiblichen.

Dieses andere weibliche Element tragen wir in uns von unserer ersten Kindheit an.

Unser Charakter, die Art wie wir fühlen, unsere ganze Gemüthsart, ist

nicht männlich,

sie ist

entschieden weiblich.

§. 13. Dieses innere weibliche Element ist äußerlich an uns erkennbar durch ein auch äußerlich hervortretendes weibliches Wesen.

Nur insofern ist unser äußeres Wesen männlich: als Erziehung, die stete Umgebung, in der man uns aufwachsen ließ, und die sociale Stellung, die man und gab, männliche Manieren uns künstlich anerzogen haben.

Den Mann spielen wir nur. Wir spielen ihn, wie auf dem Theater Weiber ihn spielen, oder wie der in Paris aufgewachsene Deutsche den Franzosen spielt, oder der in Deutschland aufgewachsene Jude den Deutschen.

§. 14. Trotz alles künstlich anerzogenen männlichen Wesens bricht in uns bei jeder Gelegenheit das weibliche Element äußerlich erkennbar hervor:

in der Art unseres Auftretens vor Menschen, im geselligen Benehmen, in Manieren, in Mienen und Gebärden, in Gesten, fast in jeder Bewegung der Gliedmaßen, der Arme, der Hände, im Lachen und Lächeln etc.

Uns ist eigen eine gewisse Weichheit des Charakters, ein gewisser empfindungsvoller Zug des Gemüths. In der Art, wie wir Freude, Schmerz, Mitleid, Rührung etc. kundgeben, ist diese Weichheit erkennbar.

Für jeden, der nur sehen will, der der Wahrheit die Ehre giebt, der sich ihr nicht absichtlich versperrt, ist das uns eigenthümliche weibliche Wesen unverkennbar.

Den wohlfeilen Einwand: »dies alles sei nur Verstellung« habe ich wohl nicht zu fürchten. Er wäre auch leicht zu widerlegen.

Dies äußerlich erkennbare weibliche Wesen nenne ich den weiblichen Habitus der Urninge. Der weibliche Habitus ist die äußerlich erkennbare Erscheinung des in uns wohnenden weiblichen Elements, unsres inneren weiblichen Wesens.

§. 15. Ganz besonders erkennbar ist an uns der weibliche Habitus in unsrer Kindheit, ehe man uns eine erkünstelte Männlichkeit anerzogen hatte und ehe wir die niederdrückende Erfahrung machten, jede Aeußerung unsres weiblichen Wesens werde uns zur Schande (!) angerechnet von unsren Gespielen wie von Erwachsenen, ehe wir also, leidend unter diesem äußeren Druck, begannen, jeden weiblichen Zug sorgfältig zu verbergen.

Der Urning zeigt als Kind ganz unverkennbaren Hang zu mädchenhaften Beschäftigungen, zum Umgang mit Mädchen, zum Spielen mit Mädchenspielzeug, namentlich auch mit Puppen. Wie sehr beklagt ein solches Kind, daß es nicht Knabensitte ist, mit Puppen zu spielen, daß der Weihnachtsmann nicht auch ihm Puppen bringt, und daß man mit den Puppen seiner Schwester zu spielen ihm verbietet! Solches Kind zeigt Wohlgefallen an nähen, stricken, sticken, häkeln, an den weich und sanft anzufühlenden Kleidern der Mädchen, die es am liebsten selber tragen möchte, an farbigen seidnen Bändern und Tüchern, von denen es sich gern einzelne Stücke aufbewahrt.

Den Umgang mit Knaben, deren Beschäftigungen, deren Spiele, scheut es. Das Steckenpferd ist ihm gleichgültig. Am Soldatenspielen, dem liebsten Zeitvertreib der Knaben, hat es keinen Gefallen. Nie kommt der so oft zu hörende Wunsch des Knaben über seine Lippen: »nicht wahr, Vater, auch ich werde Soldat?« Es flieht namentlich der Knaben Raufereien, deren Schneeballwerfen.

Am Ballspiel findet es wohl Gefallen, aber nur mit Mädchen. Auch wirft es den Ball mit der zarten und schwächlichen Armstellung der Mädchen, nicht mit dem kräftigen Armgriff der Knaben.

Jeder, wer einen Urning als Knaben beobachten konnte und mit einiger Aufmerksamkeit wirklich beobachtete, wird dies bestätigen oder doch ganz ähnliches. Sollte das alles aber Verstellung sein?

§. 16. Die geschilderten Eigenthümlichkeiten habe ich an mir persönlich schon längst nicht nur gekannt, sondern sie sind mir auch stets auffallend gewesen, ohne daß ich jedoch gerade etwas weibliches in ihnen erkannt hätte. Im Jahre 1854 theilte ich dieselben auch einem meiner Verwandten mit, als etwas mir auffallendes, was wohl mit meiner geschlechtlichen Natur zusammenhängen möge. Weil dieser mir jedoch diesen Gedanken ausredete, so ließ ich ihn fallen. Erst 1862 habe ich ihn wieder aufgegriffen: weil mir nämlich Gelegenheit ward, auch andere Urninge zu beobachten, und ich den weiblichen Habitus merkwürdigerweise bei allen sich wiederholen sah, wenn auch variirend in den einzelnen Zügen. (Auch bei den Weibern selbst variirt ja der weibliche Habitus in den einzelnen Zügen.)

§. 17. Ueber mich selbst, als Kind von 10-12 Jahren, folgendes. Wie oft seufzte meine gute Mutter: »Karl, du bist nicht so, wie andere Jungen!« Wie oft sagte sie warnend: »Wenn du nicht anders wirst, so wirst du ein Sonderling.« Das knabenmäßige, das einmal nicht in mir war, brachte alles warnen, aller Zwang, alles animiren zur Theilnahme am Schneeballwerfen etc. nicht in mich hinein. Ich war eben schon ein Sonderling, nämlich von Natur. – Als könnte durch künstliche Gewöhnung an Schneeballwerfen etc. das knabenmäßige erzeugt werden! und als wäre nicht vielmehr die Antipathie gegen das Schneeballwerfen nur das Symptom einer tiefliegenden angebornen Individualität! Oder als könnte eine angeborene Individualität durch Unterdrückung ihrer Symptome und durch Aufpfropfung oder Inoculirung der Symptome einer anderen Individualität in diese selbst umgewandelt werden!

Dieses meines weiblichen Wesens wegen bin ich schon als Knabe mancher Demüthigung unverschuldet ausgesetzt gewesen.

Als ich im Jahre 1844, 18½ Jahre alt, das Gymnasium verließ, um zur Universität abzugehen, sagte mir beim Abschiede eine wohlmeinende ältere Freundin:

»Karl, werden Sie recht männlich!«

und ein Geistlicher:

»Erhalten Sie sich Ihren kindlichen Sinn!«

Männlichkeit also haben beide in meinem damaligen Wesen nicht wahrgenommen.

Als ich im November 1862 einzelne Züge meines eigenthümlichen Wesens aufzeichnete, sie damals ausdrücklich als weiblichen Habitus bezeichnend, und die Aufzeichnung mehreren meiner Verwandten vorlegte, schrieb einer derselben an den Rand hinzu:

»Einen solchen weiblichen Habitus glaube ich an Karl allerdings stets wahrgenommen zu haben.«

§. 18. Auch Dioninge, Männer der Wissenschaft, haben derartige Eigenthümlichkeiten der Urninge hie und da beobachtet und aufgezeichnet, freilich deren Wichtigkeit gänzlich verkennend oder überschweigend. So 1853 in der »Medicinischen Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preußen« (Bd. XXII. 1853. S. 102. 103.) der Kreisphysicus Dr.  Fränkel zu Dessau, indem er über einen Urning Namens Blank, einen Israeliten, berichtet. Von diesem meldet er folgende seltsame Einzelheiten. Dabei giebt er einen wahrhaft giftigen Haß gegen urnische Liebe zu erkennen, einen Haß, den zum Theil freilich Blank's (hier nicht weiter zu berührende) Persönlichkeit in ihm hervorgerufen haben mag.

»Als Kind unterstützte Blank seine Mutter in nähen und stricken. Früh brachte er es zu einer so beträchtlichen Kunstfertigkeit in allen weiblichen Arbeiten, daß er großen Ruf und eilte gewisse Wohlhabenheit erlangte durch seine Stickereien und besonders durch sein Gardinenaufstecken. In Folge der Beschäftigung mit weiblichen Arbeiten ergab er sich weibischer Eitelkeit.« (Mir scheint diese Eitelkeit nicht Folge der Beschäftigung gewesen zu sein, sondern ein Stück des ihm angebornen weiblichen Elements.) »Er legte sein Haar in Locken, zerstörte seinen Bart, stopfte sich Busen und Hüften aus und benutzte jede Gelegenheit, sich als Weib zu maskiren.« (Sich in Weiberkleidung zu verkleiden. Einen wahren, fast leidenschaftlichen, Drang, sich als Mädchen zu verkleiden, kenne ich auch an einem Urning in F.) »Was anfangs bloß läppische Affectation gewesen sein mochte,« (gewiß nicht!) »ward allmählich zur andern Natur.« (War ohne Zweifel ursprüngliche Natur. Woher sollte ihm denn die »läppische Affectation« gekommen sein? Woher sonst, als von einer in ihm wohnenden weiblichen Natur? Etwas männliches ist doch solche »läppische Affectation« gewiß nicht.) »Seine Wohnung war phantastisch eingerichtet und glich dem Boudoir einer eleganten Dirne. Er kam förmlich ein um die obrigkeitliche Erlaubniß, sich weiblich zu kleiden und weiblich zu nennen. Er ward abschlägig beschieden. Dennoch hat man ihn später mehrmals Abends in Frauenkleidern betroffen. Eines Tages notificirte er sogar öffentlich unter dem Namen » Friederike Blank« seine Verlobung mit einem fremden Handwerker.«

Blank scheint sich gegen das künstliche Anerziehen männlichen Wesens entschieden gesträubt zu haben, und zwar mit besserem Erfolg, als von welchem muthmaßlich das Sträuben anderer Urninge begleitet sein würde. Die Umstände scheinen ihn nämlich dabei erheblich unterstützt zu haben. Als Kind wuchs er in der ausschließlichen Gesellschaft seiner Mutter auf, und nach deren Tode fühlte er sich durch niemanden beengt. In solcher Maße, wie es bei ihm geschildert wird, habe ich weibliches Wesen an einem Urning niemals wahrgenommen. – Mit anderen Urningen scheint Blank nie in Berührung gekommen zu sein.

§. 19. Wo Urninge einander kennen, legen sie einander meist weibliche Spitznamen bei, wie ich vermuthe im Gefühle ihres weiblichen Wesens, wenn auch wohl nur im unklaren und halbbewußten: z. B. »Laura«, »Georgine« (statt George), »Mathilde«, »Madonna«, »Königin der Nacht«. Sie nennen einander auch »Schwestern«; sie reden einander z. B. an: »liebe Schwester«.

§. 19 a. Seltsamerweise begegnen wir ganz ähnlichen Erscheinungen auch bei den Urningen des alten Griechenland und Rom.

Die Comiker Eupolis und Aristophanes zu Athen verspotten mehrere Individuen als Weiber oder als weibisch, z. B. den Philorenus, den Amynias, den Clisthenes. Amynias wird genannt »das Frauenzimmer die Amynia«. Diese Individuen scheinen nämlich Urninge gewesen zu sein. (Vergl. Meier in Ersch und Gruber's Encyclopädie, Band Pac.–Pal., 1837. S. 172. und die dort angeführten Citate.)

Der Römische Kaiser Antoninus Heliogabalus M. Aurelius Antoninus, röm. Kaiser (218-222), blieb auch als Kaiser Priester des Elagabal (Heliogabal) von Emesa, dessen Kult er in Rom propagierte. Ausführlicher zu ihm unten S. 69-72., Urning, sagte einst zu seinem Geliebten:

»Nenne mich nicht dominus, sondern domina.«

So erzählt uns Lampridius in den scriptores historiae Augustae Sammlung von Biographien römischer Kaiser (von Hadrian bis Numerianus). Aelius Lampridius ist einer von angeblich sechs Autoren der Historia Augusta..Lampridius meldet ferner von ihm: »Sein Gesicht formte er nach dem Muster, unter welchem man die Venus malt.« (»Vultum eodem, quo Venus pingitur, schemate figurabat.«)

Noch finde ich In der Gothofredischen Ausgabe des Corpus juris, in einer Note zu const. 31. Cod. ad legem Juliam de adulteriis. Gothofredische Ausgabe: Denis Godefroy (1549-1622) veröffentlichte 1583 die erste Gesamtausgabe des Codex Iuris Civilis. ein Citat des spät-Römischen Schriftstellers Salvianus Salvianus (von Marseille) (5. Jh.). Salvian redet nicht »sicher von Urningen«, sondern von Transvestiten. Vgl. Bleibtreu-Ehrenberg, Tabu Homosexualität S. 36. (»Salvian. de gubern.« lib. 7.: vermuthlich de gubernatione Dei), in welchem es [sicher von Urningen] heißt:

»... indem die Männer weiblichen Habitus annahmen und im »Einherschreiten die Weiber noch übertrafen, ... indem sie den »Kopf bedeckten mit weiblichen Schleiern und Bändern ...« (»... cum muliebrem habitum viri sumerent, et magis, quam mulieres, gradum fingerent, ... cum femineis tegminum illigamentis capita velarent ...«)

Also ein und dasselbe innere Gefühl der Weiblichkeit vor 1600 Jahren und heute, in Italien, bei einem Jüdischen Urning und bei den Deutschen Urningen. Sollte das nicht einen gemeinsamen tieferen Grund haben? Sollte das nicht beruhen auf einer specifischen Natureigenthümlichkeit, welche durch die Jahrhunderte und durch die Nationen hindurch gleichmäßig sich wiederholt?

§. 20. Das Angeborensein eines weiblichen Elements bei den Urningen glaube ich hiemit ziemlich unwiderlegbar bewiesen zu haben. Auch mit diesem Angeborensein aber ist euer oben in §. 2. angeführter Vordersatz umgestoßen. Dieses Angeborensein beweist nämlich folgendes:

daß die Natur, obgleich sie unseren Körper männlich entwickelte, trotz dessen geistig und weiblich entwickelt hat, nämlich an demjenigen Stück unseres geistigen Ich, welches nicht die geschlechtliche Liebe betrifft.

Entwickelt sie uns aber an dem einen Stück unseres geistigen Ich weiblich, so ist anzunehmen, daß sie uns auch an dem anderen Stück desselben weiblich entwickelte, nämlich an demjenigen, welches die geschlechtliche Liebe betrifft: d. i. daß sie unsere geschlechtliche Liebe von Weibern ab, auf Männer aber hin leitete.

Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn andere Gründe diese Annahme noch unterstützen.

Jedenfalls ist euer Vordersatz, auf welchen allein hin ihr unsere Liebe für naturwidrig erklärt, zertrümmert.

Den weiblichen Habitus der Urninge hättet ihr längst erkennen können, und zwar als eine ganz eigenthümliche, höchst auffallende, individuelle Erscheinung.

*

§. 21. Lasset uns, ihr meine Schicksalsgenossen, uns nicht schämen des weichen und gefühlvollen weiblichen Elements, das die Natur uns gab. Den Dioningen sollen wir es überlassen, ihren Ruhm zu suchen in männlichen Tugenden und Vorzügen. Mannesmuth und Mannesthat, männliche Energie, männliche Festigkeit, männliche Charaktergröße: das sind zwar würdige, aber nicht unsere Ziele. Lasset uns nicht unsere Kräfte vergeuden in dem vergeblichen Ringen, diese männlichen Vorzüge uns künstlich anzueignen.

Virgil Vergil ist »der unseren einer« wegen Ekloge 2, die mit den Worten beginnt:
Formosum pastor Corydon ardebat Alexis
Der Hirt Corydon war entbrannt für den schönen Alexis
 (der unseren einer) rief seinen Volksgenossen zu:

Excudent alii spirantia mollius aera;
Credo equidem; vivos ducent de marmore vultus;
Orabunt caussas melius, coelique meatus
Describent radio, surgentia sidera dicent:

Tu regere imperio populos, Romane, memento;
Hae tibi erunt artes, pacique imponere morem,
Parcere subjectis et debellare superbos. Aeneidoa lib. VI. 848-854. Aen. 6,848-854:
Andere mögen vielleicht das Erz noch atmender schmieden,
Mögen ein lebend Bild aus Marmorstufen hervorhaun,
Kundiger reden am Markt und Bahn und Kehre der Himmel
Messen im Zirkelschlag, Sternankunft kennend und kündend.
Sei du, Römer, gedenk des Reichs und übe die Herrschaft:
Das sind Künste, die dir anstehn. Bring Friede den Völkern,
Sei den Besiegten gelind, sei siegreich über den Stolzen. (Übersetzung R. A. Schröder)

So sind auch unsere Ziele andere, als jene männlichen Ziele der Dioninge. Worin wir uns auszuzeichnen haben, das ist, meine ich: Lauterkeit der Gesinnung, Milde und Menschlichkeit des Charakters, Treue, Edelsinn, Stärke im Dulden und im Entsagen, Aufrichtigkeit, die ohne falsch ist und Heuchelei nicht kennt, Menschenliebe, Mitleid und Mitfreude, Selbstverleugnung, Opferfreudigkeit und Barmherzigkeit:

Hae tibi erunt artes, hoc tu, Romane, memento!

IV.
Wahre Liebe, die der Urning zu einem blühenden jungen Manne empfindet.

§. 22. Ein Dioning, mit dem ich über urnische Liebe sprach, machte den Urningen zum Vorwurf, daß sie geschlechtliche Acte begingen, denen nicht nur alle Liebe mangele, sondern denen auch die Durchströmung des Körpers mit magnetischer Lebenskraft fehle, wie solche Kraft den Körper des Dionings in den Armen des Weibes durchströme.

§. 23. a.  Liebe. Allein auch unsere geschlechtlichen Acte in den Armen eines blühenden jungen Mannes sind durchaus nicht kalte und fühllose Geschlechtsacte, sondern wahre Liebesacte. Gerade an ihm empfinden wir dabei Liebeswonne, keineswegs etwa nur an uns selbst. Nicht nur unser subjectiver Zustand geschlechtlicher Aufregung oder der Liebesbedürftigkeit ist der Grund unsrer Liebeswonne, sondern vor allen Dingen er.

Auch wenn er uns nicht Liebesacte gewährt, ja, wenn wir nicht mit dem leisesten Gedanken an die Möglichkeit denken, daß er sie uns gewähre, ist er, sein ganzes Ich, der Gegenstand unsres Entzückens und die Quelle unnennbarer Lust und Wonne.

Daß es wahre Liebe ist, was der Urning für einen jungen Mann fühlt, darauf hättet ihr längst selber kommen können.

V.
Magnetische Durchströmung, die der Urning in der körperlichen Berührung mit einem blühenden jungen Manne empfindet und gleichsam schmeckt.

