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Vier Briefe
von Karl Heinrich Ulrichs (Numa Numantius) an seine Verwandten.

aus: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Band 1 (1899) S. 36-70

Die folgenden Briefe wurden uns von Ulrichs einziger noch lebenden Schwester zur Verfügung gestellt. Sie stammen aus der Zeit vom 22. September bis 23. Dezember 1862; zwei von ihnen waren bestimmt, unter sämtlichen näheren Angehörigen zu circulieren, zwei sind an einen Onkel gerichtet.

Karl Heinrich Ulrichs (Numa Numantius.)
Quelle: Hubert Kennedy

Karl Heinrich Ulrichs war am 28. August 1825 zu Westerfeld bei Aurich geboren. Sein Vater war Baumeister, sein Grossvater evangelischer Superintendent. Er besuchte die Gymnasien zu Aurich, Detmold und Celle, die Universitäten von Göttingen und Berlin. Schon früh legte er einen ungewöhnlichen Fleiss und seltene Beanlagung an den Tag, welche ihm als Student in Göttingen den akademischen Preis, in Berlin die goldene Medaille eintrugen. Er war ein Mann von universeller Gelehrsamkeit, der nicht nur in seinen Hauptfächern, der Jurisprudenz und Theologie, sondern auch in den Naturwissenschaften und der Philosophie völlig zu Hause war, auf einigen Gebieten, wie der Mathematik, Astronomie, Archäologie, Münzen- und Schmetterlingskunde hervorragendes leistete und das klassische Latein in so vollendeter Weise beherrschte, dass zeitgenössische Kenner in ihm den ausgezeichnetsten Vertreter dieser Sprache erblickten. Die lateinisch geschriebene Zeitschrift »Alaudae«, welche er im letzten Lustrum seines Lebens herausgab, erfreute sich bei ihren gelehrten Lesern in allen Ländern einer geradezu enthusiastischen Bewunderung. Ulrichs hatte sich, nachdem er nur kurze Zeit als hannöverscher Amtsassessor thätig gewesen war, früh ins Privatleben zurückgezogen und lebte an verschiedenen Plätzen Deutschlands zuletzt in Stuttgart schlicht und anspruchslos seinen wissenschaftlichen Arbeiten. 1880 siedelte er nach Neapel über, von dort drei Jahre später nach Aquila in den Abbruzen, wo er am 14. Juli 1895 im Krankenhause starb. Freunde der lateinischen Sprache liessen ihm dort ein Denkmal errichten.

 

Im Jahre 1864, also zwei Jahre, nachdem er die untenstehenden Briefe an seine Verwandten richtete, erschienen »Vindex« und »Inclusa« seine ersten Schriften »über das Rätsel der mannmännlichen Liebe,« denen bis 1879 zehn weitere folgten. Sämtliche Ulrich'schen Schriften sind im Sommer 1898 bei Spohr in Leipzig neu erschienen. Seinen Angehörigen zu Liebe, die von einer Veröffentlichung seiner Ansichten dringend abgeraten hatten, nannte er sich Numa Numantius. Erst 1868 bei der Herausgabe von Memnon, seinem Hauptwerke, liess er den Schleier der Pseudonymität fallen.

Seine Werke sind für alle späteren Arbeiten auf diesem Gebiet grundlegend geworden. In ihrem vollen Wert werden sie erst von späteren Geschlechtern gewürdigt werden, er eilte seiner Zeit zu weit voraus.

Die hier zum ersten Mal an die Oeffentlichkeit gelangenden Briefe sind ein wertvolles »document humain«, nicht allein wegen ihres wissenschaftlichen Gehalts, sondern auch wegen des hohen, edlen und wahrhaften Geistes, von dem sie erfüllt sind. Würde nur ein geringer Bruchteil der Urninge einen ähnlichen Mut und Eifer bekundet haben, es würde um die Sache des Uranismus besser bestellt sein. Verständlich freilich ist diese Zurückhaltung; denn noch heute gilt das Dichterwort, dessen Richtigkeit auch Ulrichs hat erfahren müssen:

»Nur wer sein eigen Glück ans Kreuz geschlagen,
Kann ein Erlöser für die Menschheit sein.«

Frankfurt, den 22. September 1862.

I.

Liebe Schwester!

Endlich ist es wohl Zeit, Deine beiden lieben Briefe vom 13. und 20. Juni d. J. zu beantworten und Dir recht herzlich zu danken für Deine freundliche und gewiss sehr mühsame Besorgung meiner Burgdorfer Angelegenheiten. Ueber diese Besorgung nächstens mehr, heute nur die andre Sache.

Dass ich nicht früher schrieb, daran ist Schuld lediglich grosse Ueberhäufung mit Arbeit, da nämlich einen ganz kleinen kurzen Brief in dieser Sache Dir zu schreiben nicht möglich war. Ich erhielt den zweiten Brief, nebst Anschreibekalendern, in denen die sehr vermissten Notizen leider nicht vorhanden waren, erst während des Schützenfestes, welches mich von früh bis spät in Anspruch nahm, da ich darüber an Zeitungen berichtete. Später erhielt ich von meinem Chef Justin T. B. Linde (1797-1870), Gesandter beim Bundestag in Frankfurt. verschiedene, und zwar augenblicklich drängende und sehr wichtige Arbeiten. Und endlich bin ich fortwährend beschäftigt mit einer Arbeit aus Gefälligkeit für Tewes jun. siehe zu III. Vindicta S. XIV. in Achim, nämlich das Manuskript eines juristischen Buches für ihn vor dem Druck durchzukorrigieren, eine sehr langweilige, schwierige und langwierige Arbeit. Da schon gedruckt wird, so hat er mich in letzter Zeit noch dazu sehr gedrängt, ununterbrochen daran zu bleiben. Das war auch der Grund, dass ich nicht einmal zu Deinem Geburtstag schrieb, (meine herzlichen Wünsche für Dich leben ja ohnedies); einen kurzen blossen Gratulationsbrief nämlich wollte ich nicht gerne schreiben.

Nun zur Sache. Liebe Schwester, das ist endlich einmal ein Ton, in dem Du da schreibst, der, wenn irgend, etwas auf Erden, wirksam sein müsste, wirksamer als alle Eure früheren Schroffheiten. Durch solchen liebevollen Ton ziehst Du alle Stacheln aus meinem Herzen und erreichst alles, was erreichbar ist.

Zuvor Deinem Wunsch gemäss die Versicherung, dass ich Deinen Brief nicht circulieren lassen werde.

Sodann erkenne auch ich wenigstens einen Ansatz von Unbefangenheit darin, dass Du schreibst, stellenweis habest Du gedacht: »Karl hat Recht.«

Alles übrige aber, liebe Schwester, beruht auf falschen Voraussetzungen. Die gesperrten Stellen sind in den Briefen einfach, die fettgedruckten mehrfach unterstrichen. Mit grosser Liebe ermahnst Du mich, jetzt den Entschluss der Umkehr zu fassen. Du giebst zu, die Umänderung möge sehr schwer sein. Aber Gott werde helfen.

Das lautet sehr schön – und wäre auch ganz richtig gesprochen, wenn meine Neigung eine Angewöhnung oder eine Abirrung von meiner angeborenem Natur wäre. – Aber, liebe Schwester, selbst das allerschönste Frauenzimmer zu lieben, ist mir absolut unmöglich, und zwar lediglich deshalb, weil kein Frauenzimmer mir auch nur eine Spur von Liebesempfindung einflösst, kein Mensch aber sich selbst durch seine eigene Willenskraft Liebe gegen bestimmte Personen oder Geschlechter einflössen kann. Dies ist auch stets bei mir so gewesen. Hättest Du Recht, ich hätte jemals auch nur eine leise Spur von Liebe empfunden zu Dorette K., Auguste H., Louischen Ü., oder zu einer der vielen jungen Mädchen, mit denen ich getanzt, dann hättest Du auch im übrigen Recht, dann fiele mein ganzes System zu Boden, und alle meine Sätze von a bis z wären irrig.

