Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.
Vindex

Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe.

»Vincula frango.« ich zerbreche die Ketten.

Von Numa Numantius.

Selbstverlag des Verfassers.

In Commission bei Heinrich Matthes in Leipzig.

1864.

I. Vindex.

›Vindex‹ bedeutet ›Verteidiger, Befreier, Verfechter‹.

Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe.

Erste Schrift über mannmännliche Liebe.

Nachweis,
I. daß sie ebensowenig Verfolgung verdient, als die Liebe zu Weibern;
II. daß sie schon nach den bestehenden Gesetzen Deutschland's gesetzlich nicht verfolgt werden kann.

»Gieb mir, wo ich stehe: und euer »System der Verfolgung hebe ich aus »seinen Angeln.«

N. Num. Das Pseudonym Numa Numantius (vgl. S. XII: »Ich wollte lieber mit offenem Visir auftreten ...«) benutzte Ulrichs für die ersten fünf seiner zwölf Schriften. – Das Motto »Gieb mir, wo ich stehe: und euer System der Verfolgung hebe ich aus seinen Angeln« ist eine Paraphrase zu dem angeblichen Ausspruch des Archimedes: »Gib mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich werde die Welt aus ihren Angeln heben«. Vgl. G. Büchmann, Geflügelte Worte (37. Aufl. 1986) S. 311.

Von Numa Numantius.

Selbstverlag des Verfassers.

In Commission bei Heinrich Matthes in Leipzig.

1864.

Einleitung.

I.

O! daß es mir möglich wäre, auch nur einen Augenblick lang euch in das Innere unserer Seele hineinzuversetzen, so daß ihr empfändet, was wir empfinden, wenn wir die Blüthe eines jungen Mannes erblicken, wenn, wie Phrynichus Phrynichus (von Athen), griech. Tragiker (um 500 v. Chr.), zitiert von Athenaios von Naukratis (2. Jh. n. Chr.), Das Gelehrtenmahl [Auswahl]. Aus dem Griechischen von U. und K. Treu (1985) S. 368. singt von des Troilus jugendlichen Wangen,

»λάμπει δ'ἐπὶ πορφυρέαις
παρηίσι φῶς Ερωτος«! » Es erglänzt auf seinen purpurnen Wangen das Licht des Eros (Athenaeus, deipnosophistarum lib. XIII. p. 566. [al. lib. XIII, cap. 17.])

Dann würde es euch gegenüber einer Rechtfertigung unserer Liebe ohne Zweifel überall nicht bedürfen. Eurer begeistertsten Sympathien wären wir gewiß.

So aber ist jenes unmöglich; wie es denn ebenso unmöglich ist, daß jemals wir empfinden werden, was in eurem Inneren vorgeht beim Anschauen eines blühenden weiblichen Wesens.

Euer Empfindungsvermögen also steht mir nicht zur Disposition. Eure Sympathie steht uns nicht zur Seite. Im Gegentheil, ungezügelte Antipathie lodert in euch gegen uns und gegen eine Liebe, deren zauberische Gewalt und deren himmlische Herrlichkeit ihr nicht einmal leise zu ahnen befähigt seid.

Darum bleibt mir nichts übrig, als an euren Verstand nachstehend mich zu wenden, als an euren nackten kalten Verstand mit nackten kalten Vernunftschlüssen heranzutreten. Euer Verstand steht mir zu Gebote. Verstand und Vernunftschlüsse sind ein gemeinsamer Boden euch und mir. Auf diesem Boden seid ihr Rede und Antwort mir schuldig.

Eure erwähnte leidenschaftliche Antipathie ist ein wesentliches Hinderniß einer richtigen, rein objectiven, Auffassung der mannmännlichen Liebe. In dieser Sache fehlt euch, um mit Arthur Schopenhauer Arthur Schopenhauer (1788-1860): den in II. Inclusa ausführlich zitierten Philosophen hat Ulrichs erst während der Niederschrift kennengelernt (II. Inclusa S. 45). Siehe aber Briefe S. 69. zu reden, die »vom Willen nicht bestochene Erkenntniß«, welche man mit Recht für jedes Erkennen verlangt. Eure Erkenntniß ist in Fesseln geschlagen von Sympathie für Weiberliebe und von maßloser Antipathie gegen mannmännliche Liebe.

Ihr seid Partei, wie ich Partei bin. Unparteiisches, von Parteieingenommenheit freies, Urtheil kann ich bei niemandem von euch mit irgend welcher Sicherheit voraussetzen.

Ich würde mich auch gar nicht an euch wenden mit meiner Rechtfertigung der mannmännlichen Liebe, wäre ich nicht gezwungen, es zu thun. Perhorresciren würde ich euch, wie man einen befangenen Richter perhorrescirt. Es giebt auf Erden keinen über euch stehenden Richter, an den ich mich wenden könnte. Ihr beherrscht die Wissenschaft und die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft. Indem ich meine Rechtfertigung deßhalb dennoch an euch richte, seid ihr daher Partei und Richter in Einer Person. Wollet das, bei eurer Prüfung meiner Sätze, bedenken. Nur bei völlig Geschlechtslosen, bei den Engeln im Himmel, würde ich völlig unbefangenes Urtheil voraussetzen dürfen. Annäherungsweise auch bei Greisen, in denen der geschlechtliche Liebestrieb bereits erloschen, und bei Kindern, in denen er noch nicht erwacht ist.

Eine ganz andere Stellung, als ihr Männer, werden vermuthlich wissenschaftlich gebildete Frauenzimmer zur mannmännlichen Liebe einnehmen; freilich auch sie erst, nachdem sie meine Verstandesgründe werden erkannt haben. Denn zunächst ist auch bei ihnen eine hemmende Antipathie vorhanden. Dann aber werde ich bei ihnen auch voller Sympathie gewiß sein. Denn sie halte ich, ihrer weiblichen Natur wegen, für fähig, unsere Liebe auch mit dem Empfindungsvermögen zu erfassen, d. i. sie nachzuempfinden; was bei euch undenkbar ist.

Unbefangene Männer, die meine Sätze aufrichtig zu prüfen entschlossen sind, bitte ich daher um zwei Dinge: 1.) den festen Entschluß zu fassen, lediglich mit dem kalten Verstande zu prüfen und wenigstens den Versuch zu machen, von aller Antipathie ihre Vernunft zu emancipiren; 2) falls thunlich, auch die Stimmen gebildeter urtheilsfähiger Frauenzimmer zu vernehmen.

Keineswegs verzweifle ich jedoch auch an eurer leidenschaftslosen und richtigen Beurtheilung. Habe ich doch bei einzelnen unter euch den Beweis solcher unbefangenen Urtheile bereits in Händen an den Urtheilen Heinse's S. VIII Wilhelm Heinse (1746-1803), u. a. Übersetzer des Satyricon des Petronius, das Ulrichs wiederholt zitiert. und Arthur Schopenhauer's (siehe zweite Schrift §. 75. und §. 86.), von denen letzterer mit nachahmenswerther Gerechtigkeit von der mannmännlichen Liebe sagt »Die Welt als Wille und Vorstellung.« 3. Aufl. 1859. Bd. II. S. 644.:

»Der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, ist mein angeborner Beruf. Diesem Berufe auch hier getreu, anerkenne ich zunächst das sich darstellende Phänomen« (nämlich das thatsächliche Vorhandensein mannmännlicher Liebe unter allen Völkern und in allen Jahrhunderten, und ihre beharrliche Unausrottbarkeit) »nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus.«

Ferner sagt er A. a. O. S. 643.:

»Dieser Folgerung« (nämlich, daß die mannmännliche Liebe » irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgehe«) »können wir uns schlechterdings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren wollen.«

Möchten doch alle so gerecht gegen mich verfahren, wie ich, nach diesen Worten, von ihm erwarten dürfte, wäre er noch unter den Lebenden.

II.