§. 24. b. Magnetische Durchströmung. In seinen Armen fühlen wir voll und ganz die magnetische Durchströmung. Wir fühlen unseren Körper durchströmt von einer belebenden, nervenstärkenden, wunderbaren Lebenskraft. Wir fühlen uns wie neu geboren.

Schon die geringste Einzelberührung wirkt ähnlich. Hievon redet auch Lucian. (Siehe unten §.36.e.) Er sagt:

»Und wenn er auch nur mit den Fingerspitzen ihn berührt, so durchläuft dieser Genuß doch den ganzen Körper.«

Diese Durchströmung empfinden wir absolut nur in seiner Berührung, nicht in weiblicher Berührung und ebenso wenig ohne alle Berührung: ohne alle Berührung selbst nicht im Zustande der höchsten geschlechtlichen Aufregung.

§. 25. In seinen Armen ist es uns, als sei unser ganzer Körper plötzlich in ein einziges Organ des Schmeckens verwandelt, fast möchte ich sagen gleichsam in eine einzige Zunge. Denn mit welchen Stellen unseres Körpers auch wir irgendwelches Stück seines Körpers berühren: stets ist es gleichsam der Geschmack einer köstlichen Speise, der Geschmack von Ambrosia und Nektar, was wir, und zwar eben an diesen Stellen unseres Körpers, wahrnehmen und gleichsam schmecken.

Ihr fragt: »mit welchem wirklichen Geschmack dieser Quasigeschmack Aehnlichkeit habe?«

Dies ist schwer zu sagen, da es sich eben nicht um einen wirklichen Geschmack handelt, und da der Quasigeschmack von dem wirklichen so verschieden ist, wie etwa der wirkliche Geschmack vom Geruch, also wie ein Sinn von einem anderen Sinn. Dieses Quasischmecken möchte ich darum auch wirklich für einen selbstständigen Sinn halten, für einen sechsten Sinn, da er nämlich dem Gefühl nach ferner steht, als dem Schmecken. Denn beim Fühlen verspüren wir nur in uns selber Schmerz oder sonstigen Reiz, den ein fremder Körper auf uns ausübt, z. B. der prickelnde Dorn oder ein Stück Eis oder ein heißes Eisen. Niemals schmeckt unsere Hand den Dorn oder das Eis oder das Eisen: während die Zunge die Erdbeere wirklich schmeckt und auch in unserem Falle etwas ähnliches vorgeht.– Natürlich rechne ich zu dem Quasigeschmack auch das Quasischmecken der dionisch-weiblichen Durchströmung. Dennoch will ich versuchen, die Frage zu beantworten. Eine entfernte Aehnlichkeit, meine ich, läßt sich auffinden, etwa wie sie hin und wieder zwischen Geschmack und Geruch aufzufinden ist, z. B. zwischen dem Geschmack und dem Geruch kräftiger Fleischbrühe, einer Erdbeere, der Spirituosen.

In der magnetischen Liebesdurchströmung also schmeckt dem Urning der Körper des Geliebten (als quasischmecken verstanden), nach meinem individuellen Urtheil, etwa so, wie dem sehr hungrigen und entkräfteten, dem eines Labsals sehr bedürftigen, wohlzubereitete, kräftige und würzige Fleischbrühe, oder ein wohlzubereiteter, kräftiger und duftender Braten schmeckt. Vielleicht lächelt ihr bei diesem Vergleich. Ich habe nichts dagegen. Nur bitte ich, daneben auch euch fragen zu wollen, ob ihr in den Armen eurer blühenden jungen Weiber nicht ganz ähnliches gleichsam schmeckt, und, wenn ja, mit welchem anderen Vergleich ihr mir antworten würdet, wenn ich euch fragte, mit welchem wirklichen Geschmack dieser euer Quasigeschmack Aehnlichkeit habe?

§. 26. In körperlicher Berührung mit einem Weibe, selbst mit dem blühendsten, fühlen wir von magnetischer Durchströmung nichts. Im Gegentheil, sobald diese Berührung irgendwie geschlechtlichen Charakter anzunehmen beginnt, empfinden wir ein gewisses unangenehmes Gefühl, welches schwer näher zu beschreiben ist, und welches uns gebieterisch befiehlt, der Berührung zu entfliehen.

§. 27. Diese magnetische Durchströmung scheint mir ein vollgültiger Beweisgrund zu sein für das Angeborensein urnischer Liebe. Denn eine naturwidrige Befriedigung des geschlechtlichen Liebestriebes würde schwerlich von dieser wohlthuenden Durchströmung begleitet sein, welche lediglich der Körper des blühenden jungen Mannes im Urning hervorbringt.

Ferner, wäre der Liebesgenuß in den Armen des jungen Mannes dem Urning naturwidrig, so würde schwerlich bei weiblicher Berührung eine unangenehme Empfindung in ihm eintreten.

VI.
Idealität der urnischen Liebe.

§. 28. Unsere Liebe ist, unter gleichen Bedingungen, ebenso ideal und erhaben, als die eure und als die der Weiber. Gleich der euren und gleich der weiblichen Liebe ist sie von einer tiefen Liebessehnsucht begleitet. Sie ist in gleichem Grade innig, zart, tiefgefühlt, edel, entsagend und duldend, aufopferungsfähig und opfermuthig. Mir persönlich scheint sie in allen diesen Stücken die eure noch zu übertreffen und der weiblichen Liebe zur Seite zu stehen: namentlich in ihrer Innigkeit, in ihrer Fähigkeit zu dulden, in ihrem Edelsinn und in ihrem Opfermuth. Ganz entschieden ist sie demuthvoller und hingebender, als männliche Liebe, und steht hier ganz entschieden der weiblichen gleich.

Die urnische Liebespoesie athmet eine ganz andere Innigkeit, eine ganz andere Hingebung des ganzen Ich an das geliebte Wesen, als die dionische.

§. 29. Dies im wesentlichen zu constatiren, ist von erheblicher Wichtigkeit für meine Beweisführung:

Eine naturwidrige Liebe würde schwerlich innig, zart und von Sehnsucht durchweht sein. Ja, eine naturwidrige Befriedigung des geschlechtlichen Liebestriebes wird schwerlich überhaupt von Liebe begleitet sein. Naturwidrige Liebe ist ein Widerspruch in sich selbst. Eine naturwidrige Liebe giebt es nicht. Wo wirklich Liebe ist, da ist auch Natur.

Um jenes zu constatiren, werde ich dem Leser in einer gleichzeitig erscheinenden Schrift einige Proben urnischer Liebespoesie, wie auch von Schilderungen urnischer Handlungsweise, vorlegen. »Sacrum nemus (Heiliger Hain): die von Ulrichs zunächst als »Dritte Schrift über mannmännliche Liebe. Poesien« und später (III. Vindicta S. XXIII) als sechste Schrift (vgl. auch V. Ara spei S. 81) und in VII. Memnon S. 89 als »nächstes (= achtes) Heft« angekündigte Sammlung ist nie erschienen.« werde ich diese Schrift nennen. Die einzelnen Proben entnehme ich den Schätzen des Griechischen und Römischen Alterthums. Da mir aus der neueren Literatur solche leider nicht vorliegen, so vermag ich nur aus meiner eignen Mappe einige kleine Aufzeichnungen der Empfindung anzufügen, die ich bis dahin für die Oeffentlichkeit nicht bestimmt hatte.

VII.
Unsere eigenen Wahrnehmungen über unsere inneren Zustände. Unser Zeugniß darüber.

»Ich bin ein Nordpol,
Der den Nordpol seufzend zurückscheucht:
Gleichwohl zu ihm hin,
Nordpol zu Nordpol,
Unerforscht,
Doch unwiderstehlich, gezogen.«

N. Num.

§. 30. Mit dem Eintritt der Pubertät erwachte unsere geschlechtliche Liebe sofort schon als Liebe zum männlichen Geschlecht. Es geschah ohne das geringste Zuthun von unserer oder von äußerer Seite. Bis zur Stunde haben wir ununterbrochen nur für Männer geschlechtliche Liebe empfunden, nämlich für blühende und schöne junge Männer.

Zu körperlichen Berührungen mit einem solchen jungen Manne fühlen wir uns hingezogen durch eine unsichtbare, wunderbare, außerordentlich starke, Gewalt, welche in uns wohnt, gleichsam magnetisch hingezogen: und zwar zu geschlechtlichen Berührungen mit ihm, wie zu nicht geschlechtlichen, z. B. zu bloßem Händedruck, wie auch zu Liebkosungen, wie Kuß oder Berührung von Wange mit Wange. Alle Berührungen mit ihm gewähren uns einen wunderartigen Genuß.

§. 31. Niemals, auch nicht einen einzigen Augenblick lang, empfanden wir geschlechtliche Liebe für Weiber. Selbst das blühendste und schönste junge Mädchen läßt uns völlig kalt. Vor einer geschlechtlichen Berührung mit dem Körper eines weiblichen Wesens fühlen wir uns vielmehr durch eben jene unsichtbare Gewalt, welche in uns wohnt und uns zu jungen Männern hinzieht, zurückgescheucht und zurückgestoßen.

§. 32. Zeigt der Traum uns Liebesbilder, so gaukelt er uns stets männliche, niemals weibliche, Gestalten vor. So war es vom ersten Auftreten der sich entwickelnden Pubertät an; so ist es bis zur Stunde geblieben. Schon unser erster Liebestraum bildete eine männliche Gestalt. Ich glaube, dieser Eine Punkt ganz allein beweist schon, daß unsere urnische Liebe uns angeboren sei.

§.33. Die Analogie der Magnetnadel trifft zu nicht nur für euere, sondern auch für unsere Liebe. An Magnetnadeln, wenn sie schwebend und leicht beweglich hangen, wird der ungleiche Pol zu einem ungleichen Pol durch eine unsichtbare Naturkraft sichtbar hingezogen. Der gleiche Pol dagegen wird von einem gleichen Pol zurückgestoßen und weicht jeder Berührung desselben aus, ja weicht schon vor der bloßen Nähe desselben zurück. Ich sage: »von einem ungleichen Pol angezogen und von einem gleichen abgestoßen« und finde darin Analogie mit uns. Denn wir tragen weibliches Element in uns, nicht männliches. (Siehe oben §. 12 ff.) Männer sind uns darum nur scheinbar gleiche, in Wahrheit ungleiche Pole, Weiber gleiche Pole.

Da umgekehrt ein junger Dioning einen Urning einfach für einen Mann hält, so tritt der eigenthümliche, für uns sehr unglückliche, Fall ein, daß, während der Dioning dem Urning ungleicher, also anziehender, Pol ist, der Urning dem Dioning gleicher, also abstoßender, Pol ist. Der anziehende wird (fühlt sich) abgestoßen und der abstoßende wird (fühlt sich) angezogen. Wider unseren Willen, seufzend, stoßen wir ab. Wider oder doch ohne seinen Willen zieht auch der Dioning uns an.

Im Liebesbündniß zwischen Urning und Dioning findet indeß dieser Conflict seine Versöhnung. Es ist ja Liebe, was für ihn der Urning fühlt! Auch zwischen Dioning und Weib kommen ähnliche Conflicte täglich vor. So sagte Ovid Ovid: Heroides (Briefe der Liebenden) 15 (21), 96 (Sappho an Phaon):
... daß du mich liebst, bitt ich nicht, laß dich nur lieben von mir.
(Übersetzung Viktor von Marnitz).
zu seiner Geliebten:

»Non ut ames oro; verum ut amare sinas.«

§. 34. Die Dioninge haben ihren Scharfsinn versucht in Auffindung von Entstehungsursachen der urnischen Neigung. Bald soll Uebersättigung am Genuß des Weibes Ziemlich verbreitete Ansicht., bald Mangel an diesem Genuß Nach Beccaria, dei delitti e delle pene, verbis »L’Attica venere« sq. Cesare Beccaria (1738-1794) setzte sich für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe ein. In seinem Buch »Über Verbrechen und Strafen« (Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und hg. von Wilhelm Alff [1966]) wird im Kapitel XXXI: »Schwer erweisliche Verbrechen« zwischen Ehebruch und Kindesmord die ›attische Liebe‹ abgehandelt (S. 128):
Die attische Liebe, so streng von den Gesetzen bestraft und so leichtfertig den Qualen der die Unschuld besiegenden Folter unterworfen, hat weniger ihren Grund in den Bedürfnissen des vereinzelt lebenden freien Menschen als in den Leidenschaften des in der Gesellschaft lebenden unfreien Menschen. Sie bezieht ihre Stärke nicht so sehr aus der Übersättigung durch die Lust als aus einer Erziehung, die damit beginnt, die Menschen für sich selbst nutzlos werden zu lassen, um sie anderen nützlich zu machen, in jenen Häusern, wo die glühende Jugend dicht zusammengedrängt wird und wo, da jedem anderen Verkehr ein unüberwindlicher Damm entgegensteht, die ganze Kraft der sich entwickelnden Natur ohne Nutzen für die Menschheit und vorzeitig sich verzehrt.
, bald Gewöhnung an männlichen Genuß, sie erzeugen. Bald soll sie als Folge körperlicher oder geistiger Krankheit zurückgeblieben sein. Alle diese angeblichen Erzeugungsursachen scheitern an der Einen Thatsache, daß die urnische Liebe sofort mit dem Eintritt der Pubertät erwacht. Denn jene Ursachen könnten sie ja auch in jedem beliebigen späteren Lebensalter erzeugen.

§. 35. Die erzählten inneren Vorgänge können ich für meine Person, und tausend andere Urninge mit mir für ihre Person, mit heiligen Eiden bekräftigen.

Schwerlich werdet ihr, bei einigem Nachdenken, den Muth haben, dies alles für absichtliche Unwahrheit zu erklären, oder auch nur für Selbsttäuschung; wie letzteres von Einer Seite mir gegenüber allerdings geschehen ist. Mit gleichem Recht könnten wir unsererseits für Selbsttäuschung erklären, daß ihr zu Weibern euch geschlechtlich hingezogen fühlt und daß ihr im Liebestraum weibliche Bilder erblickt. Ich meine nämlich, das alles fühle man so klar und sicher, im Wachen wie im Träumen, daß darüber Zweifel oder Täuschungen gar nicht obwalten können.

Der Selbsttäuschung nahe steht die Geistesstörung, die ein Arzt, als ich ihm meine Neigung mündlich auseinandersetzte, anfangs, und etwa bis zur Mitte unserer Unterredung, bei mir voraussetzte.

§. 36. Mit diesem unserem Zeugniß aus der Jetztzeit stimmen überein die Zeugnisse der Urninge, die vor 2000 Jahren lebten. So sagt z. B.

a) Ibycus Ibykus: Griech. Lyriker (6. Jh. v. Chr.), der Griechische lyrische Dichter, in einem Fragment über sein persönliches urnisches Lieben, welches uns Athenäus aufbewahrt hat:

»Brennend und heftig bewacht Eros mein Herz vom Knabenalter an«
(»παιδόϑεν«).

(Athenaeus deipnosophistarum XIII. p. 601, c. [al. XIII. cap. 76.])

Daß Ibycus aber urnisch liebte, geht aus seinem Liebesgedicht an den jungen Euryalus hervor, welches ebenfalls Athenäus mittheilt (a. a. O. p. 565. [al. cap. 17.]). Ueber Ibycus' urnische Liebe siehe auch Suidas Suidas (Suda): byzantinischer Lexikograph (um 1000) bei Meier (a. a. O. S. 157.).

b) Im Idyll »Έρατὴς« (Idyll 23., al. 28.) schildert Theokrit Theokrit: griech. Dichter (3. Jh. v. Chr.). Das Gedicht (Idyll) 23 (»Die Rache des Eros«) wird von Ulrichs häufig zitiert. Vgl. Theokrit, Sämtliche Dichtungen. Übertragen und hg. von Dietrich Ebener (1973) S. 164-167., selber Urning, einen unglücklich liebenden Urning. Von dessen Geliebtem sagt er (V. 4. 5.):

»Κοὑκ ᾔδη τὸν Ερωτα, τίς ἦν ϑεὸς, ἡλίκα τόξα
Χεραὶ κρατεῖ, πῶς πικρά βέλη ποτὶ παιδία βάλλει.«

»Und kannte den Eros nicht, welch' ein Gott er sei, was für Bogen
»Er in den Händen halte, wie bittre Pfeile er auf die Jünglinge werfe.«

Παιδία bedeutet gerade ganz junge Männer.

c) Plato Platon, Gastmahl 191d/192b., Urning, sagt: » So lange sie noch Knaben sind, lieben sie die Männer und finden ein Vergnügen daran, neben den Männern sich zu lagern und sie zu umschlingen; und es sind dies die tüchtigsten unter den Knaben und Jünglingen ... Sind sie aber Männer geworden, so üben sie Knabenliebe.« (Gastmahl, Prantl'sche Uebersetzung S. 33 u. 34.)

d) Plato sagt ferner: »Er verlangt danach, ihn zu sehen, zu berühren, zu liebkosen, an seiner Seite zu liegen.« (Phädrus cap. 36. al. §.80.)

e) Lucian Lukian (2. Jh.). Der ihm zugeschriebene Dialog »Erotes« (›Zweierlei Liebe‹), von Ulrichs häufig zitiert, ist ein Streitgespräch über die Liebe zu Frauen und zu Männern. Vgl. Erotes. Ein Gespräch über die Liebe von Lukian. Übersetzt und eingeleitet von Hans Licht (1920). (ἔρωτες cap. 53.) Die gewöhnlich dem Lucian zugeschriebenen ἔρωτες werden von anderen dem Aristänetus zugeschrieben. Jedenfalls ist ihr Verfasser Urning. läßt den Theomnestus sagen:

»Das ist nicht sehr lockend, mit einem blühenden jungen Manne den Tag hinzubringen und, wenn die Schönheit in die Augen fließt, des Tantalus Qualen zu erdulden; wenn zu schöpfen gewährt ist, dennoch den Durst zu ertragen Des Tantalus Qualen zu ertragen, ist heute täglich unser Schicksal. Mit siegender Unwiderstehlichkeit fließt die Schönheit in unsere Augen: unser Loos aber ist, gleich dem Tantalus, zu dürsten, ohne auch nur mit einem Tropfen von Labsal unsere Lippen benetzen zu können.. Ihn anzusehen, ihm gegenüber zu sitzen, ihn reden zu hören: bei den Göttern, das ist nicht genug! Hat einer angeschaut, so sehnt er sich, dem jungen Manne sich zu nähern und ihn zu berühren. Und wenn er auch nur mit den Fingerspitzen ihn berührt, so durchläuft dieser Genuß doch den ganzen Körper. Dann sehnt er sich nach einem Kuß ...«

f) Von vielen historisch bekannten Urningen endlich steht es fest, daß sie schon sehr jung, nämlich nach kaum erreichter Pubertät, urnische Liebe geübt haben, so von den Kaisern Nero und Antoninus Heliogabalus und von Heinrich III., König von Frankreich. Dieser war noch fast Knabe, als er schon den Herzog von Guise liebte. Plato erzählt in seinem »Lysis« ebenfalls von ganz jungen Bürschlein, welche schon vor Liebe schmachteten gegen einen oder den anderen besonders schönen unter ihren Altersgenossen.