Aber, liebe beste Schwester, wie in aller Welt kannst Du dazu kommen, mir zu jenen Damen Liebe anzudichten? Du wirst doch unmöglich Jugendfreundschaft und Verwandtenliebe zu Louischen Ü. und Dorette K. verwechseln wollen mit geschlechtlicher Liebe? Dass Du aber Auguste H. nennest, das wundert mich in noch weit höherem Grade. Das indirekte Verhältnis, in dem ich zu Auguste H. stand, solltest Du, meine ich, kennen. Die Zuneigung, die ich für sie, wie auch für ihre Eltern fühlte, war ja nur der schwache Abglanz der herrlichen Sonne einer Liebe, gleichwie die Bergesgipfel, die in der Abendsonne erglühen, nicht die Sonne selber sind, sondern nur von ihr bestrahlt werden. Ich will das Heiligtum dieser Liebe nicht lüften, und ich hoffe auch von Dir, dass Du nicht so indiskret sein wirst, dieses mein Heiligtum zu berühren.

Du sagst selbst, eine tiefe, ernste, wahrhafte Liebe gegen jene Damen hättest Du bei mir nicht bemerkt, nur ein oberflächliches Tändeln und Scherzen. Das ist gewiss eine sehr richtige Bemerkung. Das heisst mit anderen Worten: es war gar keine Liebe. Damit fällt schon Dein fernerer Einwand: »Du warst eifrig und vergnügt dabei; also kann es nicht etwa ein erzwungener Versuch gewesen sein, eine Neigung zu Mädchen hervorzulocken.« Das ist ganz richtig. An dergleichen mir widernatürliche Versuche habe ich damals und überhaupt niemals gedacht. Ich habe damals über das Absonderliche meiner Neigung und Nichtneigung, bezw. Abneigung gar nicht nachgedacht. Ich hatte nicht den mindesten Grund zu wünschen: »O, dass ich doch zu Mädchen Liebe empfände!« Es war lediglich die anerzogene Pflicht der Höflichkeit zu tanzen und den Damen die Cour zu machen. Wie oft mussten mir doch Tante U. und andere einprägen: »Du musst galant sein gegen die Damen.« Mitunter, ich weiss dies noch recht gut, war ich sehr unlustig, dem nachzukommen. Nach und nach freilich habe ich mir das Courmachen etc. erzwungener Weise anerziehen lassen wider meine Natur. Die Frucht eines solchen widernatürlichen Anerziehens hast Du nun selbst entdeckt: eine ernste Liebe ging nicht daraus hervor, sondern nur ein oberflächliches Tändeln. Dass ich übrigens in diesen Scherzen mit jungen Damen oft recht vergnügt gewesen sei, leugne ich gar nicht. Sobald ich freilich erzwungener Weise mit ihnen von etwas sprach, oder sprechen musste, was Liebe berührte, war ich gewiss nie wahrhaft froh, nur etwa höchstens frivol-tändelnd, um dadurch über meinen inneren horror naturalis natürliche Abscheu. hinwegzukommen. Sobald ich aber von Dingen mit den jungen Damen sprach, welche nicht die Liebe berührten, da bin ich ganz gewiss völlig heiter und froh, und auch herzlich gewesen; zumal diese Damen in Burgdorf, wie in Achim, mir persönlich sehr genau bekannt waren und zum Teil ganz liebenswürdig waren, d. i. ein gutes Herz hatten, sich angenehm unterhalten konnten u. s. w.

Aber Du wendest ein, das ist doch mindestens keine Abneigung vom weiblichen Geschlecht. Liebe Schwester, ich habe auch gar nicht im Allgemeinen eine solche Abneigung behauptet, sondern nur in Bezug auf geschlechtliche Liebe. Sobald von anderen Dingen die Rede ist, war ich, wie gesagt, und bin ich noch jetzt ganz gern in Gegenwart der Damen, selbst junger und schöner Damen. Ich fühle keine Abneigung, kann sie auch ohne alle Abneigung körperlich berühren, sobald dies zu anderen Zwecken geschieht, als zu Liebkosungen, z. B. zum Tanz. Sobald aber von Liebe die Rede ist, sei es, dass die Dame selbst davon spricht, oder andere davon sprechen, oder dass Anspielungen von Seiten dritter fallen, oder dass die Dame Liebesblicke auf mich richte, sofort ist die Heiterkeit und Unbefangenheit in mir vorbei, einer Beklommenheit und bangen Ängstlichkeit macht sie Platz, kurz die geschlechtliche Abneigung tritt ein. Weil ich in einer Gesellschaft, in welcher sich eine oder mehrere junge Damen befinden, dergl. stets befürchten muss, so fliehe ich meist solche Gesellschaft. In der Gesellschaft älterer Damen bin ich ganz gern, wenigstens ganz ruhig. Louischen U. gegenüber bin ich nie in solche Lage versetzt. Ebensowenig Auguste H. gegenüber. Wohl aber, ich kann es nicht leugnen, Dorette K. gegenüber, namentlich in der Zeit ihrer Verlobung und auch leider, noch bei Gelegenheit, als ich sie in ihrer Krankheit sah.

Dass ich bei ihrer Verlobung ihrer Mutter scherzweise kondolierte, wolle doch keiner für eine Liebeskundgebung halten. Jene Anspielungen in Bezug auf sie hat mir gegenüber z. B. unsere Louise mehrfach gemacht. Die Erinnerung an die mir sonst so liebe Gespielin meiner Kindheit wird mir dadurch noch jetzt ein wenig verleidet.

Hiernach ist es gewiss richtig, wenn ich sage, Du gehst von einer irrigen Voraussetzung aus. Du giebst nur zu, dass eine Selbstumwandlung meiner Neigung mir schwer werden möge, nimmst aber ohne weiteres an, sie sei doch wenigstens möglich. Wie kommst Du eigentlich dazu, ohne weiteres dies für möglich zu halten? Wie soll ich es denn eigentlich anfangen, meine Gefühle umzuwandeln? Gethan habe ich es ja noch nicht, sonst wüsste ich, wie es gemacht wird; denn die gegenwärtige Richtung meiner Neigung rührt nicht her von einer solchen Umwandlung, sondern sie ist mit dem Eintritt der Pubertät ganz von selbst hervorgebrochen. Wie wolltest Du z. B. es beginnen, Deine Liebe von Männern auf Weiber zu übertragen? Wie wolltest Du auch nur den Entschluss der Uebertragung fassen können? Müssten nicht alle Ermahnungen vergeblich sein, auch die liebevollsten?

Der liebe Gott hat mir die Liebe in derselben Richtung gegeben, in der er sie den Weibern giebt, d. i. auf Männer gerichtet. Ihn zu bitten, sie mir jetzt umzudrehen, wäre im höchsten Grade unchristlich. Wer darf von Gott bitten, ein Wunder zu thun? »Du sollst Gott nicht versuchen.« Wer darf Gott bitten, sein eignes Werk, das er zu unerforschlichen Zwecken gemacht hat, wieder zu zerstören? Willst Du armes Geschöpf von Mensch es besserwissen als der Schöpfer?

Liebe Schwester, wenn Du und Ihr Uebrigen immer fortfahrt, nach den schlagendsten Gründen und Versicherungen gar nicht hinzuhören, so muss ich am Ende doch wirklich nicht nur Eure Voreingenommenheit vermuten, sondern auch Euer Nicht- Wollen, d. i. der Wahrheit die Ehre zu geben, weil sie in Euer bisheriges System vielleicht nicht passt. Die Wahrheit soll also weichen Euren ausgeklügelten Systemen! Sollte das wohl Gott wohlgefällig sein?