Meinen Gegenstand scheint die herrschende hergebrachte Meinung für absolut unberührbar zu erklären: und ich, ich erdreiste mich, ihn einer eignen wissenschaftlichen Erörterung zu unterwerfen?

Mich rechtfertigen zwei Gründe.

Der Wissenschaft ist, meines Erachtens, nichts unberührbar. Schon dieser Grund allein reicht hin, meine ich, mich zu rechtfertigen. Auch dann würde er mich rechtfertigen, wenn nicht schon längst Socrates und Plato, neuerdings unter anderen M. H. E. Meier M. H. E. Meier (genauer zitiert auf S. 2), Art. Päderastie, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Dritte Section, Neunter Theil (1837) S. 149-189. und Arthur Schopenhauer, diesem angeblich unberührbaren Gegenstände ihre Forschungen und Studien gewidmet hätten.

Aber noch ein anderer Grund tritt hinzu. Es handelt sich für uns um sein oder nicht sein. Es handelt sich um die Frage:

Ist es noch länger zu dulden, daß ihr, lediglich auf Grund eines naturwissenschaftlichen Irrthums, absichtlich und systematisch darauf ausgeht, tausenden eurer Mitmenschen Ehre und Lebensglück zu zertreten und zu zerstören, Menschen, die ebenso brav sind, wie ihr, und die in Wahrheit in gar durchaus nichts sich vergangen haben?

Wo es aber darum sich handelt, die höchsten Güter des Lebens zu retten: da wahrlich heißt es: vincula frango! da hinweg mit der zartfühlenden Besorgnis, hergebrachten Ansichten von Unberührbarkeit in's Antlitz schlagen zu müssen; da wäre es geradezu sträflich, – um mich eines Ausdrucks des Paulus Julius Paulus, römischer Jurist (um 200), hier zitiert nach Corpus Iuris Civilis, Digesten 5, 3, 40 (Ausgabe von Th. Mommsen S. 86): sein Recht aus Furcht vor Gefahr nicht zu verteidigen. zu bedienen – »propter metum hujus periculi temere relinquere jus suum indefensum«. Paulus lib. 20. ad edictum. Enthalten in lex 40, princ., in fine, Digestorum, de hereditatis petitione, lib. V. tit. 3.

III.

Ich wünsche niemanden in nachstehendem zu verletzen oder zu kränken. Ich verzeihe allen, die mich kränkten, allen, die lieblos und hart gegen mich waren. Ich verzeihe meinem Verräther. Freimüthig aber werde ich reden. Meine Spannkraft fühle ich durch selbsterlittene Verfolgungen nur gesteigert.

IV.

Ich wollte lieber mit offenem Visir auftreten. Den Bitten derer, die mir die nächsten sind auf Erden, weichend, unterwarf ich mich der Fessel der Pseudonymität, die ich jedoch ehestens brechen werde.

Erster Abschnitt.
Die Ungerechtigkeit der bisherigen Verfolgungen mannmännlicher Liebe, abgeleitet aus ihrem Angeborensein.

I.
Thatsächliche Verbreitung mannmännlicher Liebe.

§. 1. Thatsache ist es, daß es unter den Menschen Individuen gibt,

deren Körper männlich gebaut ist, welche gleichwohl aber geschlechtliche Liebe zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern empfinden, d. i. Horror vor geschlechtlicher Körperberührung mit Weibern.

§. 2. Diese Individuen nenne ich nachstehend Urning, Dioning: Die Begriffe werden hier neu eingeführt. In den Briefen an seine Familie von 1862 (siehe oben Vier Briefe) sprach Ulrichs von ›Uranier‹ und ›Dionäer‹.

» Urninge«:

während ich

» Dioninge«

diejenigen Individuen nenne, welche man schlechtweg » Männer« zu nennen pflegt, d. i. diejenigen,

deren Körper männlich gebaut ist, und welche geschlechtliche Liebe zu Weibern, geschlechtlichen Horror vor Männern empfinden.

Die Liebe der Urninge nenne ich nachstehend urnische oder mannmännliche Liebe, die der Dioninge dionische.

Zur Schaffung neuer Ausdrücke glaubte ich schreiten zu müssen, weil das bisher wohl gebrauchte Wort » Knabenliebe« zu der Mißdeutung Anlaß giebt, als liebe der Urning wirklich Knaben, während er doch junge Männer (puberes) liebt. Auch im alten Griechenland liebte der Urning nicht Knaben. »Πα ῖϛ« siehe auch den Nachtrag in II. Inclusa S. 2. heißt so gut »junger Mann«, als »Knabe«. Meine Ausdrücke sind entstanden durch Umwandlung der Götternamen Uranus und Dione. Eine poetische Fiction Plato's leitet nämlich den Ursprung der mannmännlichen Liebe ab vom Gotte Uranus, den der Weiberliebe von der Dione. (Plato's Gastmahl Ulrichs zitiert diese Stelle ausführlich im Vorspann zu X. Prometheus. In einer modernen Übersetzung (Platon, Das Trinkgelage. Über den Eros. Übertragen von U. Schmidt-Berger [1985]) lautet sie:
Wir alle wissen, daß Aphrodite nie ohne Eros ist. Gäbe es nun nur eine Aphrodite, so gäbe es auch nur einen Eros. Da es aber bekanntlich zwei gibt, muß es auch zweierlei Eros geben. Sind es denn etwa nicht zwei Göttinnen? Die eine ist die ältere, die mutterlose Tochter des Himmels [Uranos], der wir auch den Beinamen ›die Himmlische‹ geben; die jüngere ist die Tochter des Zeus und der Dione, die nennen wir ›die All-gemeine‹. Folglich heißt der eine Eros, der Gehilfe der letzteren, zu Recht ›der All-gemeine‹, der andere aber ›der Himmlische‹.
, Cap. 8. u. 9.)

§. 3. Viel tausend Urninge leben in allen Ländern Deutschland's in Stadt und Land, unter hohen und niederen Ständen, in allen Berufsklassen, Millionen unter allen Völkern der Erde. Urninge gab es zu allen Zeiten, schon im grauesten Alterthum, unter Völkern, welche noch auf der niedrigsten Stufe der Cultur standen, unter Fischer- und Jägervölkern, unter Nomaden, ja unter den eigentlichen Wilden.

Lautes Zeugniß legen davon ab theils neuere Schriften, theils die Schriften des Xenophon Ulrichs nennt hier einige der für ihn wichtigen, meist literarischen Quellen; Erläuterungen siehe jeweils bei den Zitaten., des Athenäus, die noch vorhandenen Ueberbleibsel der Gedichte des Pindarus, Ibyeus, Anacreon, Plutarch's έϛωτεϛ, Lucian's άπόφϱαϛ, Lucian's έϛωτεϛ, was die Griechen betrifft vor allen Plato's Schriften; sodann Virgil's ecloga II. »Alexis«, die Schriften des Suetonius, des Petronius, die Scriptores historiae Augustae u. s. w., die Persischen und Arabischen Dichter des Mittelalters u. s. w., die Bibel, das corpus juris u. s. w. Unter den neueren Schriften verweise ich auf den ausführlichen und recht unbefangen geschriebenen Aufsatz von Meier vom Jahre 1837 in Ersch und Gruber's Encyclopädie. (Band Pac.–Pal. S. 149-189.)

§. 4. Nach einer annäherungsweisen Berechnung gibt es in Deutschland 20 000 erwachsene Urninge; nach einer anderen 30 000, ja 35 000. Nehmen wir als Durchschnitt 25 000 an und nehmen wir Deutschland's Seelenzahl zu 50 000 00 an (etwas zu hoch), also die Zahl seiner Männer zu 25 000 000 und die seiner erwachsenen Männer zu 12 500 000: so ist das Verhältniß der erwachsenen Urninge zu den erwachsenen Männern überhaupt das von

25 000 zu 12 500 000,

oder von

1 zu 500.