VIII.
Uebereinstimmung in charakteristischen Einzelheiten zwischen der Liebe der Weiber und der der Urninge.

§. 37. Von den unbewußten Rücksichten, welche die Neigung der Weiber befolgt, sagt Arthur Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe »Die Welt als Wille und Vorstellung.« 3. Auflage. 1859. Band II. S. 621. 622. folgendes, was übrigens, auch ohne Schopenhauer, ein jeder selbst beobachten kann:

»Die Weiber geben dem Alter von 30-35 Jahren den Vorzug vor dem der Jünglinge, die doch die höchste menschliche Schönheit darbieten.

Meistens sehen sie wenig auf Schönheit des Gesichts.

Hauptsächlich gewinnt sie des Mannes-Kraft und Muth.

Durchgängig werden sie angezogen von den Eigenschaften des Charakters oder des Herzens, als: Festigkeit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte. Sie lieben oft häßliche Männer, nie aber unmännliche.

IntellectueIle Vorzüge üben direkte und instinktmäßige Gewalt über sie nicht aus. Unverstand des Mannes schadet bei Weibern nicht. Ueberwiegende Geisteskraft, oder gar Genie, könnte eher ungünstig wirken. Daher sieht man Weiber oft häßliche, dumme und rohe Männer lieben. Wie oft sieht man es nicht: ein Mädchen, zart empfindend, fein denkend, gebildet, ästhetisch, liebt einen rohen und beschränkten, aber kräftigen Mann.«

Schopenhauer führt dabei an (irre ich nicht, Worte Horaz'):

Sic visum Veneri ; cui placet impares
Formas ac animos sub juga ahenea
Saevo mittere cum joco. Sic visum Veneri: Horaz, Carmina 1, 33, 10-12:
Venus treibt es nun so! Grade, was sich nicht schickt,
Nicht an Seele und Leib, spannt sie ins gleiche Joch,
In das eh(e)rne, und lacht dazu.
(Übersetzung W. Schöne)

Ferner sagt er, von der Liebe des Mannes wie des Weibes A. a. O. S. 623.:

»Jeder liebt, was ihm fehlt. Damit eine wirklich leidenschaftliche Neigung entstehe, ist etwas erforderlich, was sich mir durch eine chemische Metapher ausdrücken läßt: beide Personen müssen einander neutralisiren, wie Säure und Alkali, zu einem Mittelsalz.«

§. 38. Fast alles dies gilt haarklein und bis in's einzelne herab auch von des Urnings Liebe zu einem jungen Manne. Unser Geliebter ist ganz und gar auch unsere Ergänzung, unsere »Säure« oder unser »Alkali«. (In geistigen Beziehungen sind in der That auch wir es ihm. Auch wird ihm dies unter Umständen sogar eine Art wohlthuender Befriedigung gewähren; namentlich dann, wenn er ein engeres Liebesbündniß mit uns eingegangen ist.)

Wären wir nicht von Natur weibliche Männer, sondern, wie ihr wähnt, wahre Männer, die durch eigne Wahl auf Abwegen gehen: so würden vermuthlich doch mädchenhafte junge Männer uns mehr anziehen, als männliche. Uns ziehen aber, ganz wie die Weiber, nur wahrhaft männliche junge Männer an. Unmännliche lassen auch uns kalt.

»Uebt auch ein Urning auf einen Urning geschlechtliche Anziehung aus?« Wenig oder gar nicht In der Neuausgabe von 1898 (S. 46) merkt Hirschfeld an: »Ist nach neueren Forschungen doch der Fall, wenigstens gehören Liebesbündnisse zwischen urnisch veranlagten Personen durchaus nicht zu den Seltenheiten.« Auch Ulrichs hat seine Meinung bald geändert; vgl. IV. Formatrix S. 60.; wenigstens sobald das weibliche Element sich zu erkennen giebt. Weßhalb? ist klar aus dem vorstehenden. Ihm fehlt die echte Männlichkeit.

Auch auf Weiber wird ein Urning nur geringe oder gar keine geschlechtliche Anziehung ausüben.

§. 39. Das Alter von 30-35 Jahren ist zwar schwerlich bei irgend einem von uns noch liebeerweckend. Allein hier scheint Schopenhauer in der That auch zu irren. Die meisten Ehen allerdings, die eingegangen werden, werden mit Männern dieses Alters eingegangen. Aber was beweist das für die leidenschaftliche Liebe der Mädchen? Thatsache ist, daß die Mädchen ihre Liebesverhältnisse nur mit jungen Burschen von etwa 18 oder 20-26 Jahren anknüpfen. Und in diesem Alter sind auch uns die jungen Männer am anziehendsten. Diesen Urning reizt ein junger Mann von 20-23 Jahren, jenen einer von 23-26 Jahren, wieder einen anderen einer von 18-20 Jahren.

Mädchen und uns reizen aber allerdings auch schöne junge Männer. Nur ist die Liebe zu schönen, d. i. von Antlitz und namentlich von Augen schönen, jungen Männern mehr schwärmerisch-ästhetischer Art, die zu nicht schönen, aber durch üppigen Körperbau vorzüglichen, mehr sinnlicher.

§. 40. Auch uns reizt des jungen Mannes Charakter, männliche Kraft und männlicher Muth; und intellectuelle Vorzüge üben auch auf uns durchaus keine Gewalt aus. Auch bei uns schadet Unverstand des jungen Mannes zur Liebe nicht. Mir sagte einmal ein sehr gebildeter Urning: »Ich wundere mich über mich selbst. Wie lausche ich jedem seiner Worte mit wahrer Andacht; wie ist ein jedes mir ein Genuß, nur deßhalb Genuß, weil es von ihm kommt, auch wenn er von Dingen spricht, die mir die gleichgültigsten von der Welt sind, über Pferdegeschirr und Commißbrot und Säbelputzen.« Von mir konnte ich ihm nur das Gleiche bestätigen. Roh, häßlich, beschränkt und dumm finden wir, wenn wir lieben, den Geliebten freilich sicherlich niemals. Auch beim liebenden Mädchen wird dies schwerlich je der Fall sein. Einem unbefangenen Dritten dagegen mag er hin und wieder so erscheinen. Dem Dritten mag dies auch ein »jocus saevus Veneris« siehe das Horaz-Zitat S. 28. dünken. Allein dabei übersieht er, daß, wie Schopenhauer richtig sagt, »jeder liebt, was ihm fehlt«, daß Liebender und Geliebter Alkali und Säure ist, und daß von einem kräftig und blühend gebauten Körper eine belebenderer magnetischer Strom ausgeht, als von einem schwächlichen, mag auch der Geist, welchen dieser schwächliche Körper beherbergt, noch so klug und gebildet sein.

§.41. Dem entsprechen ganz folgende Verse eines Urnings Der Autor ist Ulrichs selbst.:

Lieber ist mir ein »Bursch«, vom Dorf, mit schwellenden Gliedern,
Als das feine Gesicht eines blassen städtischen »Jünglings« (d. i. eines unmännlichen).
Lieber ist mir ein Reiter zu Rosse oder ein Jäger,
Und der Matrose an Bord.

Schon das Wort »Jüngling« ist uns nicht männlich genug.

§. 42. Noch eine andere überaus seltsame Uebereinstimmung findet sich. Bekannt ist das Wort, das man einer jungen Berlinerin in den Mund legt: »der Civilehe ziehe sie die Militairehe vor.« Bekannt ist auf Bällen der Verdruß der Civiltänzer über die Triumphe, die bei den jungen Damen die Officiere zu erringen pflegen. Dorfgeschichten und Volksgedichte feiern die Eroberungen in den Dörfern einquartirter Husaren. Worin die bezaubernde Uebergewalt der Soldaten für das Mädchenherz ihren Grund habe, ist mir nicht ganz klar. Zu leugnen ist sie nicht. Der bunte Anzug ist es ganz gewiß nicht. Mir scheint es mehr die größere Männlichkeit der ganzen Erscheinung zu sein.

Ganz dieselbe Uebergewalt findet nun auch ganz entschieden beim Urning statt. Jene sehr offenherzigen Verse melden weiter:

Doch unter allen die liebsten:
Das sind mir die Soldaten, die jungen stattlichen Krieger;
Sei es die hohe Gestalt blauäugiger schmucker Gardisten,
Oder blonde Husaren, mit blühendem Flaum auf den Lippen,
Die mit kräftigem Schritt und klirrendem Sporn mir begegnen,
Und nicht wissen, wie schön sie doch sind, und wie mächtig ihr Anblick.

IX.
Unmöglichkeit, urnische Liebe durch eigene Willenskraft zu erzeugen.

§.43. Ich halte es geradezu für eine Unmöglichkeit – und, aufmerksam gemacht, werdet ihr mir vielleicht beistimmen – daß jemand, der für Liebe zu Weibern empfänglich ist, durch eigene Willenskraft die Richtung seiner Liebe umlenke auf Männer, oder daß er Liebe zu Männern, oder auch eine Empfänglichkeit für Liebe zu Männern, durch eigne Willenskraft in sich erzeuge.

Daß auf diesem Wege urnische Liebe entstehe, scheint ihr nämlich anzunehmen. Vielfach wenigstens ist es als Hypothese aufgestellt worden. Z. B. von Meier (a. a. O.). Daß ein Sokrates urnisch geliebt habe, scheint ihm einer Entschuldigung bedürftig. Diese giebt er, indem er sagt: »In seinem Vaterlande fand Sokrates die Knabenliebe einmal vor, faßte sie als eine Landes- Sitte auf und schloß sich ihr an. (S.179.) Er meint also, es sei Sitte der Athenienser gewesen, junge Männer statt Mädchen zu lieben, d. i. ihre geschlechtliche Liebe von Weibern auf Männer umzulenken, oder Liebe zu jungen Männern in sich zu erzeugen, und auch Sokrates habe dies gethan. Von den Stoikern ferner sagt er: » Dem Beispiele ihres Stifter« (d. i. Zeno's, welcher urnisch liebte,) »sind die Stoiker nur allzu sehr gefolgt.« (S. 171.) Dann sagt er (S.188): »Geistigen Umgang gewährten in Athen anständige Frauen nicht. Ist es daher zu verwundern, daß die Männer ihre schönste, ihre geistigste, Neigung gebildeten Hetären oder der bildungsfähigen männlichen Jugend zuwandten?« Selbst Arthur Schopenhauer, von dessen sonstiger Ansicht weiter unten die Rede sein wird, scheint anzunehmen, wenigstens ausnahmsweise entstehe urnische Liebe auf diesem Wege. Er sagt: »Bei den Griechen mag Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine solche Ausnahme herbeigeführt haben.« (»Die Welt als Wille und Vorstellung.« 3. Auflage. 1859. Band II. S. 647.)
Ebenso Ovid, Dioning. Von Orpheus sagt er (metamorph. X. 83.):
Ille etiam Thracum populis fuit auctor, amores
In teneros transferre mares eitraque juventam
Aetatis breve ver et primos carpere flores. Ovid, Metamorphosen 10, 83-86:
Auch hat er die thracischen Völker gelehrt, die Liebe auf zarte Knaben zu wenden und so die ersten Früchte des kurzen Lebensfrühlings noch vor der Schwelle der Mannheit zu pflücken. (Übersetzung E. Rösch)

Wer diese Hypothese aufstellte, scheint indeß seine eigenen Worte schwerlich ernstlich erwogen zu haben.

§.44. Daß jemand unter euch durch seine Willenskraft den Entschluß in sich hervorbringe, seine Liebe von Weibern auf Männer umzulenken oder Liebe zu Männern in sich zu erzeugen: dies allein schon halte ich für eine Unmöglichkeit. Ich frage euch, ob ihr dies vielleicht für möglich haltet? Versucht es einmal an euch selbst, ob es euch möglich sei, einen solchen Entschluß zu fassen? Der Erzeugung auf gedachtem Wege müßte ein solcher Entschluß aber doch vorangehen.

§.45. Aber ich will einmal annehmen, jemandem unter euch sei es in der That gelungen, jenen Entschluß zu fassen. Wie soll er es nun anfangen, diesen Entschluß auszuführen? Von den Ausstellern der Hypothese hat niemand auch nur versucht, diese so naheliegende Frage zu beantworten. Worin besteht das Mittel der Ausführung des Entschlusses? Vielleicht etwa wiederum in der Willenskraft?

§. 46. Prüft euch einmal selber. Seid ihr denn durch euere Willenskraft Herr über euere Liebe? Könnt ihr durch euere Willenskraft Liebe in euch erzeugen? Ich glaube nicht. Durch euere Willenskraft könnt ihr nichts anderes erzeugen, als euere Entschlüsse und euere Handlungen, und auf nichts anderes, als auf dies, könnt ihr durch sie einwirken. Furcht und Hoffnung z. B., Freude und Schmerz, Ueberzeugung, Zweifel u. s. w., sind Dinge, auf die ihr durch euere Willenskraft nicht einwirken könnt. Ihr könnt nicht nach euerem freien Belieben Hoffnung hegen, Freude empfinden, oder eine Ueberzeugung fassen; ihr könnt nicht willkührlich Angst umlenken in Hoffnung, Schmerz in Freude, oder die Ueberzeugung, »zwei mal zwei sei vier«, umlenken in die Ueberzeugung, »zwei mal zwei sei fünf«.

§.47. Ebensowenig aber, wie über diese Dinge, ist der Mensch Herr über seine geschlechtliche Liebe.

Hat wohl ein einziger unter euch, nach desfalls gefaßtem freiem Entschluß, durch seine Willenskraft Liebessehnsucht zu einem blühenden jungen Mädchen in sich erzeugt?

Oder habt ihr etwa, nach gepflogener Erwägung und dann erfolgter Wahl zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht, euch für das weibliche entschieden und darauf hin die Empfänglichkeit für Liebe zu Weibern durch euere Willenskraft in euch erzeugt?

Ihr werdet das selber nicht behaupten wollen. Eine in euch wohnende, unsichtbare, euch beherrschende Kraft war es, die euch, ganz ohne eueren Entschluß und ganz ohne euch zu fragen, zum weiblichen Geschlecht im ganzen, so wie zu einzelnen blühenden jungen Mädchen, hinzog. Euere Willenskraft dürfte gänzlich unschuldig daran gewesen sein.

§. 48. Läge es in der Willenskraft des einzelnen Dionings, Liebe in sich zu erzeugen, so würde der unverderbte dionäische Jüngling ohne Zweifel auch lieber zu einem weniger schönen alternden Frauenzimmer, das er als besonders achtungswerth, gebildet etc., kennt, Liebe in sich erzeugen, als zu einem blühenden jungen Mädchen, dessen geistige Eigenschaften er noch gar nicht kennt. Die Erfahrung lehrt das Gegentheil: daß nämlich selbst den unverdorbensten die achtungswerthe alte Jungfrau kalt läßt, und daß es zu dem blühenden jungen Mädchen ihn hinzieht, schon nachdem er dasselbe zum ersten Mal gesehen hat.

Wie oft kommt es ferner vor, daß ein Ehemann seine Gattin, die er achtet, gern auch lieben, heiß lieben, möchte, daß er indeß bei dem besten Willen durchaus nicht im Stande ist, geschlechtliche Liebessehnsucht zu ihr in sich hervorzulocken.

Candidaten der Theologie, die feurig liebend sich verlobten, mußten oft sieben lange Jahre auf eine Pfarre warten und auf die Möglichkeit der Hochzeit. Wie mancher unter ihnen aber mußte, als endlich der langersehnte Tag kam, schmerzlich fühlen, daß von der himmlischen Süßigkeit der Liebe der ersten Maienzeit bereits ein gut Theil dahingeschwunden sei. Wie unendlich gern riefe er vielleicht den früheren Grad der Liebe in sein Herz zurück. Was meint ihr: sollte ihm, mit aller erdenklichen Anstrengung seiner Willenskraft, dies wohl gelingen?

Sollte also ein Dioning im Stande sein, Liebe zu Männern durch seine Willenskraft in sich zu erzeugen, während ihm dies nicht einmal Weibern gegenüber möglich ist?

Kein Mensch möchte im Stande sein, eine geschlechtliche Liebesempfindung oder Liebesempfänglichkeit, die einmal nicht in ihm wohnt, durch seine Willenskraft in sich zu erzeugen.

X.
Unausrottbarkeit der urnischen Liebe.

§. 49. Gleichwie es nun aber euch unmöglich ist, durch euere Willenskraft euch in Urninge umzuwandeln; ebenso ist es auch uns unmöglich, durch unsere Willenskraft uns in Dioninge umzuwandeln. Es ist uns absolut unmöglich, unsere weiblichen Triebe in männliche umzuwandeln. Ja, es ist uns absolut unmöglich, durch unsere Willenskraft unsere weiblichen Triebe in uns auch nur auszurotten.

§.50. Man erklärt uns für infam; mau verstößt uns aus Umgang und Geselligkeit, man verstößt uns aus der menschlichen Gesellschaft; man verhängt über uns Criminaluntersuchungen und Criminalstrafen, man wirft uns in's Gefängniß; man raubt uns unsere Existenz; man vertreibt uns aus einer Stadt und man vertreibt uns aus der anderen; man gestattet uns keine Ruhestätte, auszuruhen von den Verfolgungen; man jagt uns wie ein gehetztes Wild. Es ist wahrhaft, als ob ihr uns gegenüber aller Menschlichkeit baar wäret.

Im engeren Kreise, in der Familie, verstößt man uns. Man droht uns mit Gottes ewigem Gericht. Mitunter auch droht man nicht und verstößt uns nicht. Aber man beschwört uns bei allem, was uns heilig ist, bei allem, was unserem Herzen das theuerste ist, ja man bittet uns liebevoll – und unser Herz ist weich – Männer nicht zu lieben: eine Mutter selbst bittet! Wenn irgend etwas in der Welt, so müßten diese liebevollen Bitten und der Schmerz der theuersten auf Erden Wirkung haben: – wenn es menschenmöglich wäre, um was man bittet!