Du meinst jetzt, in Berlin hätte mich ein unglücklicher Vers erst auf diese Idee gebracht!!! Zunächst weiss ich gar nicht, welch einen Vers Du meinst, und ich möchte dies wirklich gern von Dir erfahren. Sodann ist diese Annahme, meine Neigung sei dadurch entstanden, dass ich überhaupt auf diese Idee gebracht worden wäre, gänzlich Irrtum. Ebenso rufst Du sehr ohne Grund aus: »O, wärst Du nie nach Berlin gekommen!« In Berlin scheint allerdings auch mir ein Hauptsitz der Uranier S. 45 Uranier – Dionäer: in seinen Forschungen wird Ulrichs von ›Urning‹ und ›Dioning‹ sprechen. zu sein. Allein Du irrst sehr, wenn Du meinst, in Berlin sei diese Neigung in mir entstanden. Sie entstand, wie gesagt, genau beim Eintritt der Pubertät, als ich noch Schüler in Detmold war. Etwa ein halb Jahr z. B., ehe ich nach Berlin ging, war ich einmal in Münden auf einem Ball, wo ich wie gewöhnlich ziemlich viel tanzte. Aber unter den Tänzern waren etwa zwölf junge, schön gewachsene und schön uniformierte Forstschüler. Während auf früheren Bällen, z. B. in Burgdorf, von den Tänzern mich niemand gefesselt hatte, fesselten einige unter diesen mich in so hohem Grade, dass ich ganz konsterniert war und meine Tänzerinnen wenig oder gar nicht unterhielt, vielmehr unverwandt jene anblicken musste. Ich hätte ihnen sofort um den Hals fallen mögen. Als ich nach dem Ball zu Bett ging, erduldete ich auf meiner Schlafkammer im Willmann'schen Hause, einsam und von keinem Menschen gesehen, wahre Qualen, lediglich ergriffen von der Erinnerung an jene schönen jungen Männer.

Jetzt noch einiges einzelne. Du fragst, ob das dritte Geschlecht drittes Geschlecht: Zur ›Vorgeschichte‹ dieses Begriffs siehe die Einleitung. Er wurde später vor allem von Magnus Hirschfeld popularisiert; vgl. sein Buch »Berlins Drittes Geschlecht« (1904), Neuausgabe mit einem Anhang und einem Nachwort von Manfred Herzer (1991). sich auch untereinander liebe? Auf diese Frage war ich nicht gefasst; ich hatte sie mir noch nicht gestellt. Ich habe niemals Liebe empfunden zu einem Uranier. Ich habe jedoch erst sehr wenige gesehen. Für unmöglich halte ich ein gegenseitiges Liebe-Empfinden nicht. Mir ist es jedoch, wie ich meine, ein wenig widerstrebend. Durch Deine Frage veranlasst, habe ich diesen Punkt in der Schrift besonders erörtert, die ich nächstens an Onkel Wilhelm werde gelangen lassen. Ob aber ein Dionäer So bezeichnete Ulrichs normalsexuelle Personen. einem Uranier unter Umständen Befriedigung gewähren könne, ohne zu sündigen, frägst Du? Diese Frage hat zunächst keinen Einfluss auf das, was uns sündlich ist oder nicht. Dennoch hatte auch ich mir diese Frage schon gestellt und sie in eben jener Schrift ganz ausführlich schon beantwortet. Ich glaube nämlich, unter Umständen ja, und führe auch die Gründe an, weshalb sich Römer I. siehe zu I. Vindex S. 17. hierauf nicht bezieht. Römer I. setzt nämlich ausdrücklich voraus, dass die Befriedigung beiden Teilen widernatürlich sei, was bei der Befriedigung die ein Dionäer einem Uranier gewährt, ja nicht der Fall ist. Es giebt auch uranische Ehen, d. i. Naturehen, eheähnliche Liebesverhältnisse. Im alten Griechenland waren sie sehr verbreitet.

Ob es Zwischenstufen giebt zwischen Uraniern und Dionäern? Ferner ob die Männer in I. Moses 19, 4. 5. und Richter 19, 22. Uranier waren oder aber Dionäer mit Ausartung nach uranischer Seite hin? Endlich, ob allen Männern, wie Du meinst, in mehr oder minderem Grade, neben der geschlechtlichen Liebe zu Weibern, noch eine unnatürliche geschlechtliche Liebe zu Männern angeboren sei?! Dies alles sind völlig müssige Fragen, wenn es überhaupt reine, unvermischte Uranier giebt. Dass es aber solche giebt, wirst Du nicht bezweifeln können, sowie, dass ich einer davon bin. Uns gehen die etwaigen Zwischenstufen nichts an. Uebrigens selbst wenn es Zwischenstufen gäbe, so würden doch die »prostituierten Männer in Berlin« nicht dazu gehören, diese sind gewöhnliche Dionäer. Sie empfinden weder Abneigung vor Weibern noch Liebe zu Männern.

Du meinst, eine uranische Neigung müsse im Keime bekämpft werden. Warum denn aber eigentlich? Ich sehe es nicht ein, halte es vielmehr umgekehrt gerade für Sünde, an Gottes Werk, durch Bekämpfung desselben, sich zu vergreifen. Denn das Empfinden von Liebe ist gerade so gut ein Werk Gottes, wie mein Arm oder mein Bein, nur dass es ein geistiges Stück des Menschen ist, das Bein aber ein körperliches.

Du antwortest, weil die uranische Neigung eine » verkehrte, unnatürliche oder sündliche« sei. Allein das Empfinden einer Neigung ist niemals sündlich, nur das sich-ihr-hingeben und das ins-Werk-setzen. Das ins Werk setzen der uranischen Neigung aber soll ja erst deshalb sündlich sein, weil die uranische Neigung » verkehrt oder widernatürlich« sein soll.

Ich mache die merkwürdige Erfahrung an mir: je mehr Beweisgründe ich entdecke für mein System, je sicherer und je klarer ich in demselben werde, um so mehr schmilzt alle meine frühere Bitterkeit dahin über die erfahrenen Unbilden.

Ich stelle jetzt umgekehrt die freundliche Bitte an Dich, doch einmal zu versuchen, auf meinen Ideengang einzugehen. – Ich sagte: »Wir sind geistig Weib,« d. i. geschlechtlich, nämlich in der Richtung unserer geschlechtlichen Liebe. Wir enthalten übrigens in mehrfacher Beziehung ein entschieden weibliches Element. Diese seltsame Merkwürdigkeit ist mir erst hier klar geworden, wo ich mehrere andere Uranier kennen gelernt habe, und zwar durch Beobachtung an denselben. Wir sind gar nicht Männer im gewöhnlichen Begriff. – Dies habe ich besonders in jener Schrift ausgeführt. – Sind wir aber überall nicht Männer im gewöhnlichen Begriff, so habt Ihr auch kein Recht, den Massstab gewöhnlicher Männer uns aufzuzwängen! Dieser Massstab geht uns überall nichts an: so wenig der Massstab des Mannes giltig ist für das Weib. Wir bilden ein drittes Geschlecht. Der Massstab des einen Geschlechts hat dem anderen überall nichts vorzuschreiben. Ob es noch ein viertes Geschlecht gebe? wie Gr. fragt, geht mich überall nichts an.

Die zwei Bücher, die Du und Karl Ü. nennen, kenne ich nicht. Ich möchte gern genau den Titel wissen. Ich meine das des Berliner Arztes und des Dr.  Hyrtl in Wien. An welcher Stelle steht das in »eritis sicut Deus?« ihr werdet sein wie Gott (Genesis 3, 5).

Ich bitte dies zirkulieren zu lassen an: 1) Onkel Wilhelm, 2) Wilhelm Ü., 3) Karl Ü., 4) Gr. und Louise, 5) an mich gefälligst zurück.

Ich bitte um vidit. Einer Beantwortung (obwohl sie willkommen sein würde) bedarf es nicht. Ich bitte nur um möglichst rasche Weitersendung.

Dein Karl Ulrichs.

Frankfurt, den 28. November 1862.

II.