D. i. unter 500 erwachsenen Männern ist in Deutschland durchschnittlich auf einen Urning zu rechnen. Mit diesem Ergebniß stimmen auch die Verhältnisse einzelner Städte Deutschland's ziemlich genau überein. So enthält Berlin mit seinen 500 000 Seelen ganz gewiß weit mehr als 250 erwachsene Urninge, wobei denn freilich die dortigen Fremden mit in Berechnung kommen. Mehrere Städte von etwa 100 000 Seelen enthalten ebenso mindestens 50 erwachsene Urninge.

Dies allerdings schwierige Gebiet sollte die Statistik nicht übersehen.

Trügen nicht verschiedene Anzeichen, so ist in Deutschland die Zahl der Urninge im Verhältniß zu den Dioningen in fortwährendem Wachsen begriffen. Kein Vater ist sicher, ob nicht in einem seiner unerwachsenen Söhne der Keim dieser Neigung schlummere und mit dem Eintritt der Pubertät hervorbrechen werde.

§. 5. Hin und wieder werden nachstehend geschlechtliche Ausdrücke nicht zu umgehen sein. Allein wo dieselben im höheren Interesse der Bekämpfung verhängnißvoller Irrthümer ausgesprochen werden müssen: da würde es meines Erachtens von meiner Seite Unrecht sein, aus falscher Scham sie zu verschweigen, und ebenso von Seiten des Lesers, an ihnen Anstoß zu nehmen.

Es gibt Menschen, die es verstehen, gegen Beweisgründe sich hermetisch zu versperren. Nur für unvoreingenommene Leser schrieb ich. Diese aber bitte ich um eine möglichst ruhige und sorgfältige Prüfung meiner Sätze.

II.
Angeborensein mannmännlicher Liebe.

§. 6. Die Dioninge scheinen ohne Weiteres von der Hypothese auszugehen:

eine eigene Classe geborener Urninge gebe es nicht unter den Menschen und könne es nicht geben,

mit anderen Worten:

eine eigene Classe von Individuen gebe es nicht und könne es nicht geben, denen, bei männlichem Körperbau, weiblicher Geschlechtstrieb angeboren sei, d. i. denen geschlechtliche Liebe zu Männern und geschlechtlicher Horror vor Weibern angeboren sei;

allen körperlich männlich gebauten Individuen sei vielmehr auch männlicher Geschlechtstrieb angeboren, d. i. geschlechtliche Liebe zu Weibern, geschlechtlicher Horror vor Männern.

§. 7. Diese Hypothese ist durchaus irrig. Es giebt eine eigene Classe geborener Urninge, eine eigene Classe von Individuen, denen neben männlichem Körperbau weiblicher Geschlechtstrieb angeboren ist, eine eigene Unterart von Männern, denen mannmännliche Liebe angeboren ist.

In der zweiten Schrift werde ich hierfür eine Reihe von wissenschaftlichen Beweisgründen anführen.

§. 8. Unter »angeboren« ist zu verstehen: geschlechtlich angeboren, organisch angeboren, dem geistigen Geschlechtsorganismus nach angeboren, nicht: krankhaft angeboren, auch nicht ein Angeborensein, wie dem Brandstifter, dem Diebe, dem Trunkenbold ein Hang etwa angeboren sein mag, Brand zu legen, zu stehlen, zu trinken; sondern ein Angeborensein in demselben Maße, wie dem Dioning Geschlechtsliebe zu Weibern und wie dem Weibe Geschlechtsliebe zu Männern angeboren ist.

§. 9. Das Angeborensein mannmännlicher Liebe ist ein Angeborensein in dem Maße, daß das Individuum, dem sie angeboren ist, der Urning, in Folge dessen gar nicht vollständig Mann ist, sondern nur » Quasi-Mann« oder » Halbmann« genannt zu werden verdient.

Seinem ganzen geistigen Organismus nach, nicht blos was geschlechtliche Liebesempfindung betrifft, seiner ganzen geistigen Naturanlage nach, seiner ganzen Gemüthsart nach: ist der Urning nicht Mann, sondern ein Wesen weiblicher Art.

In hervortretenden Charakterzügen, im Benehmen, in Körperbewegungen etc. trägt er einen vollkommen weiblichen Habitus an sich, welcher die erkennbare äußere Erscheinung des in ihm wohnenden weiblichen Elements ist. (Siehe die zweite Schrift.)

§.10. Wir Urninge bilden eine zwitterähnliche besondere geschlechtliche Menschenclasse, ein eigenes Geschlecht, dem Geschlecht der Männer und dem der Weiber als drittes Geschlecht siehe bereits Briefe S. 45 u. ö. coordinirt. Selbstständig stehen wir da, neben Männern und neben Weibern, völlig abgesondert von beiden, die wir weder völlig Mann noch völlig Weib sind, beiden von Natur gleich fern stehend: wenn schon durch künstlich anerzogene Männlichkeit der Classe der Männer uns nähernd; ebenso auch in unserer socialen Stellung, wie auch vielleicht in geistiger Leistungsfähigkeit, den Männern gleich stehend.

§.11. Mit dem bisherigen Ignoriren des Vorhandenseins der Urninge dürfte über dieses Vorhandensein nicht länger hinwegzukommen sein. Die Frage nach der Existenzberechtigung der Urninge verlangt eine Lösung: und zwar eine versöhnende. Sie verlangt eine solche nicht wegen eines vereinzelten Individuums, sondern im allgemeinen öffentlichen Interesse. Stark genug möchte schon jetzt die Classe der Urninge sein, um ihre Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung geltend zu machen. Freilich gehört ein wenig Kühnheit dazu. Gestützt auf den Schild der Gerechtigkeit ihrer Sache muß sie es wagen, aus ihrer bisherigen Zurückhaltung und Vereinzelung muthig hervorzutreten. So sei denn hiemit das Eis gebrochen!

III.
Naturwidrig und naturgemäß.

§. 12. Wenn ich den liebe, zu dem meine Natur mich hinzieht, so handle ich nicht naturwidrig. Wenn ich als Urning einen blühenden und schönen jungen Mann liebe, so handle ich nicht gegen die Natur.

Als naturwidrig handelnd könnt ihr den Urning, der einen Mann liebt, nur dann betrachten, wenn ihr von der irrigen Voraussetzung ausgeht:

allen männlich gebauten Individuen, also auch ihm individuell, sei Liebe zu Weibern und Horror vor Männern angeboren, auch ihm individuell sei die Dioningsnatur angeboren.

Der Urning, dem Liebe zu Männern und Horror vor Weibern angeboren ist, handelt, in Consequenz dessen, ferner

naturgemäß,

wenn er, dem Zuge dieser angebornen Liebestriebe folgend, Weiber geschlechtlich flieht, und sein geschlechtliches Naturbedürfniß in den Armen und in der körperlichen Berührung eines jungen Mannes befriedigt.

§. 13. Er handelt nämlich gemäß seiner individuellen Natur und gemäß der Urningsnatur überhaupt, gemäß der Natur des dritten Geschlechts: nicht nur secundum naturam suam, sondern auch secundum naturam sui generis.

Er handelt genau so naturgemäß, wie der Dioning naturgemäß handelt, wie dieser nämlich secundum naturam suam et sui generis handelt, wenn dieser, dem Zuge des ihm angebornen Triebes folgend, sein geschlechtliches Naturbedürfniß in den Armen eines Weibes befriedigt;

oder wie die eine Classe von Zwittern, welche, dem ihnen angebornen Triebe folgend, Männer liebt Vergl. die drei Beispiele männerliebenden Zwitter, in der zweiten Schrift erwähnt., oder wie die andere, welche Weiber liebt.

§. 14.  Was euch Dioningen geschlechtlich angeboren ist, kann für männerliebende Zwitter und für uns Urninge nicht maßgebend sein.

Auch für euch ist ja nicht maßgebend, was uns oder was Weibern oder was Zwittern geschlechtlich angeboren ist.