§. 51. Und jene Verfolger? In den Falten ihrer Toga tragen sie Verfolgung und Frieden. Ja, sie bieten uns Frieden: und in der That unter welch' günstigen Bedingungen! Einstellung aller Peinigung und Verfolgung, Aufhebung der verhängten Infamirung Nicht sowohl daß, man uns beschimpft, als vielmehr mit welcher Gehässigkeit man uns beschimpft, zeigt ein Beispiel, welches mir so eben während des Drucks bekannt wird. Herr Dr. v. ... zu Frankfurt steht dort in dem Ruf, im Jahre 1862 in ... für einen urnischen Liebesact geringfügiger Art vierzehntägige Gefängnißstrafe erlitten zu haben. Diese Bestrafung ward seiner Zeit von allen Blättern mitgeteilt, zum Theil mit einem gewissen unverkennbaren Behagen. Unter dem 26. November 1863 meldet nun das »Frankfurter Journal« unter »localen Nachrichten«:
»Heute Abend erschien Herr Dr. v. ...« (Name genannt) »auf der »Redaction des Blattes, sich an den Redacteur wendend. Er wurde »indeß von diesem aufgefordert. sofort das Zimmer zu verlassen; »worauf er sich auch sofort entfernte.«
Es war dem Herrn Redacteur also nicht genug, dem Herrn v. ... einen Schimpf anzuthun: nein, er konnte es auch nicht lassen, vor aller Welt die wohlfeile Heldenthat zu feiern, die er an einem Schwachen verübt, der – für den Augenblick – seiner Waffen beraubt ist!
Wir haben nicht erfahren, daß auch nur eine einzige Stimme dieses Verfahren öffentlich desavouirt habe. (Vergl. unten §. 91 c. ), Ulrichs hat später klargestellt, daß Johann Baptist Schweitzer (1833-1875) gemeint ist, den er wahrscheinlich persönlich kannte. Schweitzer wurde im August 1862 vorgeworfen, einen noch nicht 14jährigen Jungen zu unsittlichen Handlungen verführt zu haben. Weil der Junge weglief, wurde Schweitzer nur wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Trotz dieses Vorfalls machte Schweitzer politisch Karriere und wurde 1867 Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und zog noch im gleichen Jahr als erster sozialdemokratischer Abgeordneter Europas in den Reichstag des Norddeutschen Bundes ein. – Ulrichs hatte sich mit dem Gedanken getragen, im Falle Schweitzer zu intervenieren; vgl. III. Vindicta S. XVII.
, Aufnahme in den Kreis der geehrten Dioninge, Theilnahme an politischen Rechten, an Staatsgeschäfften, an Wahlen und Ehrenämtern, Ruhe, Lebensglück, Existenz, Ehre. Wie winkt uns also das Glück!

»Frohlockend möcht ich rufen:
»Herz, was begehrst du mehr!«

Alles gegen eine kleine Leistung von unserer Seite, von der ihr ohne weiteres vorauszusetzen scheint, daß es in der Welt nichts leichteres gebe, als sie zu vollziehen, ja rücksichtlich der ihr euch die Vorfrage noch gar nicht einmal gestellt zu haben scheint: »Ist ihre Vollziehung denn überhaupt auch möglich?« »Möglich selbst mit der rasendsten Anspannung aller geistigen Kräfte?« Welch' eine Leichtfertigkeit von euch!

Alles nämlich für den Fall: daß wir »unsere Neigungen ablegen«; daß wir statt Männer hinfort Weiber lieben, oder daß wir in uns wenigstens die Liebe zu Männern auslöschen.

§. 52. Das alles aber, Verfolgung und Frieden, Drohung und Bitte, war nicht im Stande, mannmännliche Liebe in uns auszulöschen, auch nur in einem einzigen unter uns; oder, statt ihrer, Weiberliebe in uns zu erwecken.

§. 53. Zwar kommt es hin und wieder vor, daß ein Urning seinen Horror vor geschlechtlicher Berührung mit einem weiblichen Körper mit Gewalt überwindet und, einer oder der anderen Art des bezeichneten moralischen Druckes nachgebend, zu einer kalten, naturwidrigen Heirath, zu einer ihm selber verächtlichen Verbindung, zwangsweise sich bequemt. Allein ist denn dies Erweckung von Liebe zu einem Weibe? Es ist das nur eine künstliche und zwangsweise Aufpfropfung der Symptome einer fremden Natur auf die eigene, ohne die mindeste Umwandlung der eigenen Natur selbst.

§. 54. Jahrhunderte hindurch waren wir in Europa, namentlich im Christlichen, namenlosen Verfolgungen, den unsäglichsten Mißhandlungen, ausgesetzt. Der natürlichen scharfen Antipathie der Dioninge gegen uns leistete verhängnißvollen Vorschub die ganz irrig verstandene Bibelstelle Römer I. (Siehe Vindex §. 36. Anmerkung. Vergl. die unten mitzutheilende zweite Proclamation Kaiser Justinian's.) Man warf uns in's Gefängniß, man enthauptete uns Ist etwa im Jahre 1680 noch im Amte Meinersen, Königreich Hannover, geschehen, laut einer Notiz, die sich 1858 bei den dortigen Amtsacten vorfand., man übergab uns zur Ehre Gottes lebendig dem Flammentode: Nach den Gesetzen der Kaiser Valentinianus I. u. Theodosius I. u. Karl V. Valentinian I. und Theodosius I: siehe zu S. 39 Karl V. = Constitutio Carolina (Halsgerichtsordnung); siehe zu I. Vindex S. 25. und das alles war nicht im Stande, urnische Liebe in uns auszurotten. Furca siehe zu Vindex S. 9. habt ihre unsere Liebe ausgetrieben; mit dem s. g. Schwert der Gerechtigkeit habt ihr dreingehauen; eine furchtbare Blutschuld habt ihr auf euer Haupt geladen: und dennoch habt ihr auch nicht um eines Haares Breite eine Abänderung in der Richtung unseres Liebestriebes erzielt.

§. 55. Sich selbst entleibt haben manche Urninge, um eueren rasenden Verfolgungen und Beschimpfungen zu entgehen: aber ausgerottet haben sie ihre Liebe nicht! Noch etwa im Jahre 1855 hat, wie mir mitgetheilt worden, in Frankfurt a. M. ein Urning, der in Folge Verraths und heimtückischer Denunciation in's Gefängnis geworfen war, dort sich entleibt. Uns gegenüber hält man gemeiniglich Verrath für Tugend.

§. 56. In England Erst 1861 wurde die Todesstrafe für ›Sodomie‹ abgeschafft. thut man uns bis auf den heutigen Tag den Schimpf an, uns erst zum Tode zu verurtheilen, und dann als Gnade (!) uns das Leben zu schenken und uns nur in die Verbrechercolonien zu deportiren. (Vergl. die in London jährlich herausgegebenen officiellen Tabellen über Criminaljustiz.) Dies ist wahrlich eine Schmach unseres Jahrhunderts!

Arthur Schopenhauer sagt (a. a. O. S. 643.): »Im Christlichen Europa hat Religion, Gesetzgebung und öffentliche Meinung ihm D. i. dem »Laster«. Schopenhauer beliebt nämlich Uebung urnischer Liebe durchweg »Laster« zu nennen. Auch erwähnt er meist nur dieses s. g. Lasters, der urnischen Liebe selbst fast nie. mit aller Macht entgegenarbeiten müssen. Im Mittelalter stand überall Todesstrafe darauf, in Frankreich noch im 16. Jahrhundert der Feuertod.« – In Deutschland damals ebenfalls, wie die Carolina beweist. In Frankreich entfloh damals der bekannte Gelehrte Muret Marc-Antoine de Muret floh nach Italien, in Toulouse wurde er dennoch symbolisch verbrannt. Vgl. Maurice Lever, Les bûchers de Sodome (1985) S. 89. oder Muretus, Urning, dem Feuertode, der ihm vom Parlament zu Toulouse drohte. Ein Zeitgenosse, Dioning, machte auf ihn ein Spottepigramm, welches beginnt:

»Dum fugis ultrices flammas, Murete, Tolosae.«

Schopenhauer fährt fort: »In England ward noch während des ersten Drittels unseres Jahrhunderts die Todesstrafe dafür unnachläßlich vollzogen. Jetzt ist dort die Strafe Deportation auf Lebenszeit.« – Im vorigen Jahrzehnt in den meisten Fällen nur auf eine Reihe von Jahren, fünf, zehn oder zwanzig Jahre: immer, wie erwähnt, im Wege der durch Gnade nachgelassenen Todesstrafe.

§. 57. »So gewaltiger Maßregeln also«, fährt Schopenhauer fort, »bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu thun; was denn zwar in bedeutendem Maße gelungen ist« (wohl mehr scheinbar, als wirklich!), »jedoch keinesweges bis zur Ausrottung desselben. Unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses schleicht es vielmehr allezeit und überall umher, in allen Ländern und unter allen Ständen und kommt, oft wo man es am wenigsten erwartete, plötzlich zu Tage. Auch in den früheren Jahrhunderten ist es trotz aller Todesstrafen nicht anders gewesen. Dies bezeugen die Erwähnungen desselben und die Anspielungen darauf in den Schriften aus allen jenen Zeiten.«

Nachstehend gebe ich einige von mir gesammelte

Historische Notizen über Maßregeln zur Ausrottung urnischer Liebe und deren Erfolg. Zu den Bibelstellen vgl. John Boswell, Christianity, Social Tolerance and Homosexuality (1980) S. 95 f.

§. 58.  Juden. In den Büchern Mosis wird Uebung urnischer Liebe mit dem Tode bestraft. Der Charakter der älteren Juden war grausam. Unter Josua z. B. haben sie in eroberten Städten »alles, was männlich war, mit der Schärfe des Schwertes erschlagen.« Die Bücher des alten Testaments wimmeln von vollzogenen Todesstrafen, zum Theil von sehr grausamen, z. B. von Steinigungen. Darum werden sie auch diese Todesstrafe ohne Zweifel ohne Barmherzigkeit auch vollzogen haben. Dennoch ward unter ihnen urnische Liebe ziemlich häufig geübt. Einzelne Beispiele werden ausdrücklich erwähnt, z. B. die That derer zu Gibca. (Jud. 19,23. Vergl. auch Hiob 36,14., wo von urnisch umarmten die Rede ist.)

»König Assa that die ...« (die sich den Umarmungen der Urninge hingaben) »aus dem Land«, sagt I. Regum 15,12. Auch dies scheint nicht gefruchtet zu haben, mindestens nicht vollständig. Denn einige Jahre später heißt es von König Josaphat, Assa's Sohn: »Er that aus dem Land, was noch übrige ... waren.« (I. Regum 22, 47.)

§.59.  Rom. Aehnlich in Rom. Seit dem Kaiser Julius Philippus (Arabs) (um das Jahr 248 nach Chr.) wurden in Rom jene ... nicht mehr geduldet, auch gestraft. Aurelius Victor Aurelius Victor (4. Jh.), Verfasser einer stark moralisierenden Kaisergeschichte. Zu ›peioribus flagitiis‹ vgl. das ausführlichere Zitat in III. Vindicta S. 18 Anm. 14 und XI. Araxes S. 24. Der Zusammenhang lautet: .. als (der Kaiser Philippus Arabs) zufällig einen käuflichen Jüngling erblickte, der seinem Sohn ähnelte, faßte er den ehrenvollen Entschluß, die männliche Unzucht zu verbieten. (Den folgenden Satz hat Ulrichs in XL Araxes S. 24 übersetzt:) Trotzdem lebt sie fort. Die Äußerlichkeiten des Orts hat sie verändert. Betrieben aber wird sie, und unter schändlicheren Schandthaten, denn zuvor. in seinen Caesares sagt aber: Dies habe nichts gefruchtet. Unter dem Verbote werde in Rom jene Liebe nur pejoribus flagitiis geübt.

Constantin der Große Constantin der Große: Codex Theodosianus 9, 7, 3 und Corpus Iuris Civilis, Codex Iustinianus 9, 9, 30 (31):
Wenn ein Mann nach Art einer Frau ›heiratet‹ und die Männlichkeit verleugnet, was erstrebt er denn, wenn das Geschlecht seine Bedeutung verliert, wenn es sich um ein Verbrechen handelt, wovon man besser nicht wüßte, wenn Venus in eine andere Form verwandelt wird, wenn Liebe gesucht und nicht gefunden wird? Wir ordnen an, daß die Gesetze, ausgerüstet mit dem Schwert der Rache, aufgerichtet werden, damit die jetzt oder in Zukunft Schuldigen unter die ausgesuchtesten Strafen gestellt werden.
Übersetzung zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg, Tabu Homosexualität S. 188.
schärfte die Strafe gegen die bezeichneten ein in der geharnischten constitutio ad populum vom Jahre 326, welche enthalten ist in der const. 31. Codicis Justiniani ad legem Juliam de adulteriis lib. 9. tit. 9. und zu Rom publicirt ward. In derselben heißt es: »Jubemus armari jura gladio ultore« und: »exquisitis poenis subdantur infames«. Ihrer sehr undeutlichen Fassung wegen ist diese Constitution ohne Zweifel auch gegen die Urninge selbst vollstreckt worden.

§.60.  Rom und Constantinopel. Den erwünschten Erfolg scheint aber auch dies nicht gehabt zu haben. Denn Valentinianus I. und Theodosius der Große Valentinian I. und Theodosius der Große: Codex Theodosianus 9, 7, 6 (fehlt im Codex Iustinianus):
Alle, die die schändliche Angewohnheit haben, den männlichen Körper, der für die Frau eingerichtet ist, dadurch herabzuwürdigen, daß sie Geschlechtsverkehr mit einem anderen (Mann) haben – wie man sieht, unterscheiden sie sich in nichts von den Frauen –, sollen ein derartiges Verbrechen angesichts allen Volkes öffentlich in den Flammen büßen.
Übersetzung zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg S. 190.
erließen um das Jahr 370 die const. 6. Codicis Theodosiani de adulteriis, in welcher die Verfolgungswuth gegen urnische Liebe ihren Culminationspunkt erreicht. Der Urning selbst soll lebendig verbrannt werden. Den »vindices flammae« soll man ihn übergeben.

Ein Französischer Jurist des 16. Jahrhunderts schreibt, in einer Note zu Justinian's Novelle 141., von dieser Christlich-Theodosianischen Strafe ganz gelassen nieder: »Hanc poenam usus tandem recepit« (nämlich der neuere, insonderheit der Französische, Gerichtsgebrauch, aber auch der Deutsche, der Englische, der Italiänische). Er führt dafür auch eine Belegstelle an, nämlich Clarus, 3. sentent.

Jetzt ward urnische Liebe also mit Feuer und Schwert ausgerottet. Denn daß alle diese Strafen auch wirklich vollstreckt wurden, ist mir nicht zweifelhaft. Dies entspricht ganz dem grausamen Zuge, der die ganze damalige Strafrechtspflege durchzieht. Auf einer ganzen Reihe von Handlungen stand damals Todesstrafe, so z. B. auch auf Gotteslästerung. Aus Augustinus' Briefen z. B. ersehen wir auch, daß in den Provinzen Hinrichtungen etwas ganz gewöhnliches waren. Ein Menschenleben war damals eine Kleinigkeit ohne Werth.

§. 61.  Constantinopel. Was war der Erfolg dieses Ausrottungsversuchs? Genau zwar wissen wir es nicht. Einiges aber wissen wir. Dieses barbarische Gesetz des Theodosius nahm Kaiser Justinian in seinen Codex Codex Iuris Civilis, Institutionen 4, 18: Über die öffentlichen Strafverfahren, c. 4:
Ebenso ist ein öffentliches Strafverfahren das nach der Lex Iulia (von 18 n. Chr.) über die Bestrafung des Ehebruchs, die nicht nur die mit dem Schwert bestraft, die in fremde Ehen eindringen, sondern auch diejenigen, die es wagen, ihren unnatürlichen Gelüsten mit Männern nachzugehen.
Zitiert nach Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Band 1: Institutionen. Übersetzt von O. Behrends u. a. (1990).
vom Jahre 532  nicht auf, vielleicht doch, weil selbst der Scheiterhaufen sich nicht bewährt hatte. Dagegen bedrohte auch er, im Jahre 526, die Urninge mit der Todesstrafe, nämlich durch's Schwert. (§. 4. Institutionum de publicis judiciis lib. 4. tit. 18.) Half diese Todesstrafe?

§. 62. Im Jahre 538 erließ er eine öffentliche Ermahnung an das Volk von Constantinopel, welche uns in der Novelle 77. aufbewahrt ist. Darin heißt es (in Lateinischer Uebersetzung):

»Imperator Justinianus Augustus Constantinopolitanis. Justinian: Corpus Iuris Civilis, Novelle 77:
Da aber einige, durch teuflische Einwirkung befangen, sich in die gröbsten Ausschweifungen stürzen und Dinge, welche selbst der Natur zuwider sind, vornehmen, so rufen wir auch ihnen zu, daß sie die Furcht vor Gott und den künftigen Urteilsspruch desselben im Sinne haben und von solchen teuflischen und unerlaubten Ausschweifungen abstehen sollen, damit wir nicht wegen solcher frevelhaften Handlungen den gerechten Zorn Gottes erfahren und nicht die Städte mit ihren Bewohnern zu Grunde gehen. Denn wir werden durch die heiligen Schriften belehrt, daß wegen solcher frevelhaften Handlungen mit den Menschen zugleich auch die Städte vernichtet worden sind ...
Denn wegen solcher Vergehen entstehen Hungersnot, Erdbeben und Pest, und darum ermahnen wir sie, sich der angegebenen unerlaubten Handlungen zu enthalten, damit sie nicht ihr Seelenheil verlieren. Denn wenn auch nach dieser unserer Verordnung sich noch solche finden sollten, welche bei eben denselben Vergehen beharren, so werden sie erstlich sich selbst der Liebe Gottes unwürdig machen, sodann aber auch die in den Gesetzen ausgesprochenen Strafen erleiden. Wir haben nämlich den ruhmwürdigen Praefectus der Kaiserstadt beauftragt, diejenigen, welche bei den angegebenen unerlaubten und frevelhaften Handlungen auch nach dieser unserer Verordnung beharren, fesseln zu lassen und der höchsten Strafe (Todesstrafe) zu unterwerfen, damit nicht in der Folge des Übersehens solcher Vergehen sowohl die Stadt als der Staat durch solche frevelhaften Handlungen Schaden leide.
Übersetzung zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg S. 191 f.

... Quoniam quidam, diabolica instigatione comprehensi«, (urnische Liebe gilt hier also als Eingebung des Teufels) »... naturae contraria agunt: istis injungimus, in sensibus aceipere Dei timorem et futurum Judicium et abstinere ab hujusmodi diabolicis ... luxuriis, ne propter hujusinodi impios actus ab ira Dei justa inveniantur et civitates cum habitatoribus earum pereant. Docemur enim a divinis scripturis, propter hujusmodi impios actus civitales cum hominibus periisse.«

Hierauf mahnt er sein Volk ab von Gotteslästerung, und sagt dann, wie es scheint von beiden Dingen, von urnischer Liebe und Gotteslästerung:

»Propter talia delicta et fames et terrae motus et pestilentiae fiunt.« (Seltsame Theorie der Erdbeben!)

Schließlich heißt es:

»Sin autem et post hanc nostram admonitionem inveniantur aliqui in talibus permanentes delictis: primum quidem indignos se faciunt Dei misericordia; post haec autem et legibus constitutis subjiciuntur tormentis. Praecipimus enim gloriosissimo praefecto regiae civitatis« (d. i. dem Stadtpräfect von Constantinopel), »permanentes istos ... comprehendere et ultimis subdere suppliciis« (also ausdrücklich Todesstrafe), »ne ... et civitas et respublica ... laedatur.« (Es scheint hier eine allgemeine Hetzjagd auf Tod angeordnet zu werden).