An
Wilhelm H.
Gr.,
Louise,
Ludewig,
Ulricke,
Onkel Ü.
Tante Ü.
Wilhelm Ü.

Zur gefälligen Zirkulation und möglichst raschen Rücksendung an mich mit Bitte um das vidit jedes der Adressaten. (Reihenfolge nach dortigem Ermessen.)

Meine Lieben!

Ich hoffe jetzt mit Grund: in kurzem wird es Licht werden zwischen Euch, meinen nächsten und liebsten Verwandten, und mir.

Nach langem, sorgfältigen Nachdenken über mich ¦selbst, nach sorgfältiger Beobachtung anderer Uranier, nach dem Studium der alten Nachrichten über Griechenlands und Roms Uranier, endlich nachdem mir neuestens (am 23. und 26. d. M.) von Seiten einer wissenschaftlichen Autorität sehr wichtige Mitteilungen zugegangen sind über verschiedene ärztlich konstatierte Fälle von Hermaphroditismus: glaube ich jetzt einfacher, überzeugender und unausweichbarer, als bisher, beweisen oder wenigstens aufs höchste wahrscheinlich machen zu können:

Dass Uranismus allerdings angeboren ist, und zwar nicht etwa in der Weise angeboren, wie »sündliche Neigungen«, was Schwester U. bisher verfochten hat, oder wie »Pyromanie«, was Wilhelm verfochten (ich kann es nicht leugnen auf eine ein wenig lieblose Art): sondern in dem Maasse, dass dem Uranier eine bis in die Wurzeln hinein weibliche Natur vom Mutterleibe an innewohnt, dass er also überhaupt mit Unrecht Mann genannt wird. Es hat mich viel inneren Kampf gekostet, mich zu dieser Ueberzeugung zu erheben. Aber ich kann mich ihr nicht länger verschliessen. Der Uranier ist eine Spezies von Mannweib. Uranismus ist eine Anomalie der Natur, ein Naturspiel, wie es deren in der Schöpfung tausende giebt: ich erinnere an die Ansätze zu weiblichen Brustwarzen, den Brüsten der Männer und aller männlichen Säugetiere, und an die Doppelnatur von Wallfisch und Delphin, welche Säugetiere in einem Fischkörper sind. Uranismus ist eine Spezies von Hermaphroditismus, oder auch eine koordinierte Nebenform von ihm.

Uranismus und Hermaphroditismus sind durchaus nicht etwa Krankheitserscheinungen. Ebensogut wie Ihr, blühen Uranier und Hermaphroditen wie die Rosen und sind gesund wie die Fische im Wasser.

Meinen Satz: Gott habe ausser Mann und Weib auch noch Naturen neutrius sexus geschaffen, leugnet Ludewig:

weil in der Bibel nur stehe: »Und Gott schuf ein Männlein und ein Fräulein

Sollte er hierauf beharren, so wird er auch leugnen müssen, Gott sei es, der die Hermaphroditen geschaffen habe: und diese müssen wohl dadurch entstanden sein, dass sie selber ihre Natur verlassen (umgeändert) haben (vgl. Römer I.): wie Ludewig und Gr. geradezu behaupten, dass auch die Uranier die Natur, die Gott ihnen gab, verlassen haben (umgeändert.)

Für das Vorhandensein der weiblichen Natur in den Uraniern habe ich neuerdings Beweismittel entdeckt, welche Ihr schwerlich imstande sein werdet, zu negieren. Bisher habt Ihr alle auf meine sämtlichen Mitteilungen durchaus gar nichts gegeben, »weil sie nur Behauptungen seien«, d. i. also wohl »unwissentliche, auf Selbsttäuschung beruhende, oder gar wissentliche Unwahrheiten.« (Wilh. Ü. hat sie zum Teil sogar für teuflischen Wahnsinn und schauerlichen Blödsinn erklärt.) Ob diese Behandlungsweise meiner Mitteilungen, auch meiner feierlich gegebenen Versicherungen, mir gegenüber, meiner Persönlichkeit nach, gerechtfertigt war? Ob Ihr nicht wenigstens etwas auf sie hättet geben sollen? Das will ich nicht weiter erörtern. Jedenfalls ist es mir eine Genugthuung, einzelne, und zwar gerade meiner wichtigsten Mitteilungen jetzt stützen zu können auf das Zeugnis anderer Personen, lebender und toter, zum Teil wissenschaftlicher, ärztlicher Autoritäten, welche ihre Wahrnehmungen in medizinischen Schriften niedergelegt haben.

Ein Novum: Die weibliche Natur des Uraniers besteht keineswegs bloss in der Richtung seiner geschlechtlichen Liebe zu Männern und seines geschlechtlichen Abscheues vor Weibern. Ihm ist vielmehr ausserdem auch noch ein sogen. weiblicher Habitus eigen, von Kindesbeinen an, der sich dokumentiert in Hang zu mädchenhaften Beschäftigungen, in Scheu vor den Beschäftigungen, Spielen, Raufereien, Schneeballwerfen der Knaben, in Manieren, in Gesten, in einer gewissen Weichheit des Charakters etc. Hier hat einer der Adressaten an den Rand geschrieben: Einen solchen weiblichen habitus glaube ich an Karl allerdings stets wahrgenommen zu haben. Diesen weiblichen Habitus habe ich an mir schon längst wahrgenommen, ihn auch Dezember 1854 in Cassel Gr. mitgeteilt, als etwas mir auffallendes, was wohl mit meiner Natur zusammenhängen möge. Weil Gr. mir diesen Gedanken ausredete, so liess ich ihn fallen.

Erst kürzlich habe ich ihn wieder aufgegriffen: weil ich nämlich den weiblichen Habitus merkwürdiger Weise bei allen Uraniern, die ich beobachtete, sich wiederholen sehe, und ferner weil, wie ich jetzt sehe, auch die Mediziner beim eigentlichen Hermaphroditismus wesentliches Gewicht auf ihn legen.

Wie oft klagte meine liebe Mutter: »Du bist nicht so wie andere Jungen!« Wie oft warnte sie mich: »Sonst wirst Du ein Sonderling.« Alles Animieren, Zwingen etc. brachte das Knabenmässige, das einmal nicht in mir war, nicht in mich hinein. Ich war eben schon ein Sonderling, nämlich von Natur. Dieser meiner weiblichen Natur wegen bin ich schon als Knabe manchen bitteren Qualen unverschuldet, ausgesetzt gewesen.

So glaube ich meinen Wunsch »des mihi, ubi sto!« siehe das Motto zu I. Vindex: »Gieb mir, wo ich stehe ...« denn endlich erfüllt zu sehen, endlich festen Boden unter meinen Füssen gewonnen zu haben.

*

Die Moralvorschrift in Römer I bezieht sich, ihren klaren Worten nach, ausdrücklich nur auf Männer, die ihre Natur verlassen haben. Selbst Ludewig und Wilhelm U. werden dies nicht länger leugnen können, wenn sie Gott durch Wahrheit die Ehre geben wollen. Gr. hat indirekt es schon zugestanden. Sie bezieht sich also nicht auf Halbmänner, auf uranische Hermaphroditen, welche ihrem geschlechtlichen Liebestriebe nach überall nicht Männer sind, sondern Weiber: Weiber in männlich gestalteten Körpern.

Hiernach wird es wahrscheinlich ein nie zu sühnendes Unrecht sein, wenn die Majorität noch länger ihre Uebermacht dazu missbrauchen wird, an die Uranier zwangsweise den Massstab der Männer anzulegen, und zu diesem Zweck noch länger einen wahrhaft teuflischen Missbrauch zu treiben einerseits mit den heiligsten Gegenständen der Religion (z. B. »die Uranier hätten keinen Teil an Christo« wie Wilhelm U. meinte), andererseits mit dem Arm der weltlichen Gerechtigkeit, welche ja doch Gottes und nicht des Teufels Dienerin sein soll.