Rücksichtlich der Frage:

»Was ist naturgemäß und was naturwidrig

ist für kein Individuum eine ihm fremde Natur maßgebend. Für jedes ist seine eigene Natur maßgebend, beziehungsweise die Natur des Geschlechtes, dem dasselbe angehört, natura sua et sui generis: es mag nun Dioning, Weib oder Urning sein. Rücksichtlich jener Frage ist jedes Individuum lediglich ex natura sua et sui generis zu beurtheilen.

Der Fisch ist rücksichtlich jener Frage nicht nach der Natur der Vögel zu beurtheilen, der Vogel nicht nach der der Fische; die eine Unterart der Fische und Vögel nicht nach der Natur einer anderen Unterart, der Hecht nicht nach der des Aals, die Henne nicht nach der der Ente; der Dioning nicht nach der der Weiber und das Weib nicht nach der der Dioninge.

Ebenso kann, rücksichtlich jener Frage, auch für uns Urninge lediglich unsere eigene Natur (Unternatur) maßgebend sein, nicht die Natur der weiberliebenden Dioninge.

§. 15. Kann eure Natur aber an sich nicht maßgebend sein für uns, so kann sie es auch nicht werden

weder

a. durch eure größere Zahl,

noch

b. dadurch, daß der Weg der Befriedigung des geschlechtlichen Naturbedürfnisses, auf welchen unsere Natur uns hinweist, zur Fortpflanzung ungeeignet ist, während der Weg, auf welchen euere Natur euch führt, zur Fortpflanzung sich eignet.

§. 16.  Zu a. Uns gegenüber bildet ihr eine an Zahl weit überwiegende Majorität. Allein auf bloße Zahlen kommt es nicht an, weder bei der Frage: »was ist naturgemäß?« noch bei der Frage: »was ist moralisch oder allgemein menschlich erlaubt?«

§. 17.  Zu b. Zur Fortpflanzung sind auch die Zwitter untauglich, die meisten, wenn nicht gar alle. Nichtsdestoweniger aber ist es die Natur, welche die Zwitter schuf; und für die Zwitter kann, wie ihr zugeben werdet, nur ihr eigene Natur maßgebend sein, nicht z. B. die euere, welche ihr uns aufdrängt.

Daß unsere Liebesacte zur Fortpflanzung nicht tauglich sind, sowie daß eine innere unsichtbare Naturgewalt gerade zu solchen unfruchtbaren Liebesacten uns antreibt und nicht zu fruchtbaren: für beides sind nicht wir verantwortlich, sondern die Natur. Der uns obliegenden Verantwortlichkeit genügen wir vollkommen, wenn wir dem Zuge, den eine höhere Hand – Gott oder die Natur – in unsere Brust gepflanzt hat, nicht widerstreben, sondern folgen. Weitere Verantwortlichkeit trifft uns nicht. Beruhigt ihr euch nicht mit dieser Unfruchtbarkeit unsrer Liebesacte, verlangt ihr eine Verantwortung wegen derselben: so fordert diese Verantwortung von jener höheren Hand, nicht von uns.

Geschlechtliche Berührungen des Körpers blühender junger Männer sind einmal das, was der innere Naturtrieb uns lehrt. Darum sind diese unsere Liebesacte, trotz ihrer absoluten Unfruchtbarkeit, uns naturgemäß.

Was uns an sich naturgemäß ist, das wandelt also die Unfruchtbarkeit nicht um in naturwidrig.

§. 18. Für uns Urninge ist somit lediglich unsere eigene Natur maßgebend, nicht die eure.

Nach unserer eigenen Natur verlangen wir nun aber auch beurtheilt zu werden. Wir protestiren gegen jeden Versuch, Regeln uns aufzuzwängen, welche lediglich Consequenzen eurer weiberliebenden Natur sind.

IV.
Die Hebung angeborner mannmännlicher Liebe ist weder verbrecherisch noch unsittlich. Sie zu verfolgen ist daher grausam, ungerecht und sinnlos. De lege ferenda

lex lata – lex ferenda: bestehendes Gesetz – zu schaffendes Gesetz.

§. 19. Den Urning, der, dem Zuge seines angeborenen mannmännlichen Liebestriebes folgend, in der körperlichen Berührung eines geliebten blühenden jungen Mannes sein geschlechtliches Naturbedürfniß befriedigt, straft man gegenwärtig de facto, nämlich hergebrachter Auslegung der Gesetze gemäß, als Verbrecher in sämmtlichen Deutschen Landen, mit einziger Ausnahme Bayern's Beziehungsweise auch Würtemberg's, Hannover's und Braunschweig's. Bayern allein indes behandelt mannmännliche Liebe völlig correct. Es erklärt ihre Uebung überall da für völlig straflos, wo Uebung dionischer Liebe straflos ist, d. i. wo nicht Excesse begangen wurden, also wo nicht Gewalt angewandt wurde, wo nicht Mißbrauch kindlichen Alters vorliegt, wo eheliche Rechte nicht verletzt wurden etc., und erklärt ihn für infam. Es geschieht, weil er sein geschlechtliches Naturbedürfniß anders befriedigt, als auf dem Dioningswege, anders, als auf dem Wege, den eine ihm fremde Natur lehrt. Es geschieht, weil die Majorität, die aus Dioningen bestehende, ihn nicht nach seiner eigenen Natur beurtheilt, sondern nach der ihrigen, weil sie, einem Prokrustes gleich, ihn in das Bett der ihm fremden Dioningsnatur einzwängt.

§. 20. Diese Bestrafung und diese Infamirung des Urnings ist nach dem Vorstehenden ebenso grausam nicht nur, sondern auch ebenso ungerecht, ja sinnlos, als wollte etwa ein Urning, der als Herrscher die Macht dazu hätte, jeden Dioning als Verbrecher strafen oder infamiren wegen seiner Liebesbefriedigung in den Armen eines jungen Weibes.

Diese Bestrafung ist gerade so sinnreich, als wollte man – ihr werdet diesen Vergleich zulassen müssen – die Henne dafür bestrafen, daß sie, statt lebendige Junge zu gebären, Eier legt und brütet, oder die Kuh, daß sie, statt ein Ei zu legen und dasselbe auszubrüten, ein Kalb gebiert.

Die bisherigen Verfolgungen der mannmännlichen Liebe der Urninge waren ebenso thöricht, wie einst die Verfolgungen der Ketzerei und Hexerei. Sie waren auch gleich erfolglos.

»Naturam furca expellas, tamen usque recurret!« Das genaue Zitat (Horaz, Epistulae 1, 10, 24) findet sich in II. Inclusa S. 46:
Naturam expelles furca, tarnen usque recurret. Natur magst du austreiben mit der Heugabel: Natur kehrt beharrlich zurück. (Übersetzung W. Schöne)

sagt Horaz.

§. 21. Mannmännliche Liebe ist ein Naturräthsel. Als ein solches wird jeder Unbefangene sie anerkennen, der auch nur einen Augenblick über sie nachdenkt. Naturräthsel aber löst man, soweit sie überhaupt lösbar sind, durch die Wissenschaft: nicht durch blindes Für-infam-erklären oder durch blindes Dreinhauen mit dem s. g. Schwert der Gerechtigkeit, welches ja nur allzuoft schon, Ketzern, Juden und Hexen gegenüber, als Schwert der Ungerechtigkeit sich erwiesen hat.

§. 22. Beim Naturräthsel der mannmännlichen Liebe wird es der Wissenschaft zwar schwer werden, das Räthsel zu lösen:

» Wie erweckt die Natur Liebe zu Männern in Individuen, an denen sie im Mutterleibe den Keim der körperlichen Geschlechtsorgane nicht zu weiblicher, sondern zu männlicher Gestaltung entwickelte?«

Nicht dagegen wird es der Wissenschaft, bei einigermaßen sorgfältiger Untersuchung, schwer werden, zu dem Ergebniß zu gelangen:

daß die Natur in einer bestimmten Classe dieser Individuen Liebe zu Männern erweckt.