§. 63. Und was wirkte diese Proclamation, in welcher Gottesfürchtigkeit, Aberglauben und Grausamkeit verschwistert mit miteinander gehen? Was wirkte die angeordnete Verfolgung? Im Jahre 544, also sechs Jahre später, erließ er eine neue Proclamation (Novelle 141.), aus welcher wir ersehen, daß jene ohne allen Erfolg gewesen ist. Ja, seltsam, Justinian scheint es selber zu fühlen, daß durch Verfolgungen urnische Liebe nicht auszurotten sei. Er versucht es mit Menschenfreundlichkeit und Milde, mit Ermahnungen, welche in der That gut und herzlich gemeint sind und einen wahrhaft wohlthuenden Contrast bilden zu den Verfolgungen aus der herzlosen neuesten Zeit. Kurz vor dem Osterfest des Jahres 544 bietet er allen denen, welche urnische Liebe würden als Sünde bereuen und beichten, völligen Erlaß der gesetzlichen Bestrafung. Auch das ist sehr achtungswerth, daß er gegen jene, welche die Sündlichkeit nicht anerkennen würden, nur aus dem Grunde die Bestrafungen nicht einstellen will, weil er sich gegen Gott für verpflichtet erachtet, dieselben fortzusetzen. Dies ist aber nicht nur achtungswerth: es ist auch lehrreich. Es scheint nämlich auch diese Auslegung zuzulassen: »nur aus Pflicht gegen Gott stelle er die Verfolgungen nicht ein: nicht weil er von ihrer Fortsetzung sich etwa noch einen Erfolg verspreche.« An einem Erfolg scheint er vielmehr zu verzweifeln.

§. 64. Die Proclamation lautet:

»Imperator Justinianus Augustus Constantinopolilanis. Justinian, Corpus Iuris Civilis, Novelle 141:
(Kaiser Justinian an die Bürger von Constantinopel.)
Wir bedürfen zwar stets der Milde und Güte Gottes, jetzt aber am meisten, da wir ihn durch die Menge unserer Sünden zum Zorn gereizt haben ... Wir alle [wollen] uns der schlechten Begierden und Handlungen enthalten, vorzüglich mögen dies aber diejenigen tun, welche in einer verabscheuungswürdigen und Gott mit Recht verhaßten verruchten Handlungsweise verfault sind; wir meinen nämlich die Schändung von Mannspersonen, welche manche gottloser Weise vorzunehmen wagen, indem Mannspersonen mit Mannspersonen schändliche Dinge vollziehen.
Denn wir wissen, durch die heilige Schrift belehrt, welche gerechte Strafe Gott denen, die einst in Sodom wohnten, wegen dieser wahnsinnigen fleischlichen Vermischung zugefügt hat, so daß jene Gegend bis jetzt in ungelöschtem Feuer brennt, indem Gott uns dadurch belehrt, daß wir jene frevelhaften Handlungen verabscheuen sollen. Wir wissen ferner, was der göttliche Apostel (Römerbrief 1, 27) hierüber sagt, und was die Gesetze des Staates darüber festsetzen. Daher müssen alle, welche Gottesfurcht haben, sich einer solchen gottlosen und frevelhaften Tat enthalten, welche nicht einmal bei den Tieren sich findet, und diejenigen, welche sich nicht so etwas bewußt sind, müssen sich auch in Zukunft davor bewahren, diejenigen aber, welche in dieser Leidenschaft schon verfault sind, müssen nicht bloß in Zukunft davon abstehen, sondern auch gehörig bereuen, vor Gott niederfallen, dem glückseligsten Patriarchen ihren Fehler anzeigen, und ein Heilmittel empfangen, und sollen nach dem, was geschrieben steht, die Frucht der Reue tragen, damit der gnädige Gott nach dem Reichtum seines Erbarmens auch uns seiner Gnade würdige und wir alle für die Rettung der Reuigen danken. Und wir haben unseren Obrigkeiten befohlen, auch jetzt diese zu verfolgen, um Gott zu versöhnen, der mit Recht auf uns zürnt. Und indem wir nun unseren Blick auf die ehrwürdigen und heiligen Tage richten, bitten wir den gnädigen Gott, daß diejenigen, welche sich in dem Kot dieser gottlosen Handlungsweise wälzen, so sehr Reue empfinden mögen, daß sie uns keine andere Veranlassung zur Strafe geben; wir sagen aber allen miteinander, welche sich eines solchen Vergehens bewußt sind, vorher, daß, wenn sie nicht davon abstehen, sich dem glückseligsten Patriarchen nicht entdecken und für ihr Heil Sorge tragen, indem sie Gott wegen dieser frevelhaften Handlungen während des heiligen Festes versöhnen, sie sich härtere Strafen zuziehen und in Zukunft keiner Verzeihung würdig sein werden. Denn es wird die Untersuchung der Sache und die Bestrafung derjenigen, welche sich innerhalb des heiligen Festes nicht entdeckt haben, oder bei dieser gottlosen Handlungsweise beharren, weder erlassen noch verabsäumt werden, damit wir nicht durch die hierbei begangene Nachlässigkeit Gott zum Zorn gegen uns anreizen, wenn wir uns nicht um eine so frevelhafte und verbotene Handlungsweise bekümmern, welche geeignet ist, den gütigen Gott zum Verderben aller zu reizen.
Dies soll unseren Bürgern von Constantinopel bekannt gemacht werden. Gegeben zu Constantinopel den 15. März im 32ten Jahre der Regierung des Kaisers Justinianus, im 18ten nach dem Consulate des Basilius (des hochberühmten Mannes).
Übersetzung zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg S. 192 f.

»Cum semper benignitate Dei indigeamus, tum maxime hoc tempore, cum propter peccatorum nostrorum multitudinem ipsum ad iracundiam provocavimus ... Scimus ..., quam justum Deus supplicium his, qui olim in Sodomis habitatant, propter hunc ... furorem intulerit, ut in hunc usque diem ea terra igni conflagret inexstinguibili ... Rursum scimus, qualia de hujusmodi divus dicat Apostolus. (Röm. 1.) ... »de cetero peccare desinant, rite agant poenitentiam, coram Deo procidant, et morbum bealissimo Patriarchae renuncient, rationemque curationis percipiant ...« (Deo) »agamus gratias de poenitentium salute, quos modo jussimus ut magistratus persequerentur ...« (welche zu verfolgen wir jüngst den Obrigkeiten befahlen) » ... poenitentiam capessant, ne alia nobis persequendi ejus flagitii praebeatur occasio« (damit nicht eine neue Hetzjagd angestellt zu werden braucht). »... nisi peccare desierint et, seipsos renunciantes beatissimo Patriarchae, salutis suae curam gesserint, ... Deum intra sanctum festum placantes« (bis zum bevorstehenden Osterfeste): »acerbiora sibi accersent supplicia et nulla de cetero venia digni habebuntur. Non enim de ejus rei inquisitione et correctione quidquam relaxabitur negligentiusve tractabitur contra eos, qui intra sanctum festum se non detulerint ..., ne ... Deum contra nos irritemus, quod caecutientibus oculis transmiserimus actionem tam impiam ... et quae idonea sit, ut Deum in » omnium perniciem ad iram provocet.

Proponatur Constantinopolitanis civibus nostris.

»Datum idibus Martii Constantinopoli, domini nostri Justiniani »perpetui Augusti anno XXXII. post Basilium virum clarissimum »Consulem anno XVIII.«

§.65.  Berlin. Auch dies religiöse Mittel scheint sich nicht bewährt zu haben, urnische Liebe auszurotten oder Urninge in Dioninge umzuwandeln. Wenigstens würde man es sonst doch wiederholt angewandt haben, wovon wenigstens in neuerer Zeit nicht die geringste Spur bekannt ist. Man hat wieder zur alten Praxis der Verfolgungen zurückgegriffen. In neuerer Zeit fügt man freilich zu den criminalrechtlichen Verfolgungen auch polizeiliche hinzu, in der Hoffnung, durch vexatorische Nadelstiche vielleicht mehr zu erreichen, als durch Kolbenschläge.

§. 66. Aber auch sie haben sich gänzlich erfolglos erwiesen. Wer z. B. die Zeitungen verfolgt, wird periodisch, irre ich nicht in der Regel gegen Frühjahr, aus Berlin etwa folgendes berichtet finden:

»Um der von Jahr zu Jahr mehr um sich greifenden Unsittlichkeit ein Ziel zu setzen, ist gestern eine gemischte Commission aus Mitgliedern des hiesigen Polizeipräsidiums und des Magistrats zusammengetreten. Dieselbe hat bereits eine Subcommission niedergesetzt, welche geeignete polizeiliche Maßregeln in Vorschlag bringen wird.«

§. 67. Allein trotz aller gemischten Commissionen und Subcommissionen steht in Berlin urnische Liebe wahrhaft in Blüthe. Daß die Commission immer wieder auf's neue zusammentritt, beweist, daß sie niemals etwas erreicht. Die Schaaren der Berliner Polizei mit der Lockung der Denunciantengebühr und mit ihren Hunderten von spähenden Argusaugen, das in Berlin jedem Urning wie ein Damoklesschwert drohende Zuchthaus (dasselbe Zuchthaus, in welchem erst im vorigen Jahrzehent der unglückliche Urning v. Malzahn siehe IV. Formatrix S. 15 Anm. 16., wegen urnischer Liebe verurtheilt, dahinsiechte und starb): das alles rottet in Berlin urnische Liebe nicht im entferntesten aus; es bewirkt nur, daß dort nicht nach der Weise des Erchios Callimachus stellt des Erchios Vorschriften über urnische Liebe als Muster hin. Lebte er heute, vielleicht würde er zu den Berlinern sagen, was er einst zu den Athenern sagte:
»Ερχιος ὡς ὑμῖν ὥρισε παιδοφιλῖν,
Ώδε νέων ἐράοιτε, πόλιν κ' εὔανδρον ἔχοιτε.«
(Luciani ἔρωτες)
(Erchius ut pulchros jussit amare mares,
Vos ita amate, virisque bonis implebitis urbem.
Wie Erchios euch lehrte junge Burschen zu lieben, so sollt ihr die Jünglinge lieben: und reich wird euere Stadt sein an wackeren Männern.) Kallimachos: griech. Dichter (3. Jh. v. Chr.). Das zitierte Epigramm ist nur bei Pseudo-Lukian, Erotes c. 49, überliefert.
urnisch geliebt wird, sondern in einer Weise, wie man urnisch nicht lieben soll; es bewirkt, was Aurelius Victor sagt: »pejoribus flagitiis agitatur«. Die §§ 65-67 fehlen in der Neuausgabe durch M. Hirschfeld 1898, wohl wegen des Bezugs zu Berlin. Hirschfeld wollte wohl einen Konflikt mit dem Kriminalinspektor Leopold von Meerscheidt-Hüllessem, dem Leiter des damals noch allgemein als Päderastenabteilung bezeichneten Dezernats der Sittenpolizei in Berlin, vermeiden. Vgl. M. Hirschfeld, Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922 (1986) S. 27:
Er (von Meerscheidt-Hüllessem) sah zunächst in der Päderastie nichts anderes als ein ... Laster. Nachdem er aber die angeschuldigten Päderasten selber kennenlernte ... stutzte er. Er vertiefte sich in die damalige Literatur über den Gegenstand, in Ulrichs’ zum Teil konfiszierte Schriften ... da ließ es dem ebenso scharfsinnigen wie gewissenhaften Kriminalisten keine Ruhe mehr, seine geänderte Meinung den ihm über- und untergeordneten Stellen darzutun.

XI.
Allgemeine Verbreitung der urnischen Liebe.

§. 68. Diese inneren Gründe werden nun auch noch durch die äußere Erfahrung unterstützt. Millionen von Menschen, aller Zeiten und Völker, aller Berufsklassen, aller Culturstufen und aller Himmelsstriche, haben urnisch geliebt. Völker, unter denen diese Liebe nachweislich vorgekommen ist, beziehungsweise noch vorkommt, sind unter anderen:

Tyrrhener, Etrusker, Samniter, Messapier,
Juden,
Kelten, schon die ältesten und rohesten,
Griechen, Macedonier,
Römer,
die Araber und Perser des Mittelalters,
Peruaner,
die Wilden Nordamerika's.

Diese alle nennt, unter Anführung von Citaten, Meier a. a. O. S. 150. 151. 152.

§.69. Schopenhauer (a. a. O. S. 642.) sagt: »Zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt« (S. 643. sagt er: »allezeit und überall, in allen Ländern und unter allen Ständen«) »sehen wir ...« (Uebung urnischer Liebe) »völlig im Schwange und in häufiger Ausübung.« Bei Griechischen und Römischen Schriftstellern sei alles voll davon. Er erwähnt der Urninge der Griechischen Urzeit, Orpheus und Thamyris. Ferner sagt er: »Alle Länder Asien's sehen wir davon erfüllt, von den frühesten Zeiten bis setzt, ohne es sonderlich zu verhehlen: Hindu und Chinesen nicht minder, als die Völker des Islam. Im Gulistan des Sadi Sa'di, Der Rosengarten (13. Th.). Siehe IV. Formatrix S. 16 Anm. 18. redet das Buch »von der Liebe« ausschließlich von der Knabenliebe.«

§.70. Von fast allen Völkern des gegenwärtigen Europa ist ähnliches bekannt und auch nachzuweisen, wenn auch in verschiedenen Graden der Verbreitung: nicht nur von jenen der Romanischen Race (Spanier, Portugiesen, Franzosen und Italiäner), sondern auch von jenen der Slawischen (Russen, irre ich nicht auch Tschechen und Croaten), und der Germanischen Race (namentlich Deutsche und Engländer); ebenso von den Ungarn, Wallachen, Türken, Tscherkessen, von den Arabern Nordafrika's, irre ich nicht auch von den Negern, etc.

Auch aus der großen Verbreitung der urnischen Liebe möchte zu schließen sein, daß sie tief in der menschlichen Natur wurzele.

XII.
Arthur Schopenhauer's Ansicht über den Ursprung urnischer Liebe.

Anhang zu X. und XI.

§. 71.  Vorbemerkung. Ich schrieb ganz unabhängig von Arthur Schopenhauer. Erst während des Drucks ward seine Ansicht mir bekannt.

§. 72. Von besonderer Wichtigkeit scheint mir zu sein, nicht für mich, sondern für den Leser, einmal, daß Schopenhauer, dieser leidenschaftslose, einsichtsvolle und gerecht denkende Forscher, und zwar der euerigen einer, die Unausrottbarkeit und die allgemeine Verbreitung der urnischen Liebe anerkennt, und ferner die Schlußfolgerung, die er aus diesen beiden Erscheinungen zieht.

§. 73. Unter der Ueberschrift »Metaphysik der Geschlechtsliebe«, »Anhang«, sagt er (a. a. O. S. 642.): »An sich selbst betrachtet stellt ...« (Uebung urnischer Liebe) »sich dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität« (S. 648: »widerwärtige Verirrung und Ausartung des Geschlechtstriebes«), »als eine Handlung, auf welche allein eine völlig perverse, verschrobene und entartete Menschennatur irgend einmal hätte gerathen können und die sich höchstens in ganz vereinzelten Fällen wiederholt hätte.« (Dem wäre vollkommen beizupflichten, wenn nur Dioninge, nicht auch Urninge, geboren würden.) »Wenden wir uns aber an die Erfahrung, so finden wir hievon das Gegentheil.«

§. 74. Jetzt betrachtet er die allgemeine Verbreitung urnischer Liebe und ihre Unausrottbarkeit. (Siehe die schon wiedergegebenen Stellen.) Ein so unbefangener Beobachter, wie er, hätte billig noch hinzusetzen sollen, daß urnische Liebe bei ganz gesunden, körperlich und geistig gesunden, und von Charakter durchaus braven und wackeren Individuen vorkomme, welche, an sich betrachtet, durchaus nichts perverses, verschrobenes und entartetes an sich tragen! Das hätte er sich abstrahiren sollen z. B. von einem Sokrates, Plato, Pindarus, Sophokles, Theokrit, Epaminondas, Virgil, Trajan: welche sämmtlich Urninge waren.

§.75. Hieraus nun sagt er (S. 643.): »Wenn wir nun alles dies uns vergegenwärtigen und wohl erwägen, so sehen wir die ...« (Uebung urnischer Liebe) »zu allen Zeiten und in allen Ländern auf eine Weise auftreten, die gar weit entfernt ist von der, welche wir zuerst, als wir sie bloß an sich selbst betrachteten, also a priori, vorausgesetzt hatten.« (D. i. gar anders, als wie ihr euch vorstellt nach dionischen Begriffen.) »Nämlich die gänzliche Allgemeinheit und beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht, da sie nur aus diesem Grunde jederzeit und überall unausbleiblich auftreten kann, als ein Beleg zu dem

»Naturam expelles furca, tamen usque recurret.« siehe zu 1. Vindex S. 9.

Dieser Folgerung können wir uns daher schlechterdings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren wollen.

»Ueber diesen Thatbestand aber hinwegzugehen und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden zu lassen, wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art, mit den Problemen fertig zu werden. Mein angeborener Beruf ist, überall der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen. Diesem Berufe auch hier getreu, anerkenne ich das sich darstellende und zu erklärende Phänomen« (d. i. Verbreitung und Unausrottbarkeit) » nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus.«

§. 76. Bis hieher ist Schopenhauer unverkennbar auf der richtigen Spur. Von hier an verliert er sie: was einem Dioning jedoch zu verzeihen ist, zumal der, wie es scheint, von Urningen selbst über urnische Liebe niemals auch nur ein einziges Wort vernommen hat. Es ist schon hoher Anerkennung werth, daß er bis so weit der Sache auf die Spur gekommen ist.

Um vollständig zu sein, will ich nun auch die weitere Theorie Schopenhauer's dem Leser nicht vorenthalten. S.644. fährt er fort:

»Daß nun aber etwas so von Grund aus naturwidriges aus der Natur selbst hervorgehen sollte, ist ein so unerhörtes Paradoxon, daß dessen Erklärung sich als ein schweres Problem darstellt.« (Schon diese Stellung des Problems ist unzulässig. Insofern etwas aus der Natur hervorgeht, ist es eben naturgemäß, nicht naturwidrig. Das Problem ist einfach dies: Ist es die Natur, die in männliche Körper Liebe zu Männern [weibliche Triebe] einpflanzt, oder nicht?)

§. 77. Jetzt beginnt die vermeintliche Lösung des Problems. Nach dem Alter von 54 Jahren etwa und ebenso im noch sehr jugendlichen Alter könne der Mann zwar Kinder zeugen, aber nur schwächliche. (S. 645.) Das liege im Gesetz der Natur; der Zweck der Natur aber fordere kräftige Menschen. Die Natur gerathe also hier, in Folge ihrer eigenen Gesetze und Zwecke, wirklich in Bedrängniß. (S. 648: Sie sei in die Enge getrieben.) Daher leitet sie in diesen beiden Lebensperioden den Instinkt irre (S. 648: sie »verkehrt« den Instinkt, »sie führt den Geschlechtstrieb irre«), nämlich von Weibern ab und auf junge Männer hin, um der Erzeugung schwächlicher Kinder (S. 646.) und somit der allmäligen Depravation des Menschengeschlechts vorzubeugen.