Auf Grund eines anderen, beklagenswerten Irrtums der Majorität, und ebenfalls bona fide, ward ein ähnlicher Missbrauch mit der weltlichen Gerechtigkeit einst den Hexen gegenüber getrieben. Meines Erachtens gehört es zu den tiefsten und schwierigsten Problemen: wie Gott die bona-fide-Verfolgungen der Hexen und Uranier so viele Jahrhunderte hindurch in seiner Gerechtigkeit habe zulassen können? – Fast sollte ich an einen persönlichen Teufel glauben, der zu solchem Zweck die Augen der Majorität durch ein satanisches Blendwerk absichtlich geblendet habe.

Die uranischen Hermaphroditen sind keine Eunuchen. Ihnen so gut, wie Euch, gab Gott den geschlechtlichen Liebestrieb; ihnen so gut, wie Euch, gab er damit auch das Recht, ihn zu befriedigen. Allen Menschen gab er dieses Recht, vorausgesetzt, dass die Befriedigung auf dem Wege erfolge, den die Natur dem Individuum vorgezeichnet hat. Keinen Menschen hat er verdammt zu unbedingter lebenslänglicher Befriedigung, d. i. niemanden hat er lebenslang dazu verdammt, dass die Befriedigung unter allen Umständen ihm Sünde sei. Das Gegenteil steht mit klaren Worten auch in der Bibel: »nubere melius, quam uri«; 1. Korinther-Brief 7, 9: Es ist besser freien, denn Brunst leiden; so sie sich nicht enthalten, so laß sie freien. Siehe auch V. Ara spei S. 27 »si se non contineant, nubant«. – Hier hält mir Gr. das Beispiel Tante U. entgegen und ähnliche Fälle der Nichtverheiratung. Ich erwidere: Es handelt sich nicht um irgend welche Gelegenheit oder faktische Möglichkeit, z. B. einen Freier zu finden, sondern um: » erlaubt oder sündlichSündlich aber wäre es Tante Ü. niemals gewesen zu heiraten.

Unter welchen Umständen dem uranischen Hermaphroditen die Befriedigung erlaubt sei? Und wie weit die Pflicht gehe, seine Triebe zu zügeln? ist eine Frage für sich, über die ich gern bereit bin, mich auf eine Erörterung einzulassen. Ich leugne ja nur: die Befriedigung sei ihm unbedingt unerlaubt.

Das übrigens setze ich in dieser Beziehung schon jetzt hinzu, dass jedenfalls nicht etwa die Ehe die Vorbedingung dieses Erlaubtseins sein kann, wenigstens nicht die Ehe mit einem Frauenzimmer, weil solche Ehe ihm absolut naturwidrig sein würde. Aber auch nicht etwa die Ehe mit einem Dionäer, wenigstens nicht die kirchlich oder staatlich sanktionierte Ehe mit ihm, weil es keinen Priester giebt, der solche Ehe einsegne, und keinen Zivilstandsbeamten, der sie in seine Listen einzeichne.

Habe ich 1856 von der Möglichkeit, eine Ehe einzugehen, geredet, habe ich damit nicht eine Liebes-Ehe gemeint, sondern eine kalte Vernunft-Ehe. Mit dem Gedanken an eine solche habe ich mich hin und wieder getragen.

Das Angeborensein behaupte ich keineswegs erst seit dem vorigen Jahre. Schon 1854 zur Zeit unserer Erörterungen zwischen Hildesheim und Hannover, beabsichtigte ich gelegentlich auch diesen Punkt zu erwähnen. Damals handelte es sich übrigens, von meiner Seite wenigstens, hauptsächlich nur um konventionelles Erlaubtsein, nicht um moralisches. Damals zog ich auch noch nicht so weittragende Konsequenzen daraus, als jetzt. Hätten nach meinem Dienstaustritt jene Erörterungen sich erneut, so würde ich damals jedoch jedenfalls die Erwähnung gemacht haben.

Onkel Wilhelm meint, durch die Uranier werde Gottes Ordnung in der menschlichen Gesellschaft gefährdet und giebt zu verstehen, darum müsse man sie in Gefängnisse oder Irrenhäuser stecken.

Ich erwidere: Durch sie wird doch nur diejenige menschliche Gesellschaft alteriert und modifiziert, welche ausschliesslich dionäisch konstruiert ist. Die dionäische Majorität aber hat gar kein Recht, die menschliche Gesellschaft ausschliesslich dionäisch zu konstruiren. Solche Konstruktion derselben ist vielmehr nur empörender Missbrauch: da wir in der menschlichen Gesellschaft ebenso existenzberechtigt sind, als Ihr.

Ob Euch vor Hermaphroditen, die doch Gottes Werk sind, graut? weiss ich nicht. Ich gebe aber anheim, zu bedenken, dass Euch dann auch vor Schnecken, Austern und unzähligen anderen Geschöpfen Gottes ein unheimliches Gefühl ankommen muss, da diese sämtlich Hermaphroditen sind.

Graut Euch vor Hermaphroditen, so kann ich übrigens nichts dagegen haben, bitte aber, dann doch wenigstens einsehen zu wollen, dass zwischen solchem Grauen und dem Grauen vor einer » gräulichen Sünde« (der von Ludewig beliebte Ausdruck) denn doch ein himmelweiter Unterschied ist.

*

Dies zu Eurer vorläufigen Notiz. Die ausführliche (noch nicht ganz ausgearbeitete) Beweisführung gedachte ich im Manuscript Onkel Wilhelm und Gr. mitzuteilen. Zur Zeitersparnis und wegen der Verlustgefahr gebe ich diesen Gedanken auf, beabsichtige vielmehr, dieselbe als Monographie im Druck erscheinen zu lassen, etwa unter dem Titel: » Das Geschlecht der uranischen Hermaphroditen, d. i. der männerliebenden Halbmänner

Euer Rat über die Art und Weise der Veröffentlichung, Anonymität dabei etc. oder überhaupt gegen die völlige oder gegen die selbstständige Veröffentlichung wird mir willkommen sein.

Ihr könnt denken, dass ich über den gewonnenen, festen Boden sehr erfreut bin, sowie über die Hoffnung, endlich werde es Licht zwischen uns.

Euer
Karl Ulrichs;

NB. Nachschriften der Adressaten:

Eine Verhandlung des jedenfalls unerquicklichen Gegenstandes nun gar vor dem Publikum würde mir widerwärtig sein, und wie ich meine, auch Karls Interesse eher gefährden als fördern.

U.

Das ist auch meine Ueberzeugung. Der neue Beweiss, dessen Führung abzuwarten wäre, würde in der Beurteilung der Sache nichts ändern. Wenn es so geartete Menschen giebt, so müssen sie eine Gesellschaft für sich bilden.

Hannover, 15. Dezember 1862.
W. Ü.

Ich kann nicht beurteilen, inwiefern Deine Ausführungen im obigen gegründet sind, aber es betrübt mich, dass Du nicht ablässest, lieber Karl, etwas zu entschuldigen, was nach meiner Ueberzeugung nicht zu entschuldigen ist. Tante und Karl grüssen. Ich danke auch für die neulich gesandte Schrift: Grossdeutsches Programm. In treuer Liebe

Gr. W. den 3. Januar 1863.
Dein
alter Onkel U.

Auch diese Auseinandersetzung, die ich noch gelesen habe, hat nicht vermocht, meine oft wiederholte Ansicht der Sache zu ändern. Die Sache zu veröffentlichen, dürfte auch nach meiner Ansicht nicht geraten sein.

Kl. Gr. den 6. Januar 1863.
Ludewig

*

Ich muss entschieden von der Veröffentlichung der letzterwähnten Schrift abraten und bitte, mich mit allen diese Sache betreffenden Schriften zu verschonen. Ich gebe den Kampf als hoffnungslos auf und bitte Gott den Herrn, zu bewirken, was den Menschen nicht gelingen, zu sollen scheint.