Jenes Räthsels Lösung dürfte indeß kaum schwerer werden, als die Lösung der beiden coordinirten, vielleicht gleich räthselhaften, Fragen:

Wie erweckt die Natur Liebe zu Weibern im Manne? Auch für Freud war »das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem« (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. I. Die sexuellen Abirrungen [Ausgabe mit einem Vorwort von R. Reiche, 1991, S. 48]).

und:

Wie erweckt sie Liebe zu Männern im Weibe?

Sollte es einem Sterblichen gelingen, diese beiden Naturwunder zu erklären, so dürfte er von der Lösung der soeben gestellten Frage vielleicht nicht mehr fern sein.

Erklärt sind diese beiden Wunder bekanntlich noch nicht. Dies wünsche ich zu constatiren für den Fall, daß ihr mir vorhalten solltet, von mir sei jene Frage nicht gelöst.

§. 23. An Zahl bilden wir Urninge eine schwache Minorität. Aber vor Gott und Menschen haben wir dasselbe Recht wie ihr, die ihr lediglich die Uebermacht der Zahl, lediglich das Recht der Uebermacht, in euren Händen habt, d. i. das Recht der Gewalt. Unser gleiches Recht seid ihr nicht befugt uns zu nehmen oder auch nur zu schmälern.

§. 24.  Wer, frage ich, giebt euch das Recht, uns hineinzuzwängen in euern Modus der Befriedigung des geschlechtlichen Naturbedürfnisses, in den Modus der Befriedigung in den Armen eines Weibes, in einen Modus, vor dem unsere angeborene geschlechtliche Naturanlage sich sträubt, den wir verabscheuen, der uns eine Befriedigung mit Durchströmung lebendiger und belebender magnetischer Kraft, also eine wahre Liebesbefriedigung, nicht gewährt, kurz, der uns naturwidrig ist: denjenigen Modus dagegen, den unsere Natur uns lehrt, den sie klar und bestimmt, mit unwiderstehlich lockender Zaubergewalt, uns vorzeichnet, der uns die magnetische Durchströmung, die wahre Liebesbefriedigung, gewährt, der uns der naturgemäße ist, – d. i. die Befriedigung in der körperlichen Berührung eines blühenden und geliebten jungen Mannes – uns zu stempeln zu Infamie und Verbrechen?

Wer, frage ich, giebt euch das Recht, die uns naturgemäße Liebesbefriedigung uns

lebenslänglich zu verbieten,

und zur Entschädigung uns mit einer Erlaubniß abzufertigen, welche die Natur uns gebietet mit Abscheu zu verschmähen; mit der Erlaubniß, einen Modus zu wählen, der uns Befriedigung nicht gewährt, der uns naturwidrig ist, vor dem, kraft angeborener Natur, ein unauslöschbarer Abscheu, ein horror naturalis, uns zurückscheucht?

§. 25. Alle Liebesacte, welche außerhalb der Ehe erfolgen, insonderheit auch die unsrigen, pflegt ihr aus dem Gesichtspunkte der Unzucht aufzufassen. Dieser Gesichtspunkt für außereheliche Liebesacte ist durchaus ungenügend.

Es wäre denkbar, daß Kirche oder Staat einem Jeden geböte, vor jedem Genusse von Speise und Trank zu beten oder irgend eine sonstige Form zu beobachten, und daß mancher sich diesem Gebote aus irgend einem Grunde nicht fügen wollte oder könnte, also Speise und Trank zu sich nähme, ohne die Form zu erfüllen. Würde es hier nicht sinnlos sein, solche Menschen deßhalb gefräßig oder Säufer zu nennen? Ja, sie können allerdings auch gefräßig oder Säufer sein. Ebenso gut aber können sie auch Menschen sein, die, abgesehen von jener Nichterfüllung der Form, nichts weiter thun, als daß sie ihr Naturbedürfniß, zu essen oder zu trinken, befriedigen. Von Fressen und Saufen können sie ebenso fern sein, als wer jene Form erfüllt.

Aehnlich die außerehelichen Liebesacte. Sie können zwar Unzucht sein; sie können aber auch lediglich Befriedigung des geschlechtlichen Naturbedürfnisses sein. Letzteres können sie sein vollkommen so gut, wie eheliche Liebesacte. Eurem Gesichtspunkte der Unzucht stellen wir daher entgegen den Gesichtspunkt der Befriedigung eines Naturbedürfnisses.

§. 26. Unser geschlechtliches Naturbedürfniß ist – um dies hier anzugeben – ein solches, welches periodisch Befriedigung verlangt, sei es eine vollständige, sei es eine unvollständige. Letztere ist diejenige, welche in bloßen Liebkosungen und in Einsaugung jenes magnetischen Stromes besteht, der, aus dem Körper eines jungen Mannes ausströmend, in jeder körperlichen Berührung mit ihm von uns aufgenommen wird.

§. 27. Das positive Institut der Ehe ist kein Institut für uns. Weder einen Priester giebt es, noch einen Civilstandsbeamten, der ein Eheband knüpfe zwischen uns und unserem Geliebten. Für uns existirt also der rein menschliche Naturzustand: wie für die Vögel unter dem Himmel und die Thiere auf dem Felde (was freilich nur unter Beschränkungen zu verstehen ist). D. i. für uns kann die Ehe nicht die Vorbedingung sein des moralischen Erlaubtseins der Liebesbefriedigung: wenigstens so lange jener Priester fehlt oder jener Civilstandsbeamte.

§. 28. Wir sind nicht Eunuchen. Wie euch, so gab auch uns die Natur einen Liebestrieb und ein geschlechtliches Naturbedürfniß, welches nach Befriedigung verlangt. Auch haben wir kein Gelübde ewiger Nichtbefriedigung abgelegt. Wer, frage ich, giebt euch nun das Recht, uns zu gebieten, daß wir entweder Weiber lieben, oder aber lebenslänglich leben sollen wie die Eunuchen, oder als bände uns ein Gelübde? Was würdet ihr sagen, wenn es einmal einem tyrannisch regierenden Urning einfallen sollte – etwa als Repressalie für euer bisheriges Verfahren gegen uns – das umgekehrt entsprechende euch zu gebieten, also entweder Männer zu lieben, oder lebenslänglich zu leben wie die Eunuchen?

§. 29.  Auch wir haben das Recht, der Liebe Seligkeit zu schmecken; auch wir haben das Recht, unsren Liebestrieb und unser geschlechtliches Naturbedürfniß zu befriedigen; auch wir haben das Recht, es auf dem Wege zu thun, den die eigene Natur uns lehrt, nicht eine fremde.

§. 30. Laut protestiren wir gegen den Mißbrauch, den bisher die Dionings-Majorität mit ihrer Uebermacht gegen uns getrieben hat.

Das Lebensglück Vieler unter uns hat sie vergiftet durch namenlose Mißhandlung und Verfolgung und durch Beschimpfung ihrer Ehre. Die Rosen der Liebe hat sie uns Allen zertreten.

§. 31. Von ihrem Standpunkte aus, welcher der eines naturwissenschaftlichen Irrthums ist, also subjectiv, mag dabei die Majorität zwar bona fide bona (optima) fide: in gutem (bestem) Glauben. Jan Hus, tschechischer Kirchenreformer, 1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt. gehandelt haben, ja optima fide. Sie ist ja von dem Irrthum befangen: wir seien Männer, wie die Dioninge sind, also mit angebornen Dioningstrieben.

Objectiv aber betrachtet, beging sie Unrecht, das zum Himmel schreit. Auch jene, welche Huß verbrannten, Servet Michel Servet, Arzt (Entdecker des Blutkreislaufs) und Theologe, 1553 in Genf verbrannt. wegen seiner Trinitätslehre köpften und Hexen verbrannten, handelten bekanntlich optima fide.