»Ungefähr im Alter von 54 Jahren stellt, in der Regel«, (Aber warum denn nicht immer? warum nur in der Regel?) »eine ...« (urnische) »Neigung sich leise und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem Maße, wie die Fähigkeit, gesunde Kinder zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet es die Natur.« ... »Je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto entschiedener wird ihre widernatürliche Richtung.« ... »Jene Neigung führt mit sich Gleichgültigkeit gegen die Weiber, welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich zum Widerwillen anwächst.« (Hat etwa Schopenhauer es so an sich selbst erfahren? Davon sagt er kein Wort. Er hätte wohlgethan, einmal aufrichtig und offen sich mit einem Urning zu unterreden.)

§. 78. »Wenn kein Damm entgegengesetzt ist, wie in Griechenland und Rom und in Asien, kann der Hang zum Laster führen und dieses erhält dann große Verbreitung. In Europa dagegen stehen dem Laster so überaus mächtige Motive der Religion, der Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, daß fast jeder schon vor dem bloßen Gedanken zurückbebt. Von etwa 300, welche jenen Hang spüren, wird höchstens einer so schwach und hirnlos sein, ihm nachzugeben. Nur eine von Haus aus schlechte (?)Natur wird ihm unterliegen.« (Dies ist sehr irrig. Es ist eine Verwechselung zwischen Ursache und Wirkung. Bei uns ist die bestehende Stärke und Dicke des Dammes gegen urnische Liebe, d. i. das Maß ihrer Verfolgungen durch die Dioninge, nicht die Ursache davon, daß urnische Liebe nur ziemlich gering verbreitet ist, sondern lediglich die Wirkung dieses Umstandes. Gäbe es bei uns so viel Urninge, wie im alten Griechenland oder in Asien: schwerlich würde »fast jeder schon vor dem bloßen Gedanken zurückbeben«; namentlich wenn jener verhängnißvolle Irrthum über Röm. I. nicht geherrscht hätte. Jener Damm ist lediglich das Werk argen Mißbrauchs, den eine starke Dioningsmajorität mit ihrer numerischen Uebermacht bisher, wenn auch bona fide, getrieben hat. Einer schwachen Majorität wäre es niemals gelungen, ihn festgegründet zu errichten.)

§. 79. (S. 647.) »Dem eigentlich männlichen Alter ist sie fremd, ja unbegreiflich.« ( Unbegreiflich zwar, aber nicht fremd. Unbegreiflich bei euch, nicht fremd bei uns.)

Etwaige Ausnahmen, sagt er, nehme ich nur an bei zufälliger oder vorzeitiger Depravation der Zeugungskraft. »Bei den Griechen mag auch Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine solche Ausnahme herbeigeführt haben.« (Siehe oben §. 43 ff.) Bei ihnen finden wir den Liebhaber in der Regel als ältlich dargestellt. ( Oft allerdings ist der Liebende älter, als der Geliebte. Allein einfach aus dem Grunde, weil wir nur junge Dioninge lieben, aber auch dann noch lieben, wenn wir unsererseits die Jugendzeit bereits überschritten haben. »Tout comme chiez vous!«) Gezwungene Ausnahmen kann im Orient, wie in weiberlosen Colonien, z. B. Californien, hin und wieder Weibermangel veranlassen. (Dies mag richtig sein. Allein Weibermangel schafft nicht Urninge, sondern Individuen, die ich » Uraniaster« nenne. Diese sind und bleiben Dioninge. Vom Urning unterscheiden sie sich gerade in allen wesentlichen Merkmalen. Darüber in einer späteren Schrift. Uraniaster können durch Weibermangel, aber auch durch Gewöhnung entstehen.)

Auch in der Jugend, zwischen Jünglingen, ist eine erotische Neigung oft vorhanden. (Ob, wann und wie diese beim Eintritt des Mannesalters sich verliere und in die Weiberliebe übergehe? verschweigt Schopenhauer. Uebrigens warum nur oft? warum nicht immer?)

(S. 648.) Mannmännliche Neigung »ist ein Phänomen der unreifen und der absterbenden Zeugungskraft.« (Durch und durch Irrthum!)

»Ueberhaupt aber ist durch diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit zu Tage gebracht, welche, bei all' ihrer Seltsamkeit, doch neues Licht wirft auf das innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur.« (Durch diese ganz unhaltbare Schopenhauer'sche Hypothese doch wohl schwerlich!)

Endlich erklärt Schopenhauer für den wahren letzten Grund der Verwerflichkeit der urnischen Liebe deren Unfruchtbarkeit. (Dies acceptire ich. Uns trifft dann überall keine Verwerflichkeit. Denn diese Unfruchtbarkeit haben nicht wir zu vertreten. Dann ist es von der Natur verwerflich gehandelt, daß sie uns unfruchtbare Triebe gab. [Vergl. Vindex §. 17.])

§. 80. Schopenhauer ist also, wie es scheint, auf den Irrweg gerathen, anzunehmen, in jedem männlich gebauten Individuum sei ein Keim zu urnischer Liebe von Natur vorhanden. Auf die, ihm allerdings wohl nicht so naheliegende, Vermuthung ist er nicht gekommen: nur in einzelnen männlich gebauten Individuen sei diese Liebe von Natur vorhanden.

Richtig und werthvoll ist somit nur der erste Theil seiner Theorie, nämlich bis zu dem bezeichneten Wendepunkt, wo er die Spur verliert. Der im ersten Theile von ihm eruirte Satz aber ist von ganz bedeutendem Werth.

Zu einer Erkenntniß des wahren Ursprungs der urnischen Geschlechtsliebe, sowie der abgesonderten und selbstständigen Stellung der Urninge innerhalb des Menschengeschlechts, nämlich als drittes Geschlecht, konnte Schopenhauer nicht gelangen, weil er zu dem Räthsel der mannmännlichen Liebe den Schlüssel nicht fand, d. i. weil er nicht bis zu dem Punkt gelangte, das angeborene, bis in die Wurzel hinein weibliche Element der Urninge zu erkennen Dem dritten Geschlechte kann möglicherweise thatsächlich ein viertes entsprechen, ein Geschlecht weiblich gebauter Individuen mit weibweiblicher Geschlechtsliebe, d. i. mit Geschlechtsliebe männlicher Richtung. Vergl. die zerstreut vorkommenden Nachrichten hierüber, z. B. Plato, Gastmahl, Cap. 16. – Meier a. a. O. S. 165. und das bei ihm angeführte Citat Plehn, Lesbiaca, pag. 122 sq. Auch aus neuerer Zeit ist mir derartiges zu Ohren gekommen, z. B. zwei Fälle allem Anschein nach männlich liebender Weiber in Hannoversch Münden und in Cassel. Derartige Weiber scheinen indeß erheblich minder zahlreich vorzukommen, als Urninge. Eine wissenschaftliche Prüfung auch ihrer Natur möchte sehr wünschenswerth sein. Den Schlüssel zu dem Räthsel ihrer Liebe würde ein angeborenes männliches Element bilden. In beiden bezeichneten Fällen war auch in der That durchaus männlicher Habitus vorhanden. Plato, Gastmahl, Cap. 16 = 191e.
Derartige Weiber scheinen indeß erheblich minder zahlreich vorzukommen, als Urninge: Hirschfeld merkt in der Neuausgabe von 1898 (S. 71) an: »Hat sich als durchaus irrtümlich herausgestellt.«
. Sehr verzeihlich. Zu diesem Punkt bin ja ich selbst erst in den beiden verflossenen Jahren gelangt. Zur Reife kam dieses mein Erkennen sogar erst im letzten Jahre, als ich bereits 37 Jahre alt war.

§. 81. Von der angeblichen Irreführung des Geschlechtstriebes, als der Entstehungsursache urnischer Liebe, spricht Schopenhauer an einer anderen Stelle (S. 618.) in folgender Weise:

»Die wenigen Instinkte, die der Mensch hat, können leicht irre geleitet werden.« (Er rechnet zu denselben namentlich den geschlechtlichen Liebestrieb.) »Der Schönheitssinn nämlich, welcher die Auswahl der Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitet, wird irre geführt, wenn er in Hang zu ...« (Befriedigung auf urnischem Wege) »ausartet: dem analog, wie die Schmeißfliege, musca vomitoria, ihre Eier, statt ihrem Instinkt gemäß in faulendes Fleisch, in die Blüthe des arum dracunculus legt, verleitet durch den cadaverosen Geruch dieser Pflanze« Was die Wahl dieses Beispiels in ästhetischer Rücksicht betrifft, so kann jedenfalls uns schmeichelhafter sein, daß man hier unseren jungen Burschen doch wenigstens mit einer Blüthe vergleicht, als euch die Gleichstellung eurer geliebten Weiber mit faulendem Fleisch. Anmerkung fehlt in der Neuausgabe von 1898..

§. 82. Die Analogie der musca vomitoria ist mehr bestechend, als zutreffend. Die Täuschung dieser Fliege ist allerdings eine höchst merkwürdige Naturerscheinung. Auch findet sich bei der Geschlechtsliebe hin und wieder ein ganz analoges Getäuschtwerden. Allein dies Analogon besteht in etwas ganz anderem, als in urnischer Liebe. An mir selbst habe ich es erlebt. Ich setze voraus, daß das gleiche auch bei euch vorkommen könne. Auf dem Theater in einer Künstlerbude zu Mainz sah ich im Jahre 1856 verschiedene graciöse Tänze aufführen. Einige Tänze waren bereits ausgeführt. Jetzt trat ein liebreizendes Paar, mit Castagnetten, auf, ein junger, hübscher und blühender Tänzer und eine junge, hübsche und blühende Tänzerin. Aller Blicke fesselte dies Paar. Aber auch meine Blicke waren gefesselt. Die der übrigen durch den Anblick der Tänzerin, die meinen durch den des Tänzers. Ich hätte ihn sofort küssen und in meine Arme drücken mögen. Ich war so bezaubert von ihm, daß ich nach der Vorstellung es nicht lassen konnte, dem Director der Bude meinen Beifall über den außerordentlich schönen Tanz des jungen Tänzers auszusprechen. (Denn selbst das ist uns Genuß, über einen, der uns anzieht, nur mit einem Dritten zu sprechen und über ihn sprechen zu hören. Vielleicht ist dies auch bei euch der Fall.) Wer aber schildert meine arge Enttäuschung? Aus allen Himmeln stürzte ich herab. Der Director erklärte lachend: »der Tänzer sei eigentlich nur ein verkleidetes Mädchen.« Eine Seitenthür der Bude öffnend, stellte er mir den weiblichen Tänzer sogar vor. Von all' meiner Sehnsucht war ich urplötzlich geheilt.

§. 83. Dieser Vorgang beweist allerdings die vollständige Nichtigkeit des obigen ersten Schopenhauer'schen Satzes: »der Instinkt der Geschlechtsliebe könne leicht irre geleitet werden«, zugleich ebenso aber auch die vollständige Irrigkeit seines zweiten Satzes: »urnische Liebe sei der irregeleitete Instinkt der ordentlichen Geschlechtsliebe des Mannes. Nur jener Dioning vielmehr stände auf gleicher Linie mit der musca voinitoria, welcher einen als Mädchen verkleideten jungen Mann (die Blüthe des arum dracunculus) für ein Mädchen hält (für das faulende Fleisch) und, in diesem Irrthum befangen, ihn herzt und küßt: nicht dagegen wir, die der junge Mann anzieht nicht als Mädchen, sondern gerade als Mann.

XIII.
Zeugnisse von Schriftstellern für das Angeborensein der urnischen Liebe.

§.84. 1) Plato, Urning, sagt:

  1. »die von dieser Liebe angehauchten«, also von einer höheren Macht angehauchten. (Gastmahl, vergl. Prantl'sche Uebersetzung S. 21.)
  2. »ἐάν τις τύχῃ ἐρῶν ἤ ἄρρενος ἤ ϑηλείας.« (de republica V. 468.) Als Gabe des Schicksals wird also die Liebe betrachtet, sei es die zu Weibern, sei es die zu Männern.
  3. »Lieblingsjünglinge zu finden, welche für den einzelnen nach »dessen eigenem Sinn von Natur aus passen.« (Gastmahl S. 35.)
  4. »ein auf Ehe und Kinderzeugung gerichteter Sinn fehlt »ihnen von Natur.« (Gastmahl S. 34.)

§. 85. 2) Petronius siehe oben zu S. 4., Urning. Das 32. Fragment des Petronius (Verfassers des durch und durch urnischen Satyricon), ein ganz obscures Stück der Römischen Literatur, beginnt:

»Sic contra rerum naturae munera nota« etc.

und schließt mit den Worten:

» Non uno contenta valet natura tenore;
Sed permutatas gaudet habere vices.«

Dasselbe scheint anzudeuten, daß Petronius sehr correct über den Grund urnischer Liebe gedacht habe. Aus der Naturgeschichte einzelner Thiere (Rabe, Fisch, Bär, Schildkröte, Biene) führt er eine Reihe sehr auffallender Erscheinungen an und sagt, dieselben stehen im Widerspruch mit den » bekannten« Gaben der Natur, contra nota munera naturae rerum. Er betrachtet sie also als eine Ausnahme von dem ordo naturae. Dennoch aber beruhen auch sie auf einer Gabe der Natur; auch sie sind ihm ein munus naturae. Diese Ausnahmeerscheinungen scheint er nun in dem »Sic« vergleichen und auf Eine Linie stellen zu wollen mit der naturgeschichtlichen Erscheinung urnischer Liebe. Der Umstand, daß die Erscheinungen, die er anführt, zufällig sämmtlich Mährchen sind, die auf der damaligen mangelhaften Kenntniß der Natur beruhen, z. B.:

»Et piscis, nullo junctus amore, parit« ebenfalls aus dem S. 52 genannten Fragment des Petronius:
(So) war der laichende Fisch nie zur Begattung gepaart.

und daß die Bärin ihren Jungen erst durch lecken Gestalt gebe, thut der sehr bemerkenswerthen Richtigkeit seiner muthmaßlichen Anschauung über den Grund urnischer Liebe keinen Eintrag. Die Schlußworte dieses merkwürdigen Fragments mochte ich so übersetzen: »Mit einer einzigen Regel ist die Natur nicht zufrieden; vielmehr gefällt sie sich in Abwechselungen.«

§.86. 3) Heinse; zwar Dioning, aber ein sehr vorurtheilsfreier; anonymer Verfasser von »Begebenheiten des Encolp« (Rom 1773) [Uebersetzung von Petronius' Satyricon], sagt in der Vorrede zu dieser Schrift (S. 29. 30.):

»Wer will den Griechen beweisen, daß ihre Vergnügungen mit schönen Ganymeden sie nicht mehr hätten entzücken sollen, als mit ihren Weibern? Den Maßstab seines Vergnügens trägt jeder Mensch in seiner eignen Brust.«

Und ferner (S. 32.):

» Die Natur ist es, welche diese Mannigfaltigkeit der Neigungen der Menschen so beliebt hat: und du, Geschöpf, willst deine Mutter meistern?«

4) Schopenhauer, Dioning. (Siehe oben §. 75.)

§.87. 5) Einzelne Aerzte und einzelne katholische Geistliche, Dioninge, haben vorurtheilslos die Mittheilungen beurtheilt, die ihnen von einzelnen Urningen unter vier Augen, beziehungsweise im Beichtstuhl, über ihren Seelenzustand rücksichtlich ihrer geschlechtlichen Liebe gemacht wurden. Diese Eröffnungen waren, wie mir mitgetheilt ist, unter einander merkwürdig übereinstimmend. Auch sie gelangten, gleich Schopenhauer, zu der Ueberzeugung, mannmännliche Neigung müsse doch wohl in der Natur selbst ihren Grund haben.

Und alle diese genannten haben noch dazu offenbar nur einen sehr geringen Theil der vorstehend aufgeführten Beweisgründe in Erwägung gezogen.

Durch diese Annahme wird sich überhaupt manche Erscheinung aufklären, die euch an uns bisher ein Räthsel war.

XIV.
Nachtrag.

a. zu III. Weibliches Element der Urninge.

Zu §. 14. und §. 21.

§. 88. Dem weiblichen Charakter der Urninge scheint zu widersprechen, nicht sowohl daß Urninge vielfach an Feldzügen activ theilnahmen, wie Epaminondas, Sokrates, Sophokles, da dies ihre sociale Stellung mit sich brachte: als vielmehr, daß einzelne von ihnen in den Schlachten sogar glänzende Proben eines außerordentlichen Muthes abgelegt haben.

Allein zu allen Zeiten tauchen ja Fälle auf, daß auch Weiber kriegerisch gesinnt sind und ganz aus freien Stücken an Feldzügen und Schlachten theilnehmen: theils aus patriotischer Begeisterung, theils um dem Geliebten, der in den Kampf zog, nahe zu sein.

Diese beiden Beweggründe, die patriotische und die erotische Begeisterung, scheinen auszureichen zur Erklärung auch jener Beispiele urnischen Schlachtemuthes.

Ohnehin ist festzuhalten, daß die Weichheit des weiblichen Charakters beim Weibe Muth, Begeisterung und Kühnheit keinesweges ausschließt. Sie wird diese Stücke also auch beim Urning nicht ausschließen.

Welcher Heldenkühnheit ist nicht Mutterliebe fähig? Plato führt ein Beispiel an, daß ein Weib aus Liebe sich entschloß, für ihren Gatten zu sterben. (Gastmahl Cap. 7.) Plato, Gastmahl, Cap. 7 = 179b (Alkestis), Cap. 6 = 179a.

Aehnlichen Wesens, also weiblichen Charakters, scheint mir nun auch die urnische Schlachtenkühnheit zu sein; so z. B. jene, welche der Urning Diokles Diokles – Aitas: Diokles verliebte sich in Aitas, für den er sich in einer Schlacht opferte. Zu seinen Ehren fand in Megara das Frühlingsfest der Diokleen statt, das mit einem Kuß Wettbewerb verbunden war. Vgl. Theokrit 12, 30 ff. bewies. (Vergl. die dritte Schrift Nemus sacrum (siehe zu I. Vindex S. 9). unter: »Das Grabmahl des Diokles«.) Neben seinem Geliebten zog Diokles in die Schlacht. Er sah ihn in Lebensgefahr. Da stürzte er sich vor; statt des Geliebten warf er sich gegen den Feind, und, indem er selber fiel, rettete er seinen trauten Aïtas.

§. 89. Auch Plato scheint anzunehmen (wie ich es annehme), daß der Urning von Natur nicht tapfer sei, daß ihn aber die Liebe zur Tapferkeit begeistere. Er drückt sich in den schönen Worten aus (Gastmahl Cap. 6. Prantl'sche Uebersetzung von 1855, S. 18.):

»Bei einem Verlassen der Schlachtreihe oder einem Wegwerfen der Waffen von seinem Geliebten erblickt zu werden, würde ein liebender weniger ertragen, als von allen anderen dabei erblickt zu werden; und er würde statt dessen selbst den Tod vorziehen. Und nun erst den Liebling im Stich zu lassen, ihm, wenn er in Gefahr ist, nicht beizustehen: – nein, so feig ist keiner, daß ihn da nicht Eros selbst gottbegeistert mache zur Tüchtigkeit, so daß er gleich wird dem, welcher » von Natur der tüchtigste ist.« [D. i. so daß er gleichen wird dem tüchtigsten unter den Dioningen.]