D. den 21. Januar 1863.
Gr.

Frankfurt, den 12. Dezember 1862.

III.

Lieber Onkel!

Dein Urteil willst Du, so sagt Dein freundlicher Brief vom 6. d. M., bis zu den expromittierten Beweisen suspendiren.

Ich möchte indess rücksichtlich der Beweislast folgendes geltend machen: Dieselbe liegt gar nicht uns ob, sondern Euch. Beweise die Majorität, die uns verfolgt, doch erst einmal ihren Satz, den Satz, von dem sie stets so ohne weiteres ausgeht: » Wessen Geschlechtsorgane männlich gestaltet sind, dem ist geschlechtliche Liebe zum weiblichen Geschlecht angeboren

Dass dieser Satz, in sehr vielen Fällen zutreffe, in Deutschland z. B., wenigstens heut zu Tage, bei weitem in den meisten, gebe ich sehr gern zu. Allein darum handelt es sich ja nicht. Es handelt sich darum: » ob dieser Satz in allen Fällen zutreffe?« Und hier gilt mein beweisloses Nein! genau soviel, als Euer beweisloses Ja!

Ihr habt gar kein Recht, die Beweislast uns aufzubürden und nachteilige Präjudice zu knüpfen an die etwaige Verfehlung des Beweises des Nein. Hiergegen muss ich im Namen der Gerechtigkeit ausdrücklich protestieren. Nachteiliges Präjudice gegen uns auszusprechen namentlich das Präjudice der Widernatürlichkeit mit seinen mörderischen Konsequenzen, dazu würdet Ihr erst dann berechtigt sein, wenn Ihr den Beweis des Ja! erbracht haben würdet.

Wie wollt Ihr dieses Ja! beweisen? Dieser Beweis ist meiner festen Ueberzeugung nach, ein unmöglicher. Euch selbst wird er wenigstens in höchstem Grade als ein schwieriger erscheinen.

In ähnlicher Weise schwierig ist nun auch die Aufgabe, der ich mich unterzogen habe, d. i. der Beweis des Nein. Nach dem Vorstehenden thue ich schon ein übriges, wenn ich für mein Nein nur eine Reihe gewichtvoller Wahrscheinlichkeitsgründe beibringe. Hier eine Reihe von Wahrscheinlichkeitsgründen.

I. Stücke der geschlechtlichen Naturanlage des Mannes sind: 1) männliche Gestaltung der Geschlechtsorgane, 2) Brustlosigkeit, 3) der sogen. Adamsapfel 4) männlicher Körperbau im allgemeinen, 5) Bart, 6) tiefe männliche Stimme, 7) männlicher Habitus in Manieren, Geberden und Bewegungen, 8) männlicher Charakter und männliche Neigungen zu Beschäftigung, Spiel pp., 9) Richtung des geschlechtlichen Liebestriebes auf Weiber.

Stücke der geschlechtlichen Naturanlage des Weibes sind: 1. 1) weibliche Gestaltung der Geschlechtsorgane, 2. 2) Brüste, 3. 3) mangelnder Adamsapfel, 4. 4) weiblicher Körperbau im allgemeinen, 5. 5) Bartlosigkeit, 6. 6) helle weibliche Stimme u. s. w. (umgekehrt).

Sehen wir aber, dass die Natur neben Stück 1. oft nicht die sämtlichen übrigen Stücke 2-9 erteilt, sondern z. B. 6. 6. statt 6; 7. 7. statt 7; 8. 3. statt 8, so ist die Wahrscheinlichkeit Eures Satzes erschüttert: » dass sie neben 1. stets 9, niemals aber 9. 9. erteile

II. Diese Wahrscheinlichkeit wird ferner erschüttert durch das Beispiel der Hermaphroditen, indem dieses Beispiel den schlagenden Beweis liefert, dass die Richtung des geschlechtlichen Liebestriebes auf Männer oder aber auf Weiber vollkommen unabhängig ist von der (weiblichen oder aber männlichen) Struktur der Geschlechtsorgane, dass die Natur in der Erteilung der Richtung des Liebestriebes sich nicht bindet an die Struktur der Geschlechtsorgane.

Wegen ihres Gemisches von Teilen der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane müssten die Zwitter ja sonst auch zweierlei Liebestriebe haben. Sie haben aber nur einen einzigen, und zwar sehr oft gerade denjenigen, welcher den nicht vorwaltenden, den zurückstehenden Stücken der Geschlechtsorgane entspricht. Seltsam! bei den Zwittern scheint dieser Gegensatz zwischen Organ und Trieb sogar durchgängig der Fall zu sein, und zwar sowohl bei den vorwiegend männlich, als bei den vorwiegend weiblich gestalteten Zwittern.

III. Sodann ist ja doch die Thatsache nicht zu bezweifeln, dass in Tausenden und aber Tausenden aller Völker alter und neuer Zeit neben 1. nicht 9, sondern 9. 9. nun einmal vorhanden ist, und zwar nicht eine oberflächliche, gemischte oder verzerrte, sondern eine innige, reine, wahre und tiefe Liebe, welche auch ebenso zart und sehnsuchtsvoll und ebenso aufopferungsfähig ist, als die regelmässige, also wesentliche Merkmale ihrer Natürlichkeit an sich trägt; zumal auch die betr. Individuen körperlich und geistig vollkommen gesund sind.

Fragt jeden Uranier: und er wird ganz genau ins Einzelne zu erzählen wissen, welchem Geschlecht gegenüber sich die Sehnsucht dieser Liebe vom ersten Eintritt seiner Mannbarkeit an geäussert habe; zu erzählen wissen, dass er niemals zu Mädchen Liebreiz empfunden habe; ferner, dass bei nächtlichen Pollutionen der Traum ihm stets männliche, niemals weibliche Bilder vorgegaukelt habe.

Jeder Uranier, den ich hiernach gefragt (etwa 6 Uranier) stimmt hierin durchaus überein, und alle übrigen werden vermutlich ebenfalls hierin übereinstimmen. Bei den Traumbildern namentlich ist Selbsttäuschung undenkbar. Diese Uranier alle aber für Lügner zu erklären, scheint mir doch einigermassen gewagt.

Dass den einzelnen Uranier schon in frühester Jugend der Anblick schöner junger Männer angezogen hat, wird einem aufmerksamen Beobachter übrigens auch gar nicht entgangen sein; ebensowenig wie, dass der Anblick blühender Mädchen, der anderen Jünglingen unwiderstehlich war, ihn vollkommen kalt liess; ferner dass schon in der Periode seiner Impubertät sein Charakter, seine Neigungen zu Beschäftigung, Spiel pp. und sein Habitus in Manieren, Geberden und Bewegungen in vielen Stücken nicht männlich, sondern weiblich waren.

IV. Endlich ist es doch im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass diese Tausende ihre Natur, wie sie dieselbe aus Schöpfers Hand empfangen haben, selber umgeändert haben sollten, dass sie durch eigene Willenskraft infolge eigenen Entschlusses imstande gewesen sein sollten, eine nicht vorhandene innige Liebessehnsucht zu Männern in sich zu erzeugen, ja den vorhandenen Horror vor geschlechtlichen Berührungen mit Männern in Liebessehnsucht umzudrehen! Ich wüsste in der That nicht einmal: wie wir dies Kunststück anfangen sollten, zumal in einem Alter von 13-14 Jahren und in einer Umgebung, in welcher dem jungen Manne die Liebe zum weiblichen Geschlecht förmlich anerzogen und eingetrichtert wird und in welcher er von Liebe eines Mannes zu Männern auch nicht eine Silbe gehört hat.

Wem die Natur nicht die Stücke der geschlechtlichen Naturanlage 1-9 incl. gab, oder aber 1. 1.-9. 9. incl., bei wem sie vielmehr mischungsweise mit der Austeilung jener Stücke verfuhr, den nenne ich Hermaphrodit im weiteren Sinne: so nenne ich also auch denjenigen, dem sie zugleich 1 und 9. 9. gab.