§. 32. Allein sogar subjectiv ist ihr ein Vorwurf zu machen, und ich kann ihn ihr nicht ersparen: der Vorwurf großer Fahrlässigkeit; da sie nämlich ihrerseits unsere Natur längst einer Prüfung hätte unterziehen sollen, einer mehr oder weniger wissenschaftlichen, um sich zu vergewissern, ob unsere Natur denn wirklich die der übrigen Männer sei, oder vielleicht eine ganz andere? ob also die harten Verfolgungen, die sie vollzog, auch gerecht seien? Niemals hat die Majorität solche Prüfung angestellt.

Einzelne männlich gebaute Individuen seht ihr beharrlich Männer lieben, Weiber aber ebenso beharrlich geschlechtlich meiden. Ist es nicht eine wahrhaft leichtfertige Schlußziehung, hieraus nun zu schließen: »Also handeln sie naturwidrig«? Liegt es nicht ebenso nahe, zu schließen: »Also muß ihr geschlechtlicher Liebestrieb von Natur wohl ein anderer sein, als der der weiberliebenden Männer«? oder überhaupt: »Also müssen sie wohl Geschöpfe ganz anderer Art sein, als die weiberliebenden Männer«?

§. 33. Ein Anlaß, solche Prüfung anzustellen, war namentlich, meine ich, hinreichend dringend geboten:

  1. der gesetzgebenden Gewalt, ehe sie dazu schritt, Vorgefundene Strafandrohungen für naturwidrige Acte neu zu sanctioniren; da ihr nämlich sehr wohl bekannt fein mußte, daß der Strafrichter gewohnt war, mannmännliche Acte ohne weiteres unter die naturwidrigen zu subsummiren;
  2. aber auch dem Strafrichter, so oft er dazu schritt, Jemanden für einen mannmännlichen Act, als für einen naturwidrigen, zu strafen;
  3. den Blutsverwandten, ehe sie dazu schritten, einen Blutsverwandten wegen mannmännlicher Liebe zu richten und zu verstoßen;
  4. ja sogar jedem aus dem Volke, ehe er Jemandem wegen mannmännlicher Liebe seine öffentliche Achtung entzog.

Ihnen allen gilt dieser Vorwurf. Mit besonderer Schärfe trifft er die, welche neben der allgemeinen Pflicht der Gerechtigkeit auch noch ein besonderes Band der Liebe bindet, d. i. die Blutsverwandten.

§. 34. Mit dem bezeichneten naturwissenschaftlichen Irrthum müssen auch die Consequenzen desselben fallen. Es giebt nicht zweierlei Vernunft und Vernunftschlüsse. Ihr müßt diese Nothwendigkeit anerkennen.

Nach einer aufrichtigen und unbefangenen Prüfung der mannmännlichen Liebe, nach einer Prüfung, welche unter allen Umständen der Wahrheit die Ehre giebt, welche bereit ist, der Wahrheit selbst eingewurzelte Vorurtheile und vorgefaßte Meinungen zu opfern, – wird die Verfolgung dieser Liebe mit logischer Nothwendigkeit eingestellt werden müssen: die strafrechtliche, die polizeiliche etc., sowie die der öffentlichen Meinung Auch disciplinarisch, d. i. bei Staatsdienern, hat der Staat meines Erachtens nicht das Recht, Uebung urnischer Liebe zu verfolgen. Die katholische Kirche fordert von ihren Dienern unbedingte lebenslängliche Nichtbefriedigung der geschlechtlichen Liebe. Ob diese ihre Forderung, unter Berücksichtigung der Zwecke der Kirche, recht oder billig sei, ist im höchsten Grade bestritten. Der Staat jedenfalls hat nicht das Recht, von seinen Dienern das gleiche harte Opfer zu fordern. Niemand bezweifelt, daß er seine Zwecke auch ohne dies Opfer erfüllen könne. Hat er aber dionischen Staatsdienern gegenüber dieses Recht nicht, so kann er es auch urnischen gegenüber nicht haben. Um so weniger aber hat, in concreten Fällen, der Staat dem Staatsdiener gegenüber einen Anspruch auf dies Opfer und beziehungsweise das Recht, disciplinarisch gegen ihn einzuschreiten, wenn nämlich der Staatsdiener dasselbe thatsächlich nicht bringt: dann, wenn er bei Knüpfung des Vertragsverhältnisses, dem Beispiele der katholischen Kirche nicht folgend, es unterließ, jenes Opfer sich vertragsmäßig auszubedingen. (Ulrichs spricht aus persönlicher Erfahrung. Im Dezember 1854 schied er aus dem Hannoverschen Staatsdienst aus, um einem Disziplinarverfahren wegen seiner Homosexualität zuvorzukommen.).

Den beiden vorigen Jahrhunderten war es gegeben, die Verfolgung von Ketzerei und Hexerei abzuschaffen. Unsrem Jahrhundert, ja hoffentlich unsrem Jahrzehent, wird es vorbehalten sein, die Verfolgung der mannmännlichen Liebe abzuschaffen.

Unter euch Dioningen wird jeder Freund des Fortschreitens zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit dem Streben nach diesem Ziele seinen Beifall schenken, ja seine thätige Mitwirkung. Diese Mitwirkung ist hiemit erbeten.

Der Kampf, den ich kämpfe – zunächst ich allein –, ist zwar ein Kampf gegen die gesammte öffentliche Meinung. Geistliche wie Laien, gläubige Christen wie Gottesleugner, Demokraten wie Conservative: sie alle habe ich in seltener Harmonie gegen mich. Allein es handelt sich hier weder um Glauben, noch um Sympathien oder Antipathien, sondern einmal um einfache Hinwegräumung eines naturwissenschaftlichen Irrthums durch nackte Gründe und sodann um nackte Gerechtigkeit. Gründen aber wird nur der Voreingenommene sich verschließen, und Gerechtigkeit zu gewähren wird nur der Ungerechte sich weigern.

Zweiter Abschnitt.
Juristischer Nachweis, daß nach Deutschland's bestehenden Gesetzen Uebung angeborener mannmännlicher Liebe, als unter den Begriff naturwidriger Handlungen nicht fallend, straflos ist, und daß daher strafrechtliche Untersuchungen wegen solcher Uebung gesetzlich überhaupt nicht statthaft sind, beziehungsweise daß begonnene Untersuchungen sofort einzustellen sind.

I.
Vorhandene Uebereinstimmung der lex lata mit der lex ferenda.

§. 35. Zur Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung der mannmännlichen Liebe wird es indeß einer Abänderung der bestehenden Deutschen Strafgesetze durchaus nicht bedürfen.

Mit den vorgetragenen Grundsätzen stimmen nämlich diese Gesetze in Wahrheit vollkommen überein: zwar nicht ihrer bisherigen factischen Handhabung nach, da solche durch einen naturwissenschaftlichen Irrthum afficirt war, wohl aber nach ihrer richtigen, von naturwissenschaftlichen Irrthümern gereinigten, Handhabung.

Stellen wir Urninge uns gerade unsererseits unter den Schutz der bestehenden Gesetze! Berufen wir uns gerade unsererseits auf dieselben!

§. 36. Nach den bestehenden Deutschen Strafgesetzen ist nämlich die Uebung mannmännlicher Liebe keineswegs an sich mit Strafe bedroht, sondern ausdrücklich, und zwar dem Buchstaben wie dem Geiste nach,

nur insofern, als sie widernatürlich ist.