Die Dioninge nämlich sind diejenigen, welche von Natur zur Tapferkeit tüchtig sind. Ihnen gleichen die Urninge, wenn sie lieben.

b). zu X. Unausrottbarkeit der urnischen Liebe.

Zu §.51.

§. 90. Ja, uns winkt noch mehr. Das Glück der Liebe büßen wir nicht nur nicht ein, wenn wir unsere Neigung umlenken auf das weibliche Geschlecht: nein, es winkt uns sogar in noch vollerem Maße, als jetzt. Dann steht uns nämlich zunächst der Genuß bevor, statt der urnischen die volle Seligkeit der dionischen Liebe zu schmecken, die ja ebenso herrlich sein muß, wie die unsere, da wir sie in euren Liebesliedern in der That wahrhaft reizend und lockend besungen finden. Und ferner: gegenwärtig ist das Ziel unserer kühnsten Hoffnungen in der Liebe beschränkt auf eine bloße Freundschaft als Erwiederung unserer Liebe. Wir dürfen nur rufen:

»Non, ut ames, oro, verum, ut amare sinas.« siehe oben S. 25.

Die von uns oft heiß ersehnte Gegenliebe schmecken wir nie. Dann aber winkt uns die Hoffnung, auch der Gegenliebe Süßigkeit zu empfinden. Mindestens hätten wir dann nicht mehr zu kämpfen mit unserer eigenen Abstoßung, d. i. mit jener, die wir so unglücklich sind auf einen jungen Mann auszuüben. (Vergl. oben §. 33.)

Ich für meine Person stehe nicht an zu erklären: » Läge es in meiner Gewalt, Liebe zu Männern oder zu Weibern zu wählen: die zu Männern würde ich nie gewählt haben, und die zu Weibern würde ich unbedingt noch heute wählen; nicht eurer Verfolgungen wegen, sondern wegen der wirklich vorhandenen großen Mangelhaftigkeit der urnischen Liebe im Vergleich mit der dionischen; weil nämlich die urnische statt Gegenliebe jene unglückliche Abstoßung in ihrem Gefolge hat, und dann, weil sie unfruchtbar ist.« (Auch noch ein dritter Mangel ist vorhanden, der sich jedoch nicht wohl ausdrücken läßt.)

Liebten wir Burschen durch unseren eigenen Willen und nicht vielmehr deßhalb, weil wir nicht anders können, d. i. von Natur: wir wären die thörichtsten unter den Menschen. Wahrhaft absurd würde es sein, uns für so thörichte Menschen halten zu wollen.

Diese meine Erklärung zeigt euch zugleich, daß ich meines Orts das Verlangen erfülle, das ich in der Einleitung an euch gestellt habe. Denn meine Empfindungen sind Horror vor dionäischer Liebe. Meinen Verstand aber habe ich emancipirt von der Herrschaft meiner Empfindungen. Gleichsam von mir selbst habe ich mich frei gemacht. Hoch über mich selbst habe ich mich gestellt. In den freieren Regionen über uns selbst: da wohnt das Verständniß. Da werden auch wir einander die Hände reichen.

c. zu A.

Zu §. 1.

§. 91. Auch noch ein anderer Gegenstand bleibt mir in einer besonderen Schrift V. Ara spei. auszuführen, nämlich der Beweis des Satzes: »daß es zwar sittliche Pflicht ist, urnische Liebe zu zügeln, daß aber innerhalb gewisser Gränzen ihre Uebung sittlich vollkommen erlaubt ist.« Zugleich werde ich die gegen diesen Satz zu erhebenden Einwände prüfen. Dabei werde ich eine Frage berühren müssen, die zu demselben in Beziehung steht: »Ob es unter gewissen Voraussetzungen einem jungen Dioning sittlich erlaubt sei, einem Urning Liebesgenuß zu gewähren«: eine Frage, deren Beantwortung namentlich Sokrates und Plato ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben. Ungezügelte mannmännliche Liebe werde ich nie vertheidigen. Jenes Erlaubtsein beruht auf einem moralischen Recht, und zwar auf einem angebornen Menschenrecht.

d. zu §. 55.

§. 91 a. Noch ein anderer Fall aus Frankfurt wird mir, während des Drucks, mitgetheilt. In einem der Jahre von 1854 bis 1859 hat im Felde am Frankfurter Kirchhof ein Urning durch einen Pistolenschuß sich entleibt, welcher in Darmstadt wegen urnischer Liebe in Criminaluntersuchung gezogen werden sollte und verfolgt wurde. Von guter Hand mitgetheiltes erzähle ich. Es war der Großherzoglich Hessische Hofmarschall v. ... Auch diesen also habt ihr auf der Seele.

e. zu §.23.

§. 91 b. Diese Wonne an ihm, diese wahre Liebe zu ihm, ist nicht etwa, wie ihr vermuthen möchtet, Folge eines genossenen Liebesgenusses. Allem Genuß geht sie vielmehr voran. Wir empfinden sie nach Eintritt der Pubertät sofort: ehe wir den mindesten Liebesgenuß an einem jungen Manne geschmeckt haben.

f. zu §.51. Anmerk.

§.91 c. Nachträglich wird mir mitgetheilt. Dr. v. ... habe, »sich an den Redacteur wendend«, denselben wegen falscher und kränkender Berichte über ihn injuriirt. Das critisirte Verfahren des Redacteurs gegen ihn scheint danach nun zwar auf zwei Gründen zu beruhen: auf dem bezeichneten urnischen Rufe und auf dieser Injuriirung. Die Injuriirung scheint dem Redacteur indeß Nebensache zu sein: thatsächlich, mindestens ostensibel. Von ihr nimmt er ja in seiner »localen Nachricht« nicht Notiz. Sein ganzes kränkendes Benehmen gegen Dr. v. ... concentrirt er auf dessen Persönlichkeit; vielleicht: »als sei eine solche Persönlichkeit gar nicht mehr fähig zu beleidigen.« Die Anmerkung, die sich auf Johann Baptist Schweitzer bezieht, fehlt in der Neuausgabe von 1898.

*

C.
Schlußziehung.

§.92. Die vorstehend geschilderten Erscheinungen sind nun aber nichts anderes, als Symptome einer natürlichen, d. i. einer angebornen Geschlechtsliebe, insonderheit einer weiblichen Geschlechtsliebe. Es sind Symptome sowohl einer angebornen Geschlechtsliebe selbst, als auch solche, welche nur als Begleiter derselben auftreten, Hauptsymptome, wie Nebensymptome oder begleitende Symptome. Die geschilderten Erscheinungen scheinen mir aber auch gerade sämmtliche wesentlichen Symptome einer angebornen Geschlechtsliebe zu umfassen. Ich wüßte in der That nicht, welche wesentlichen Symptome eine angeborne Geschlechtsliebe außerdem noch zeigen müsse.

So erscheinen denn sämmtliche wesentlichen Symptome einer angebornen weiblichen Geschlechtsliebe im Urning vereinigt.

Falls außer den geschilderten noch andere Symptome sollten gefordert werden können, so sind im Urning ganz gewiß auch diese zu finden.

Die Fruchtbarkeit der Liebesacte kann zu den zu fordernden Symptomen angeborner Geschlechtsliebe nicht gezählt werden. Die Geschlechtsliebe auch der Zwitter ist unbestritten angeboren, und dennoch sind ihre Liebesacte unfruchtbar Hirschfeld merkt in der Neuausgabe von 1898 (S. 77) an: »Neuere Forschungen haben ergeben, dass der Verkehr der Zwitter unfruchtbar sein kann.«. Fruchtbarkeit ist Liebessymptom nur bei einer bestimmten von der Natur geschaffenen Geschlechts-Individualität, nämlich der regelmäßigen, also nicht bei jeder von der Natur geschaffenen Geschlechts-Individualität. (Fruchtbarkeit ist übrigens nur ein mittelbares Symptom. Die dargestellten Erscheinungen dagegen sind sämmtlich unmittelbare Symptome der Geschlechtsliebe.)

§.93. Wer unter euch, die vorgetragenen Gründe wegwerfend, zu mir sprechen würde: »Ich fordere bessere Gründe«, gegen den trete ich meinerseits mit der Forderung auf: » Beweise du jetzt mir, daß dir Liebe zum Weibe angeboren ist«, den frage ich und bitte um Antwort: »Mit welchen anderen Gründen wirst du mir diese deine geschlechtliche Naturanlage beweisen? Wirst du nicht die analog ganz gleichen Gründe für dieselbe vorbringen? also namentlich nicht die von mir angeführten Symptome einer angebornen geschlechtlichen Liebe? Kannst du aber für dich bessere Gründe nicht vorbringen: so hast du wenigstens kein Recht, von mir bessere Gründe zu verlangen.«

§.94. Einem protestantischen Geistlichen gegenüber wohl Ulrichs’ Schwager Ludewig. behauptete ich einst meinen Satz: »Die Natur oder Gott habe neben Männern und Weibern auch noch ein drittes Geschlecht geschaffen, nämlich uns.« Der Geistliche bestritt dies. »Ihr selber habt«, sagte er, »die Natur, die Gott euch gab, verlassen. Gott hat ein drittes Geschlecht nicht geschaffen; denn in der Bibel steht nur:

›Und Gott schuf ein Männlein und ein Fräulein.« Von einem dritten Geschlecht steht nichts dabei.‹

Auf denselben Grund hin würde man auch leugnen müssen, daß Gott es sei, der die Zwitter geschaffen habe. Auch diese müssen dann wohl dadurch entstanden sein, daß sie selber die Natur, die Gott ihnen gab, im Mutterleibe verlassen haben!

§.95. Nach dem vorgetragenen sind nun in uns Urningen folgende einzelnen Symptome einer angebornen, und zwar weiblichen, Geschlechtsliebe vorhanden:

  1. Unsere Geschlechtsliebe ist auf das männliche Geschlecht gerichtet.
  2. Mit dem Eintritt der Pubertät erwachte unsere Geschlechtsliebe sofort als Liebe zum männlichen Geschlecht. Dies geschah ohne das geringste Zuthun. Seitdem haben wir stets so gefühlt, ununterbrochen.
  3. Unsere Liebesträume zeigen uns stets männliche Gestalten. Auch dies ist von Eintritt der Pubertät an ununterbrochen stets der Fall gewesen.
  4. Richtung der Neigung auf blühende und schöne, auf junge Individuen.
  5. Richtung der Neigung auf junge, aber auf erwachsene, Individuen (auf puberes), nicht auf Knaben.
  6. Horror vor geschlechtlichen Berührungen mit Weibern.
  7. Es ist wahre Liebe, was wir zu einem blühenden jungen Manne empfinden. Wir empfinden Liebeswonne nicht nur in Folge unseres subjektiven Zustandes der Liebesbedürftigkeit, und nicht nur an uns selbst, sondern vor allen Dingen und wesentlich an ihm, an seinem ganzen Ich.
  8. In der körperlichen Berührung mit ihm empfinden wir – schmecken wir gleichsam – eine belebende, äußerst wohlthuende, magnetische Durchströmung.
  9. In körperlicher Berührung mit weiblichen Wesen dagegen empfinden wir von derselben nichts. Ja, ist die Berührung mit einem weiblichen Wesen irgend geschlechtlicher Art, so tritt für uns eine unangenehme Empfindung ein.
  10. Unsere Liebessehnsucht ist innig und zart. Sie ist demuthsvoll und hingebend gleich weiblicher Liebe.
  11. Unausrottbarkeit der urnischen Liebe durch die Willenskraft.
  12. Weibliches Wesen in Charakter und Manieren, weiblicher Habitus. (Begleitendes Symptom.)
  13. Verbreitung urnischer Liebe unter allen Völkern, Jahrhunderten, Zonen und Berufsclassen, und unter allen Culturstufen. (Begleitendes Symptom.)

Hinzu treten:

  1. Die Analogie der Zwitter, insonderheit die der weiblich liebenden, gleichwohl mit Testikeln versehenen, Zwitter.
  2. Das körperliche Substrat für weibliche Geschlechtsliebe, welches im Urning als Embryo vorhanden gewesen ist, beziehungsweise, nämlich in seinen Ueberbleibseln, noch im erwachsenen Urning vorhanden ist.
  3. Die Fähigkeit des in ausnahmslos jedem Embryo schlummernden Keims des geschlechtlichen Liebestriebes, bei seiner Entwicklung weibliche Richtung anzunehmen.
  4. Die Unmöglichkeit, daß jemals der Dioning die Empfindung geschlechtlicher Liebe zu Männern durch seine Willenskraft in sich erzeuge.
  5. Einzelne Urninge haben den Grund urnischer Liebe bereits in einer Gabe der Natur gefunden.
  6. Dasselbe haben sogar bereits einzelne Dioninge gefunden, nachdem sie sich vorurtheilslos beschäftigt hatten entweder mit den historischen Nachrichten über urnische Liebe oder mit den übereinstimmenden Mittheilungen einzelner lebender Urninge über dieselbe. Schon allein hiedurch gelangten sie zu der Ueberzeugung, urnische Liebe müsse in der Natur selbst ihren Grund haben.

Uebrigens bitte ich zu vergleichen Vindex §§.8.9.10.17. 22.26.32.

*

§.96. Hiemit glaube ich denn durch wissenschaftliche Gründe den Beweis geführt zu haben:

Einer Classe von männlich gebauten Individuen ist weibliche Geschlechtsliebe oder weibliche Richtung des geschlechtlichen Liebestriebes, d. i. mannmännliche Liebe, angeboren, und zwar in demselben Maße angeboren, wie dem Dioning Geschlechtsliebe zu Weibern und wie dem Weibe Geschlechtsliebe zu Männern angeboren ist.

*

Anhang.

I.
Eure Antipathie und die geschlechtliche Bestimmung des Dionings.

§.97. Man hat mir verrathen, unter euch Dioningen hätten bisher einzelne, indem sie uns Urninge einfach für Männer hielten, eine Art unheimlichen Gefühls vor uns empfunden. Dasselbe ist mir vollkommen erklärlich. Gleichwie es aber dem Irrthum entsprang, wir seien Männer, ebenso wird es auch erlöschen mit der gewonnenen Ueberzeugung, der Urning sei ein weibliches Wesen, das nur in einen männlichen Körper eingeschlossen ist.

Sunt mihi barba maris, artus, corpusque virile;
His inclusa quidem: sed sum maneoque puella. siehe zum Titel.

§.98. Sollte euch aber nicht vielleicht auch vor solch' seltsamen Doppelwesen grauen?

Nun, dann müßte euch ja auch vor dem Wallfisch grauen und vor dem Delphin, welche ebenfalls seltsame Doppelwesen sind, nämlich in eine Fischgestalt, in eine beinlose und haarlose geschwänzte und gefloßte Fischgestalt, eingeschlossene Säugethiere.

Dann müßte euch auch vor den Schnecken grauen, welche fast noch seltsamere Doppelwesen sind, indem nämlich jede einzelne Schnecke Männchen und Weibchen in einer Person ist. Getrennte Männchen und Weibchen giebt es unter ihnen nicht. Sie sind unter einander sämmtlich geschlechtlich gleichgeartet. Ein gleichgeartetes Wesen umkreist kriechend, von Geschlechtsliebe getrieben, ein geschlechtlich vollkommen gleichgeartetes. Plötzlich berühren sie sodann einander in gegenseitiger enger Umschlingung.

Ja, dann müßte euch auch vor euren geliebten Weibern grauen, und sogar vor euch selbst. Alle Weiber sind ja zwitterhaft gestaltet, und ihr selber seid ja zwitterhaft gestaltet. (Siehe oben §. 7.)

§. 99. Sollte euch endlich grauen vor Liebesberührungen zwischen dem weiblich gearteten Urning und seinem Geliebten, dem männlich gearteten jungen Dioning? Schwerlich, sobald ihr diese Berührungen auffasset aus dem Gesichtspunkt, den ich im Vindex §.53. dargestellt habe, d. i. aus dem Gesichtspunkt jener wundersamen Fähigkeit, die die Natur dem jungen Dioning verlieh, nicht nur dem Weibe, sondern ebenso auch uns, den vollen reinen Liebesgenuß zu gewähren, und zwar nicht nur den Liebesgenuß überhaupt, sondern in demselben insonderheit auch die wohlthätige, belebende, die Lebenskraft stärkende, magnetische Durchströmung, welche geradezu als medizinisches Heilmittel zu betrachten ist.

§. 100. Ueber die geschlechtliche Bestimmung des Dionings ist man hienach bisher sehr im Irrthum gewesen.

Allerdings hat die Natur ihn für das Weib bestimmt, nämlich:

  1. zur Erfüllung des auf Fortpflanzung gerichteten Naturzweckes des geschlechtlichen Liebestriebes, d. i. zur Befriedigung des Bedürfnisses des Menschengeschlechts, also der Gattung, welche Fortdauer verlangt;
  2. zur Erfüllung der nicht auf Fortpflanzung gerichteten geschlechtlichen Naturzwecke, d. i. zur Befriedigung der geschlechtlichen Bedürfnisse des einzelnen Menschen, des Individuums: Liebesgenuß, Linderung der Liebespein, magnetische Durchströmung, medicinisches Heilmittel.

Allein die Natur hat den Dioning keinesweges für das Weib allein bestimmt, sondern ebensowohl auch für den Urning, nämlich:

zur Erfüllung der nicht auf Fortpflanzung gerichteten geschlechtlichen Naturzwecke, d. i. zur Befriedigung der geschlechtlichen Naturbedürfnisse des einzelnen Menschen. [In einer gewissen Uebereinstimmung hiemit wird bei den Griechen es sogar als eine Versündigung aufgefaßt, wenn ein junger Dioning einen wackeren Liebenden verschmäht. Siehe in der dritten Schrift die Narcissus-Sage Der Jüngling Narkissos verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild, verging vor Sehnsucht und wurde in die nach ihm benannte Blume verwandelt. Vgl. Ovid, Metamorphosen 3, 339-510. Theokrit, Idyll 23: siehe oben zu S. 26. und Theokrit's Idyll 23.]

Es scheint mir sogar irrig zu sein, den auf Fortpflanzung gerichteten Zweck für den Hauptzweck des geschlechtlichen Liebestriebes zu erklären und die übrigen nur als Nebenzwecke gelten zu lassen. Der Unterschied ist ja nur der, daß jener die Gattung betrifft, diese das Individuum. Liebesglück aber und Liebesseligkeit und Linderung der unnennbaren Qualen der Liebe sind für das Individuum ebensosehr Hauptzwecke, und zwar vollgültig berechtigte, wie für die Gattung die Fortpflanzung ein vollgültig berechtigter Hauptzweck ist.