Ich wiederhole, dass ich mich auf vorstehende Gründe nur Dionäern und Weibern gegenüber stütze, nicht mir selbst gegenüber, oder anderen Uraniern gegenüber. Jeder Uranier seinerseits bedarf ihrer nicht. Er braucht nur in sich selbst hineinzuschauen, um klar und zweifellos zu finden, dass ihm die Liebe zu Männern angeboren sei, und dass er seine Natur, wie er sie aus Schöpfers Hand empfing, ungeändert gelassen habe.

Zu den Konsequenzen, die ich aus dem Angeborensein der uranischen Liebe ziehe, also dem moralischen und socialen Erlaubtsein ihrer Befriedigung, trage ich meinem Zirkular vom 28. November 1862 nach:

Die Vorbedingung dieses Erlaubtseins kann nicht die formelle Ehe sein, d. i. die kirchlich oder staatlich sanktionierte: weder die mit einem Frauenzimmer, weil solche Ehe dem Uranier absolut naturwidrig sein würde. Aber auch nicht die formelle Ehe mit dem von ihm geliebten Dionäer, weil für das Liebesbündnis zwischen Uranier und Dionäer das Institut der formellen Ehe überall nicht eingesetzt worden ist, sondern nur für das Liebesbündnis zwischen Mann und Weib. Für sie gilt also noch unverändert der Naturzustand, welcher die formelle Ehe nicht kennt: gerade wie auch für die Liebe zwischen Mann und Weib noch heute der Naturzustand unverändert fortgelten würde, wenn für sie jenes positive Institut niemals eingesetzt worden wäre: oder wie für sie derselbe da sofort wieder eintreten würde, wo es an Priester und Zivilstandesbeamten absolut fehlt, z. B. auf einer wüsten Insel, auf die zwei Liebende, Mann und Mädchen, verschlagen sind.

Auf die Giltigkeit des Naturzustandes für die Uranier führt meines Erachtens die eiserne Konsequenz.

Naturzustand übrigens ist keineswegs gleichbedeutend mit Venus vulgivaga. Zwischen formeller Ehe und Venus vulgivaga liegen mehrere Stücke des Naturzustandes noch in der Mitte, z. B. die Naturehe, d. i. ein eheähnliches dauerndes Liebesbündnis, wie wir es bei den griechischen Uraniern vielfach finden; aber auch noch andere Stücke.

Für I. und II. (s. oben) bin ich imstande, eine Reihe von Belegen beizubringen. Wünschest Du es, so werde ich es thun. Andere Beweismittel besitze ich zur Zeit nicht.

Ich bitte diesen Brief mir demnächst gefällig wieder zurückzusenden. Einen Wunsch, ihn zirkulieren zu lassen,. spreche ich nicht aus.

*

Du widerrätst der Veröffentlichung durch den Druck. Es ist mir wenigstens lieb, die Gründe Deines Rates kennen zu lernen. Ich muss sie anerkennen als richtig, zweifle aber, ob die gegenüberstehenden Gründe nicht überwiegen. Ich glaube nämlich die Veröffentlichung meinen armen, nach meinem Standpunkt schuldlos verfolgten Schicksalsgenossen schuldig zu sein. Mehrere derselben, denen ich meine Idee mitgeteilt, halten die Veröffentlichung für aufs allerdringendste notwendig. Auch drängt es mich meinerseits, endlich einmal offen mit einer Rechtfertigung meiner selbst hervorzutreten gegenüber all’ den Demütigungen, die man mir bisher auferlegt hat und denen ich irgend etwas anderes nicht entgegenzusetzen weiss. Uebrigens bin ich zunächst noch, etwa für 2-3 Monate, mit anderen Arbeiten beschäftigt und möglicherweise ändre ich noch meine Idee auf irgend eine Weise.

Dein gehorsamer Neffe
Karl Ulrichs,
Reuterweg;

Frankfurt, den 23. Dezember 1862.

IV.

Lieber Onkel.

Mich zu rechtfertigen, und zwar vollständig zu rechtfertigen, ist mir jetzt geradezu Lebensaufgabe. Daher der Eifer erklärlich, mit dem ich nach solchen Beweismitteln forsche, die für Euren Standpunkt mindestens die Wahrscheinlichkeit des Angeborenseins der uranischen Neigung beweisen. Hier noch einige solcher Wahrscheinlichkeitsgründe. Das Eingehen in sehr geschlechtliche Einzelheiten ist dabei unvermeidlich.

I. Geschlechtlicher Dualismus des menschlichen Individuums.

A. Dem männlichen Geschlecht gibt die Natur neben dem ausgebildeten männlichen Organen unausgebildete weibliche Organe: nämlich die nicht zur Entwickelung gelangten weiblichen Brustwarzen und Milchdrüsen.

B. Ebenso gibt sie dem weiblichen Geschlecht neben den ausgebildeten weiblichen Organen auch ein unausgebildetes männliches Organ: die Clitoris. Die Clitoris ist nämlich meines Erachtens in der That nichts anderes, als ein nicht zur Entwickelung gelangtes membrum virile. Diese Behauptung wird schlagend bewiesen durch das Beispiel einer grossen Reihe von Zwittern. Sämtliche, oder doch fast sämtliche Zwitter sind begabt mit einer Mittelform zwischen dem ausgebildeten membrum der Männer und der gewöhnlichen Clitoris der Weiber. Zwischen diesen beiden Endgestaltungen wechselt diese Mittelform der Zwitter in allen möglichen Variationen.

Wie ich in medizinischen Büchern lese, hat die gewöhnliche Clitoris des weiblichen Geschlechts Eichel, Hals und Präputium. In diesen Punkten stimmt sie also mit dem membrum virile überein.

Sie weicht von ihm ab:

  1. Durch die Zurückgebliebenheit der Ausdehnung. Aehnlicher Abstand wie die männlichen Brüste von den weiblichen.
  2. Dadurch, dass die Clitoris in der Regel nicht erectionsfähig ist. (Anmerkg. des Herausgebers: Hier ist von Ulrichs Hand später hinzugefügt: Die Clitoris ist erectionsfähig.)
  3. Dadurch, dass durch das membrum virile die Harnröhre hindurchläuft, durch die Clitoris nicht.

In diesen drei Punkten aber finden sich bei den Zwittern gerade die erwähnten Uebergangsformen.

ad. 1) Die Ausdehnung steht etwa in der Mitte. So z. B. bei dem Münster’schen Zwitter, einem sogen. männlichen Zwitter, männlich genannt, weil ihm uterus fehlt und er Testikeln hat. (Ihn schildert in Caspers Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, Band X. 1856 Dr. Tourtual.) Ebenso bei dem Prager Zwitter, einem sogen. weiblichen Zwitter, weiblich genannt, weil ihm Testikeln fehlen, er dagegen einen uterus hat. (Ihn schildert Prager Vierteljahresschrift für prakt. Heilkunde Jahrg. XII. 1855. Band I.)

ad. 2) Bei den Zwittern ist das fragliche Glied meist, vielleicht stets, allerdings erectionsfähig. Mitunter ist dies auch bei gewöhnlichen Weibern der Fall.

ad. 3) Bei den Zwittern geht durch das fragliche Glied bald die Harnröhre hindurch, bald nicht. Letzteren Falles mündet sie, ganz oder doch fast, ganz wie bei gewöhnlichen Weibern, in einer Körperöffnung, welche sich unterhalb des fraglichen Gliedes befindet. Solche Körperöffnung finden wir sowohl bei dem erwähnten sogen. männlichen Münster’schen Zwitter, als auch bei einem gewissen Berliner Zwitter, mit dem Beinamen »Mathilde«, welchen man aus den gleichen Gründen, wie den Münsterschen, etwa einen männlichen nennen mag.