Insofern sie nicht unter den Begriff widernatürlicher Liebesacte fällt, ist sie überall nicht mit Strafe bedroht. Die Widernatürlichkeit ist conditio sine qua non, nothwendige Vorbedingung, der gesetzlichen Strafbarkeit Auch das Christenthum verbietet die Uebung mannmännlicher Liebe nur unter der Voraussetzung der Widernatürlichkeit. Vergl. Röm. Cap. I. Dies scheint mir für einen Jeden, der die Stelle mit einiger Aufmerksamkeit liest, so unzweifelhaft zu sein, daß ich kein Bedenken tragen würde, mich selbst einem Concilienschlusse zu unterwerfen. Kein Concil, wenn es der Wahrheit die Ehre giebt, könnte einen anderen Ausspruch thun. Jenes Capitel ist die einzige Bibelstelle, welche ex professo und ausführlich über den Gegenstand handelt. Die übrigen sehr kurzen Stellen der heiligen Schrift sind daher ihr gemäß zu interpretiren. Römerbrief 1, 27, von Ulrichs häufig angeführt wegen der Wendung »relicto naturali usu feminae« ( ... haben den natürlichen Umgang mit dem Weibe verlassen), wird erst in X. Prometheus S. 30 ausführlich zitiert..

Bei Urningen also, denen mannmännliche Liebe angeboren ist, und denen darum Uebung derselben naturgemäß ist: schließen die Deutschen Gesetze all' und jede Bestrafung aus. Das Angeborensein der mannmännlichen Liebe ist also nicht etwa Straf milderungsgrund, nein:

Straf ausschließungsgrund.

§. 37. Selbst der etwaige Nachweis folgenden Satzes würde vorstehende Sätze nicht beeinträchtigen:

der Gesetzgeber sei, bei Erlaß dieses Gesetzes, in dem naturwissenschaftlichen Irrthum befangen gewesen, daß er jeden Liebesact von Seiten eines männlich gebauten Individuums an einem Manne für naturwidrig gehalten habe. Denn thatsächlich hat er ja doch nicht

»Liebesacte von Seiten eines männlich gebauten Individuums an Männern«

mit Strafe bedroht, sondern ausdrücklich eben nur

naturwidrige Liebesacte.

Was naturwidrig sei? ob nur Selbstbefleckung und Coitus mit Thieren? oder außerdem auch Uebung mannmännlicher Liebe? was naturwidrig sei und was nicht? rücksichtlich dieser Fragen ist er weit entfernt, den allgemeinen Begriffen irgend Schranken zu setzen, oder den Antworten der Wissenschaft auf diese Fragen irgend vorzugreifen – der Wissenschaft, d. i. hier der Naturgeschichte des Menschen.

Bei Beurtheilung mannmännlicher Liebesacte hat daher der Gesetzgeber den Richter durchaus nicht selbstständig hingestellt und ihn seinem eigenen Urtheil überlassen. Vielmehr hat er ihn vollkommen abhängig gestellt von der Entscheidung der Wissenschaft über die Frage: ob mannmännliche Liebesacte dem Einzelnen wirklich naturwidrig seien? oder ob etwa die bisherige Ansicht, welcher keinerlei wissenschaftliche Prüfung zum Grunde lag, eine irrige sei?

§. 38. Einzelnen Falls handelt es sich daher für den Richter lediglich um die Frage:

ob das betreffende körperlich männlich gebaute Individuum zum Geschlecht der Urninge gehöre? d. i. ob ihm Liebe zu Männern und Horror vor Weibern angeboren sei?

§. 39.  Erkennbar ist dies daran:

  1. In welcher Richtung beim Eintritt der Pubertät die Geschlechtsliebe in ihm hervortrat, ob auf Weiber, ob auf Männer gerichtet?
  2. In welcher Richtung seit Eintritt der Pubertät dieselbe sich kundgab?

Aus Einzelheiten ist beides ziemlich leicht zu constatiren. Der Urning entwickelt sich nämlich, in Rücksicht auf Eintritt der Pubertät etc., ganz analog dem Dioning und dem Weibe.

  1. An dem weiblichen Habitus, der erkennbaren äußeren Erscheinung des in uns wohnenden weiblichen Elements.

II.
Gesetzliche, der Staatsbehörde obliegende, Beweislast und Inhalt des von ihr zu erbringenden, zu einer Bestrafung gesetzlich erforderlichen, Beweises.

§. 40. Irre ich nicht, so ist überall, in unserem ganzen Deutschland, bei denunciirter mannmännlicher Liebe der bisherige Brauch folgender. Der Denunciant wird von den Dienern des Gesetzes nicht einmal befragt:

in welcher Richtung beim Eintritt seiner Pubertät seine Geschlechtsliebe hervorgetreten sei?

geschweige denn, daß von ihnen Material zusammengeschafft werde, um ihrerseits ihm den Beweis zu liefern, auch ihm, wie anderen männlich gebauten Individuen, sei Liebe zu Weibern angeboren und Horror vor Männern.

Und doch ist ja jedem Angeklagten der Anklagegrund zu beweisen, und zwar der gesammte Anklagegrund, also – besteht dieser in einer Copulative – seinen beiden Bestandtheilen nach. So ist z. B. bei Ehrenkränkungen dem Angeklagten zu beweisen nicht nur a) das factum injuriatorium die beleidigende Tatsache, sondern auch b) der animus injuriandi die Absicht zu beleidigen.. Beim Cameradendiebstahl nicht nur a) der Diebstahl, sondern auch b) das Cameradenverhältniß. Dort ist der animus injuriandi Vorbedingung der Strafbarkeit des injuriatorischen Factums, hier das Cameradenverhältniß Vorbedingung der Strafbarkeit des Diebstahls als Cameradendiebstahl.

§. 41. Hier also ist dem Angeklagten zu beweisen:

nicht nur

a) daß er in körperlicher Berührung eines Mannes einen Liebesact begangen habe;

sondern auch

b) daß die Vorbedingung der gesetzlichen Strafbarkeit eines solchen Actes erfüllt sei,

d. i.

daß Liebesacte an Männern ihm widernatürlich seien, daß also die Liebe des Dionings zu Weibern und der Horror des Dionings vor Männern

auch ihm

angeboren sei.

§. 42. Das Angeborensein der Dioningstriebe ist keineswegs etwas, was bei männlich gebauten Individuen sich ohne weiteres von selbst versteht. Da nämlich die Natur, wie gezeigt, einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau Liebe zu Männern und Horror vor Weibern einpflanzt, so beweist für die Frage:

»Sind dem Denuncianten die Triebe des Dionings angeboren?« sein männlicher Körperbau

gar nichts.

Unmöglich kann eine ganz vage Präsumtion: »auch dem Denuncianten werde wohl Liebe zu Weibern angeboren sein«, die Stelle des Beweises vertreten. Bei jedem einzelnen Individuum ist es ja rein quaestio facti Frage nach dem Sachverhalt, ob ihm Liebe zu Weibern oder zu Männern angeboren ist. Gerade so gut könnte man in anderen Fällen in Vertretung der Beweisführung präsumiren: »Denunciant werde wohl gefälscht, betrogen, falsch geschworen haben«, und auf solche Präsumtion hin verurtheilen.

§. 43. Es ist meines Ermessens eine Mißachtung nicht nur und Geringschätzung gegen uns, nein geradezu eine Ungerechtigkeit, daß der bisherige Brauch über den Punkt der dem Denuncianten angebornen Richtung der Geschlechtsliebe so einfach und leicht hinwegschlüpft: in der öffentlichen Meinung, wie am Gericht. Gehört denn dieser Punkt, der doch die gesetzliche Vorbedingung der Strafbarkeit ist, zu jenen minima, welche »praetor non curat?« minima non curat praetor (so auch S. 27): der Praetor (Richter) kümmert sich nicht um Kleinigkeiten. Vgl. D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (2. Aufl. 1982) S. 120; Büchmann, Geflügelte Worte (37. Aufl. 1986) S. 295 f. Ist er nicht vielmehr der Angelpunkt, um den sich die Untersuchung zu drehen hat?

III.
Unmöglichkeit, diesen Beweis zu erbringen, und demnach gesetzliche Unzulässigkeit einer strafrechtlichen Untersuchung.

§. 44. Das Angeborensein der Dioningstriebe wird man einem Urning nun und nimmermehr nachweisen können.