II.
Nichtgeschlechtliche Anziehung zwischen Dioning und Urning.

§.101. Zwischen Mann und Weib besteht außer der geschlechtlichen Liebesanziehung noch eine andere Anziehung, und zwar eine gegenseitige.

Das Weib fühlt, in einzelnen Lagen des Lebens, daß es eines Schutzes und Haltes dringend bedürfe, und es findet denselben in der thatsächlichen Nähe eines ihm verbundenen Mannes, namentlich eines zugleich geliebten: Gatte, Verlobter, Verwandter, Freund; nicht in der Nähe eines Weibes. In anderen Lagen dagegen sucht es eine Freundin auf; da gilt das Wort: »Gleich und gleich gesellt sich«.

Der Mann seinerseits fühlt in einzelnen Lagen, daß er der Nähe nicht eines Mannes, nein, eines weichen, sanften und empfindungsvollen Wesens ebenso dringend bedürfe, das helfend, tröstend, lindernd, im Charakter der Milde und der Weichheit, ihm zur Seite stehe. Eines »fühlenden Herzens« bedarf er. Des Mannes Trost ist dem Weibe stärkend, der des Weibes dem Manne lindernd. Unwillkührlich nähert er sich daher in solchen Lagen dem Weibe. Nicht immer ist es ihm Bedürfniß, unter seines gleichen zu sein.

§.102. Ganz ebenso nun besteht eine nichterotische Anziehung auch zwischen Dioning und Urning. Und zwar, seltsam: diese nichtgeschlechtliche Anziehung ist, wenn mich nicht alles täuscht, auch hier, nicht nur zwischen Mann und Weib, eine gegenseitige.

D. i.: in einzelnen Lagen des Lebens fühlt sich auch seinerseits der Dioning zu einem Urning mehr hingezogen, wie zu seines gleichen; zu einem Urning, der ihm an Charakter, im Auftreten und Benehmen doch so unähnlich ist; vermuthlich aber in ähnlicher Weise, wie er zu einem Weibe nichtgeschlechtlich sich hingezogen fühlt. Offenbar unbewußt. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn ich nicht hin und wieder wahrgenommen hätte, daß ein Dioning ohne erkennbaren Beweggrund und ohne bewußten Zweck die Nähe eines Urnings aufgesucht habe. Schon oben habe ich diesem Gedanken Raum gegeben (§.38. Parenthese). Unabhängig von mir ist ein anderer Urning, ein lebender, auf denselben Gedanken gekommen. Er schreibt mir, sehr treffend: »Nähert sich der Dioning dem Urning, so thut er es, weil er in ihm eine Art von weiblichem Wesen fühlt und in seiner Mannheit dies erkennt.« »Unbewußt erkennt«, möchte ich sagen. Dahin scheint auch die Anziehung zu rechnen zu sein, die die empfindungsreichen Poesien der Urninge, die nichterotischen, weiblich zarten und edlen Charakters, auf Dioninge ausüben, und das begeisterte Lob, das sie Dioningen oft abgelockt haben. Ich nenne Pindar's Poesien, Sophokles', Anakreon's, Theokrit's, Virgil's, Platen-Hallermund's.

§.103. Das ist die eine Seite der nichtgeschlechtlichen Anziehung zwischen Dioning und Urning. Weit entschiedeneres Zeugniß vermag ich abzulegen für die andere.

Zwar gesellen auch wir uns gern zu unseres gleichen, Urning zu Urning. Als Kind suchte ich die Gespielinnen meiner Schwester auf. Allein oft, wenn ich, erwachsen, mich in schwierigen Lagen wußte oder wenn ich mich einsam und verlassen fühlte: wie oft hat mich da verlangt nach Stütze und Stärkung; wie oft habe ich da einen Gefährten mir zur Seite gewünscht! Aber nicht eine Gefährtin – eine s. g. »Lebensgefährtin« am allerwenigsten –, auch nicht einen Urning. Nach einem männlichen Gefährten trug ich Verlangen. Zwar schweiften dabei meine Gedanken zuerst stets hin zu irgend einem bestimmten jungen Manne, der zugleich Liebe in mir erregt hatte. Aber auch eines bloßen aufrichtigen Freundes Nähe, eines männlichen, begehrte ich. Dachte ich an den, der zugleich Liebe in mir erweckt hatte, so war mein Verlangen nach ihm ganz ähnlich dem, das ich mich erinnere als ganz kleiner Knabe empfunden zu haben – wenn ich, Nachts allein im Bette liegend, erwachte, und eine unnennbare, unbestimmte Bangigkeit mich ergriff – nach meiner Mutter. Bei meiner Mutter war meine Zuflucht, mein Schutz und meine Hülfe. Welche Seligkeit überkam mich, wenn ich heraussteigen durfte aus meinem kleinen Bette und zu meiner Mutter kommen! Mit nichts anderem in der Welt aber ist das Verlangen vergleichbar, das, wenn ich mich verlassen fühle, mich ergreift zu einem trauten jungen Manne, als mit dieser Zufluchtsbedürftigkeit des Kindes.

Bemerkenswerth ist die Thatsache: Urninge pflegen eine große Liebe zu ihren Müttern, oft eine wahrhaft rührende, zeitlebens zu bewahren. (Ein Beispiel siehe in der III. Schrift.) Dennoch vermag die Mutter einem erwachsenen Urning die Leere seines Gemüths nicht mehr auszufüllen und seine Zufluchtsbedürftigkeit nicht mehr zu befriedigen. Dazu bedarf es eines männlichen Gefährten, und namentlich eines geliebten.

§.104. Auch in dieser gegenseitigen Anziehung zwischen Dioning und Urning, der nichterotischen, dürfte ein Beweis liegen: daß die Natur den Dioning keinesweges für das Weib allein bestimmt habe, sondern auch für den Urning. Und ferner beweist diese Anziehung: mit welch' tiefen magnetischen Gewalten sie uns hingewiesen habe auf das männliche Geschlecht.

III.
Geschlechtliche Unbehaglichkeit des Urnings im eigenen Körper.

Antoninus Heliogabalus.

§. 105. Eine der augenfälligsten und zugleich beweiskräftigsten Thatsachen ist ein gewisses Gefühl der Unbehaglichkeit in dem eigenen Körper, eine gewisse Unzufriedenheit des weiblichen Gemüths mit dem männlich gebauten Körper, in welchen es eingeschlossen ist. [Die Lage des urnischen Gemüths möchte ich vergleichen mit der unbehaglichen Lage einer linken Hand, die in einem rechten Handschuh steckt.]

§. 106. Ursprünglich vorhanden ist diese Unbehaglichkeit in jedem Urning. (Angedeutet ist sie oben in §. 90: dritter Mangel.)

Zwar mag sie sich verwischen und abschleifen in dem Grade, in welchem der Urning an die männliche Erziehung und sociale Stellung, die man künstlich ihm giebt, mehr und mehr sich gewöhnt. Auch gelangt sie wohl nicht bei jedem Urning zum klaren Bewußtsein: bei diesem also zu einem nur unklaren, bei jenem vielleicht zu gar keinem, und nur bei einzelnen zu einem mehr oder weniger klaren.

Allein daraus folgt nicht, daß sie nicht in jedem Urning ursprünglich vorhanden sei. Denn auch das weibliche Element gelangt nicht bei jedem zum Bewußtsein. Bei mir selbst ist es, wie gesagt, erst sehr spät zum Bewußtsein gelangt, und würde vielleicht nie dazu gelangt sein, wenn ich nicht über das Räthsel der urnischen Liebe nachgedacht hätte, oder nicht andere Urninge kennen gelernt hätte. Des Urnings Muliebrität in Gemüth und Geschlechtsliebe variirt überhaupt in den einzelnen Urningen, sowohl der Art wie dem Grade nach: analog der Muliebrität der Weiber und der Virilität der Dioninge. Die bezeichnete Unbehaglichkeit oder Unzufriedenheit aber ist ein Stück der urnischen Muliebrität.

§. 107. Daß dieselbe nun aber bei einzelnen Urningen sehr klar zum Ausdruck kommt, bin ich in der Lage nachzuweisen: und zwar zur Zeit an zwei Beispielen, von denen das eine dem 19 ten, das andere dagegen dem 3 ten Jahrhundert unserer Zeitrechnung angehört. Das eine ist das des Jüdischen Urnings Blank, bereits oben angeführt in §. 18. Das andere ist das des Römischen Kaisers Antoninus Heliogabalus, von dem ich unvollständig bereits ebenfalls (in §. 19 a.) berichtet.

Dies Beispiel werde ich jetzt genauer nachtragen, und zwar nach dem sorgfältigen Bericht seines Zeitgenossen, des Römischen Senators Dio Cassius (um 150-235 n. Chr.), römischer Historiker., eines Dionings. Zugleich werde ich alles anführen, was derselbe über dessen weibliches Wesen überhaupt berichtet.

§. 108.  Antoninus Heliogabalus (218-222 n. Chr.) kam in dem jugendlichen Alter von 14 Jahren zur Regierung, war jedoch in Syrien aufgewachsen, wo die Pubertät früher eintritt, als in Deutschland, und kam bereits im Alter von 18 Jahren um's Leben. Er war offenen Charakters, von jugendlicher Naivetät, sehr zu Scherz und Spaß geneigt, von großem Leichtsinn und durchaus ungenirtem Betragen. Er scheint sich nicht die geringste Mühe gegeben zu haben, seine Liebe zum männlichen Geschlecht oder sein weibliches Wesen vor den Leuten zu verbergen, und sich gar wenig gekümmert zu haben um dionische Lästerzungen. Bei solchem Charakter konnte das weibliche Element des Urnings völlig zwanglos zur Entfaltung gelangen. Die Einzelheiten seiner Erscheinung sind daher von besonderem Gewicht.

§. 109. Dio Cassius erzählt nun von ihm in seiner Römischen Geschichte (Buch 79. Cap. 14.):

»Sprach er Recht, so schien er noch zur Noth ein Mann zu sein [ἀνήρ πως εἶναι]. In den anderen Stücken aber, in seiner Handlungsweise [τῷ ἔργῳ] und im Ton [τῷ υχήματι] seiner Stimme, zierte er sich, coquettirte er [ὡραίζετο; die Interpreten: »muliebrem affectabat mollitiem«. Vergl. oben §. 18. Blank, »läppische Affectation«.) ... »Er verheirathete sich in der Rolle des Frauenzimmers« [wie Blank zu thun vergeblich gewünscht hatte] »und ließ sich nennen »Gattin«, »Herrin« und »Kaiserin« (βασιλίς). Auch spann er Wolle [ἐριούργει, lanam tractabat: Blank nähte, strickte und stickte] »und trug gern das flammeum [κεκρύφαλον: eine Kopfbedeckung der verheiratheten Damen: Haarnetz, Damenmütze; Blank steckte sich ganz in Weiberkleider) »und schminkte sich mit weißer und rother Farbe.«

Herodian griech. Historiker (3. Jh.) (V. 6,24.) sagt von ihm: »Seine Brauen schwärzte er, seine Wangen röthete er, sein von Natur schönes Gesicht mit Farbstoffen verunzierend.«

[Abgesehen vom Theater schminken sich bekanntlich heute nicht selten Damen; aber auch Urninge. Von schminklustigen Urningen habe ich viel vernommen.]

§. 110. Dio fährt fort: »Einmal nur legte er seinen Bart ab und feierte dieserhalb ein Fest«. [Die Juvenalia, Jünglingsfest, also nach Mannesart.) »Seitdem jedoch machte er sich bartlos [ἐψιλίζετο«, machte sich glatt, nackt; nicht etwa: rasirte sich, sondern: ließ sich die Barthaare ausrupfen], » um auch in diesem Stücke ein Frauenzimmer darzustellen [ὤστε καὶ ἐκ τούτου γυναικίζειν«: auch Blank zerstörte seinen Bart].

Cap. 13. sagt Dio: »Wenn im Palast seine Geliebten an seiner Thür vorübergingen, so rief und lockte er sie an (im Scherz) mit zarter und schmelzender Stimme [ἁβρᾷ καὶ κεκλαυμένῃ τῇ φωνῇ«, molli fraciaque voce).

§. 111. Cap. 15.: »Ihr Mann war Hierokles [ὁ ἀνἠρ αυτῆ«, nämlich Gatte des kaiserlichen Urnings]. »Oft beging er gegen diesen Gatten eine eheliche Untreue und ließ sich dabei gern absichtlich von ihm ertappen. In solchen Fällen strafte ihn der Mann mit tüchtigen Strafreden, ja mit Ohrfeigen, von denen er mitunter sogar blaue Flecken im Gesichte trug. Er aber liebte ihn mit heftiger und tiefer Liebe, und diese Behandlung nahm er nicht nur nicht übel, sondern er liebte ihn dabei nur um so heftiger. Er beabsichtigte, ihn zum Cäsar zu ernennen.« [Daß Schläge, die ein blühender junger Mann austheilt, weibliche Liebe entzünden, ist, so paradox es klingt, durchaus nichts unerhörtes. Ich kenne Beispiele davon aus unserer Zeit bei Weibern wie bei Urningen. Offenbar ist die körperliche Berührung dabei im Spiel und die magnetische Strömung, die in der Berührung aus dem einen Körper in den anderen übertritt.]

§.112. Cap. 16.: »Als der schöne jugendliche Athlet Aurelius Zoticus zu ihm in den Palast trat und ihn grüßte mit dem üblichen Gruß! »Κύριε αύτοκράτωρ, χαῖρε!« [Sei gegrüßt, Mein Herr und Kaiser. Salve, domine Imperator), »drehte er den Nacken seltsam und mädchenhaft (ϑαυμαστῶς τόν αὐχένα γυναικίσας) und verdrehte die Augen (τούς ὀφϑαλμούς ἐπεγκλάσας ἠμείψατο) und sagte: »Nenne mich nicht Herr (κύριον); Herrin bin ich (κυρία)« ... (Er sank dem Aurelius an die Brust. An seinem Busen liegend, wie eine Geliebte (ὥςπερ τις ἐρωμένη) nahm er das Mahl.«

Aurelius Victor (epit. 23, 3.) erzählt: »Statt Bassianus ließ er sich, mit weiblichem Namen (muliebri nomini), »Bassiana« nennen.« [Sein ursprünglicher Name war nämlich Bassianus.] Ist das nicht dasselbe, wie, wenn Blank unter dem Namen »Friederike Blank« seine Verlobung anzeigt, oder wenn George sich »Georgine« nennen läßt?

§. 113. Daß die Dioninge seiner Zeit Urninge unserer Zeit: muß jeweils »Dioninge« heißen (Korrektur in V. Ara spei S. VI)., den Dio Cassius an der Spitze, und ebenso, daß die Dioninge unserer Zeit dem Antoninus alles so eben mitgetheilte ohne weiteres Nachdenken kurzweg zur Schande angerechnet haben, darf nicht Wunder nehmen bei der wahrhaft sträflichen Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit, mit der man über Urninge abzuurtheilen gewohnt ist. Einigermaßen dagegen wundere ich mich, wenn Dio in seiner dionischen Oberflächlichkeit so weit geht, auch die erwähnte Unzufriedenheit mit dem geschlechtlichen Bau des eigenen Körpers ohne weiteres ihm zum Vorwurf zu machen.

§. 114. Cap. 16. am Schluß sagt er nämlich: »Seine (böse) Begierde (ἀσέλγειαν, libidinem) trieb er so weit, daß er die Aerzte bat, große Belohnung ihnen dafür versprechend, durch Operation (δι' ἀνατομῆς, durch schneiden) ihm ein weibliches pudendum [αἰδώ γυναικείαν] herzustellen« [δι' ἐντομῆς, durch Einschnitt, nach Cedrenus Georgios Kedrenos, griech. Historiker (11./12. Jh.).].

Cap. 11. sagt er, was ebenfalls hierauf zu beziehen ist: »Seine Geschlechtstheile wollte er sich gänzlich abschneiden lassen seiner (bösen) Begierde wegen.« [Έβουλεύσατο παντάπασιν αὐτό (scil. τό αἰδοῖον) ἀποκόψαι … τῆς μαλακίας ἕνεκα]. Sturz ad hunc locum setzt hinzu: »ut esset διφυής«, doppelnaturig.)

Von derselben Bitte an die Aerzte spricht Cedrenus (p. 256.):

»Τόν ἰατρόν ήντιβόλει, διφυῆ αὐτόν δι' ἐντομῆς ἐμπροσϑίας τῇ τέχνῃ ποιῆσαι« »Den Arzt bat er, künstlich ihn doppelnaturig zu machen durch einen Einschnitt vorn am Körper.«

§. 115. Indeß verdient doch Dio unser Staunen nur in einem erheblich geringeren Grade, als der im §. 18. genannte wissenschaftlich gebildete Berichterstatter vom Fach, daß er Blank's dort mitgetheilte seltsame Eigenthümlichkeiten genau mit derselben Oberflächlichkeit abfertigt, wie Dio jene des Antoninus, und nur die landläufigen Lästerreden für sie hat. Hauptsächlich aber verdient unsere Bewunderung die gesammte vielgepriesene Wissenschaft der Dioninge, nämlich ob des absoluten Stillstands im Erkennen des Uranismus, vermöge dessen sie im 19. Jahrhundert noch immer auf demselben Fleck stehen, in Unwissenheit wie in Oberflächlichkeit, wie im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Diese Merkwürdigkeit des 19. Jahrhunderts verdient wirklich der Nachwelt als Rarität überliefert zu werden.

§. 116. Ich lege euch jetzt zwei Fragen vor:

1) Woher rührt die seltene Uebereinstimmung in fast allen Einzelheiten zwischen Blank und Antoninus? Woher anders, als von ein und derselben geschlechtlichen Naturanlage, als von einer geschlechtlichen Individualität, die die Natur dem einen wie dem andern ertheilte? Denn schwerlich wird man im Ernst behaupten wollen, der Gardinenaufstecker Blank habe den Dio Cassius gelesen und habe – um mit Herrn Kreisphysikus Fränkel zu reden – »aus läppischer Affectation« dem Antoninus nachgeahmt!

2) Nach eurer Theorie giebt es nur Eine Classe von Männern, nämlich geborne Dioninge; nach eurer Theorie giebt es nicht geborne Urninge; nach eurer Theorie kann in keinem männlich gebauten Körper eine natürliche, eine unerkünstelte, Muliebrität wohnen.

Die mitgetheilten Thatsachen über Blank und Antoninus tragen durchaus das Gepräge der Natürlichkeit, nicht der Erkünstelung. Wollt ihr gerecht sein, so werdet ihr nicht umhin können, dies anzuerkennen. Dieselben sind ferner von Dioningen beglaubigt, vom Kreisphysikus Fränkel zu Dessau und von Dio Cassius, auch mit Zeichen ihrer Antipathie mehr als hinlänglich untermischt.

Wie gedenkt ihr diesen Thatsachen gegenüber jene Theorie aufrecht zu erhalten?

Geschrieben zu Würzburg und Achim
im Sommer und Herbst 1863.

Numa Numantius.


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