Bei dem Berliner Zwitter nun geht die Harnröhre hindurch, ganz wie bei gewöhnlichen Männern und mündet nicht in die Oeffnung: bei dem Münster’schen geht sie nicht hindurch, sondern mündet in diese Oeffnung.

Aehnlicher Mittelformen kommen noch andere vor. An einem Manne, der sonst nichts abweichendes an sich hatte, mündete die Harnröhre nicht am Ende des membrum virile, sondern schon zu ¾ der Länge desselben. Das Ende war einigermassen verbildet.

Die gewöhnliche Clitoris des weiblichen Geschlechts kann hienach nichts anderes sein, als ein nicht zur Entwickelung gelangtes membrum virile.

C. In gewisser Hinsicht ist also jeder Mensch, Mann sowohl wie Weib, ein Zwitter.

Schlussziehung. Wenn die Natur aber neben männlichen Organen sogar weibliche Organe giebt und neben weiblichen Organen sogar männliche Organe: warum sollte es dann undenkbar sein, dass sie neben männlichen Organen mitunter auch weibliche Triebe gebe?

D. Am männlichen Embryo, namentlich an dem der ersten Monate, sind die Geschlechtsorgane von denen des weiblichen Embryo fast gar nicht zu unterscheiden. Membrum virile und Clitoris unterscheiden sich dann noch gar nicht oder fast gar nicht, von einander. Brustwarzen und Brustdrüsen unterscheiden sich beim männlichen und beim weiblichen Embryo geradezu gar nicht von einander. Hienach nimmt man an, dass:

α) in jedem Embryo ein doppelter geschlechtlicher Keim vorhanden sei, ein Keim der Virilität und neben ihm ein Keim der Muliebrität, dass sich aber

β) nur der eine Keim entwickle, während der andere nicht zur Entwicklung gelange.

Diese Annahme des Satzes α wird um so wahrscheinlicher, wenn wir uns in der Schöpfung sonst umschauen. Hier finden wir, dass bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Pflanzen-Gattungen in jedem einzelnen Pflanzenindividuum männliches und weibliches Element neben einander nicht nur im Keim vorhanden ist, sondern dass es neben einander auch zur vollständigen Entwicklung kommt. Dasselbe finden wir auch im Tierreich, z. B. bei den Schnecken. Jede einzelne Schnecke trägt den geschlechtlichen Dualismus nicht nur im Keim in sich, sondern in einer jeden gelangt auch die Virilität und zugleich auch die Muliebrität zur vollständigen Entwicklung, so dass zwei Schnecken sich gegenseitig begatten und gegenseitig befruchten.

E. Dass aber der Satz β nur die Regel sei, dass hievon vielmehr auch Ausnahmen vorkommen, beweisen eben die Zwitter, bei denen stückweis beide Keime neben einander körperlich zu einer gewissen Entwicklung gelangen.

F. Warum sollte es nun undenkbar sein, dass in einzelnen Individuen die Natur in ihrer Mannigfaltigkeit noch anders zu Werke gehe, dass sie körperlich den männlichen Keim zur Entwicklung gelangen lasse, körperlich den weiblichen Keim nicht zur Entwicklung gelangen lasse, geistig dagegen umgekehrt den männlichen Keim nicht zur Entwicklung gelangen lasse, geistig vielmehr den weiblichen Keim in allen seinen Richtungen zur Entwicklung gelangen lasse? Dass sie also in Weichheit des Charakters, in Neigungen zu Beschäftigungen pp., in Manieren und vor allem in der Richtung des geschlechtlichen Liebestriebes zu Männern, den Keim der Muliebrität zur Entwicklung gelangen lasse? d. i. dass sie Uranier schaffe?

G. Die Thatsache würde also lediglich diese sein – eine Thatsache, welche meines Erachtens keineswegs sogar absonderlich sein würde:

Der geschlechtliche Dualismus, welcher ausnahmslos in jedem menschlichen Individuum im Keim vorhanden ist, kommt in Zwittern und Uraniern nur in höherem Grade zum Ausdruck, als im gewöhnlichen Mann und im gewöhnlichen Weibe. Im Uranier kommt er ferner nur in einer anderen Weise zum Ausdruck, als im Zwitter.

II. Weiblicher Charakter der Uranier.

In Konsequenz Eurer Theorie müsst Ihr zu uns auch sagen: »Euren von Natur männlichen Charakter, Eure von Natur männlichen Neigungen in Beschäftigungen, Spiel, Umgang, Eure von Natur männlichen Manieren, Geberden und Bewegungen habt Ihr selber naturwidrig umgeändert.« Dies aber zu behaupten, wäre doch gewiss gewagt, da sich in Uraniern, schon wenn sie sechs bis achtjährige Knaben sind und nicht etwa unter Mädchen aufwachsen, in jenen Stücken ein scharf ausgeprägtes, weiches, weibliches Element an den Tag legt, so dass man sich offenbar gezwungen sieht, in diesen Stücken das weibliche Element anzuerkennen als ein angeborenes.

Dann aber sehe ich in der That einen vernünftigen Grund nicht mehr ein, weshalb Ihr Euch noch länger auflehnen wollt gegen unsere feierliche Versicherung, dass die Richtung unseres geschlechtlichen Liebestriebes auf Männer schon sofort mit dem Erwachen dieses Triebes selber in vollster Entschiedenheit diesem Triebe angeklebt habe, dass also diese Richtung des Triebes uns angeboren, d. i. von der Natur uns gegeben sei.

III. Zwei Autoritäten, beide Dionäer. vgl. zu I. Vindex S. VIII.

1.  Heinse »Begebenheiten des Eucolp« 1777 oder 1778 (Uebersetzung des Satyricon des Petronius) erkennt in der Vorrede an, es müsse wohl die Natur sein, welche den griechischen und römischen Uraniern die Neigung zu Männern eingepflanzt habe. Der Mensch sei anmassend, wolle er seine Mutter (die Natur) meistern, d. i. dieses Einpflanzen tadeln.

2.  Arthur Schopenhauer, der ziemlich berühmte, kürzlich verstorbene Philosoph, (»Die Welt als Wille und Vorstellung« 3. Aufl. Band II. 1859. S. 641 folg.) sagt: »Alle grausamen Verfolgungen, auch die fürchterlichsten, hätten nicht vermocht, diese Neigung auszurotten.« (Welch teuflische Gerechtigkeitspflege! Mit der Verfolgung ohne weiteres beginnen und es dem Zufall anheim stellen, später aufzudecken, ob die Verfolgung Grund habe oder nicht! Dasselbe Prinzip herrscht noch heute! Auch sind die Martern, mit denen man verfolgt, materiell noch keineswegs sehr gemildert worden. Fast alle Jahre treibt Ihr durch Eure Verfolgung Uranier zur Selbstentleibung!) »Sie müsse wohl tief begründet sein in der Natur des Menschengeschlechts.« Er führt dabei an, was auch ich (vor einem Jahr) angeführt habe: »Naturam furca expellas, tamen usque redibit.« Horaz, Epistulae 1, 10, 24. Siehe zu I. Vindex S. 9. Ihn führt zu dieser Meinung auch wohl die ihm sehr auffallende Thatsache der enormen Verbreitung dieser Neigung, namentlich über nicht-europäische Völker und ihres Vorkommens durch alle Jahrhunderte.

Wie (Euch unangeahnt) weit sie selbst in Deutschland verbreitet sei, darüber habe ich früher Mitteilung gemacht. Nach später mir gewordenen Angaben habe ich damals wahrscheinlich noch viel zu tief gegriffen. Annäherungsweise kann ich statistische Gründe beibringen.

Schopenhauer ist ein durchaus redlicher Beobachter, der sein Urteil durch vorgefasste Meinungen nicht bestehen lässt.

Euer
Karl Ulrichs.

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Bitte um demnächstige Rückgabe. Lieb wäre es mir, wenn Du Stellen, die Dir wichtig scheinen, mit roter Tinte entweder unterstreichen oder am Rande anstreichen wolltest.

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