Sobald der Richter zu der Ueberzeugung gelangt, auf diesen Nachweis komme es an – und er kann sich unmöglich dieser Ueberzeugung verschließen –: können wir, uns unter den Schutz der bestehenden Gesetze stellend, allen Denunciationen und Criminaluntersuchungen, allem schwarzen Verrath, getrost in's Auge sehen.

Und wenn auch hundert Zeugen uns vorgeführt werden, Personen, die von unserem 14. oder 15. Lebensjahre an ununterbrochen mit Argusaugen uns beobachten: dennoch werden sie nicht im Stande sein, auch nur die geringste Aeußerung geschlechtlichen Liebesgefühls für ein weibliches Wesen aus irgend einer Periode unseres Lebens zu bezeugen. Für das Gegentheil gerade, für unsere halbweibliche Urningsnatur, werden sie Zeugniß ablegen müssen. Namentlich für den uns anklebenden weiblichen Habitus, sowie für eine durchaus weibliche Gemüthsart, werden sie durch Mittheilung von tausend kleinen einzelnen Zügen Zeugniß ablegen müssen, also für jene naturwissenschaftliche Eigenthümlichkeit der Urninge, welche dieselben von den Dioningen scharf unterscheidet, und welche ich in der zweiten Schrift anführen werde als einen der Hauptbeweisgründe für unsere singulaire und selbstständige Natur. Je sorgfältiger der untersuchende Richter hier forscht, desto deutlicher wird das directe Gegentheil an's Tageslicht treten von dem, was er nach dem Gesetz uns zu beweisen hat, ehe er daran denken darf, uns zur Strafe zu ziehen. Er wird sich bald überzeugen, daß die gesetzliche Vorbedingung der Verhängung einer Strafe nicht vorhanden sei.

§. 45. Eine Untersuchung wegen Ehrenkränkung wird der Untersuchende pflichtmäßig einstellen, sobald er sich überzeugt, ein animus injuriandi liege nicht vor, der Angeklagte habe z. B. im Schlaf einen beleidigenden Ausdruck ausgestoßen oder in der Fieberphantasie. Es wäre offenbar pflichtwidrig, die Untersuchung fortzusetzen, lediglich in der zwecklosen Absicht, zu constatiren, welche beleidigenden Ausdrücke der Denunciant im Schlaf etc. ausgesprochen habe.

Die Analogie dieses Falles ist bei uns vollständig zutreffend. Sobald der Untersuchende von unserer absonderlichen Urningsnatur sich überzeugt, welche die Uebung mannmännlicher Liebe als uns naturgemäß erscheinen läßt, beziehungsweise, sobald er sich überzeugt, uns das Vorhandensein der Dioningsnatur in uns nicht nachweisen zu können: ist es für ihn lediglich zwecklos, zu constatiren, welche einzelnen Liebesacte zwischen dem Urning und einem jungen Manne in körperlicher Berührung vorgekommen seien, weil hier die gesetzliche Vorbedingung zum Einschreiten fehlt. Von dem Augenblick an, in welchem beim Untersuchenden die Ueberzeugung von unserer Urningsnatur eintritt, beziehungsweise von der Unmöglichkeit der bezeichneten Beweisführung: kann gesetzlich eine Untersuchung wider uns nicht geführt, beziehungsweise nicht fortgesetzt, werden.

IV.
Widerlegung eines Einwandes.

§. 46. Dem möchte man erwiedern:

»Für die Strafbarkeit oder Straflosigkeit mannmännlicher Liebesacte sei keinesweges nur die Frage entscheidend: ›ob dieselben uns naturgemäß seien?‹ sondern auch die: ›ob sie dem, den wir lieben, naturwidrig seien?‹ Handle auch der eine, das Subject, seiner Natur gemäß, so sei doch für den anderen, für das Object, die Handlung naturwidrig. Durch Vornahme des für das Object naturwidrigen Actes widerfahre dem Object ein Unrecht, das am Subject zu ahnden sei.«

Auf den ersten Blick ist dieser Einwand schlagend. Allein ihn widerlegen nachstehende Gründe. Bei denselben haben wir folgende Begriffe zu unterscheiden, welche sich aus diesem Einwand selbst ergeben: »strafbar wegen subjectiver Naturwidrigkeit« und »strafbar wegen objectiver Naturwidrigkeit«. Unten werden aber noch die ferner zu unterscheidenden Begriffe hinzutreten: »naturgemäß aus subjektiven Gründen« und »naturgemäß aus objektiven Gründen.«

§. 47. I. Dieser Einwand scheint in der That auf einer Verwechselung zu beruhen, nämlich auf einer Verwechselung folgender Begriffe: »Vornahme eines Liebesactes an einem jungen Manne wider dessen Willen« und: »Versuch, an ihm, aber mit seiner zu erlangenden Einwilligung, einen Liebesact vorzunehmen.« Eine ratio hat der Einwand nur im ersteren Falle, d. i. nur dann, wenn wir mit Gewalt, wider seinen Willen, Liebesacte an ihm vornehmen (beziehungsweise vorzunehmen versuchen), nicht wenn wir mit seiner Einwilligung sie vornehmen (beziehungsweise versuchen, sie mit seiner Einwilligung vorzunehmen). Wo seine Einwilligung fehlt, da ist er allerdings aus dem Gesichtspunkte des Objects zu betrachten, dem ein zu sühnendes Unrecht geschehen ist: und da trifft die Strafbarkeit uns. Wo sie dagegen vorliegt, da ist so gut er Subject (Urheber) der betreffenden Handlung, wie wir. Ist dann die Handlung ihm naturwidrig: nun, so ist er ja selber Urheber der an ihm vorgenommenen ihm naturwidrigen Handlung, und so kann vernünftiger Weise nur er strafbar sein für die Urheberschaft einer ihm naturwidrigen Handlung, nicht wir für die Urheberschaft einer uns nicht naturwidrigen Handlung. Von einem ihm widerfahrenen Unrecht, wie der Einwand will, kann hier nicht die Rede sein.Volenti non fit injuria. De se queri debet. Dem Willigen geschieht kein Unrecht. Er hat es sich selbst zuzuschreiben. Vgl. Corpus Iuris Civilis, Digesten 47, 10, 1 § 5 (Ausgabe von Th. Mommsen S. 779), dazu Liebs, Lateinische Rechtsregeln S. 219; Büchmann, Geflügelte Worte S. 295.

Um so mehr muß die Verantwortlichkeit ihn selber treffen, als er seine Einwilligung ja leidenschaftslos gab: während z. B. das Mädchen, das dem jungen Manne Liebesgunst gewährt, bestochen zu sein pflegt durch die Gluth eigener Triebe. Der junge Dioning ist dem Mädchen gefährlich: nicht wir dem Dioning.

§. 48. II. In der That scheint aber auch für den Gesetzgeber, indem er naturwidrige Liebesacte für strafbar erklärte, nur subjective Naturwidrigkeit maßgebend gewesen zu sein, nicht auch eine etwaige objective.

Dafür finden sich theils rationelle, theils positive Anhaltspunkte.

1. Rationelle Anhaltspunkte.

§. 49. a) Für meine Ansicht streitet der innere Grund, den ich oben §.17. angeführt habe:

»Der uns obliegenden Verantwortlichkeit genügen wir, wenn wir dem Zuge, den eine höhere Hand in unsere Brust gepflanzt hat, nicht widerstreben, sondern folgen. Weitere Verantwortlichkeit trifft uns nicht

Daß dasjenige, wozu dieser Zug höheren Ursprungs uns antreibt, dem anderen möglicherweise naturwidrig ist, dafür sind wir nicht mehr verantwortlich. So weit reicht unsere Verantwortlichkeit nicht. Es genügt, wenn wir keine Excesse begehen, keine Gewalt anwenden etc.

Dies ist Vernunft und natürliches Recht: und schwerlich hat der Gesetzgeber von Vernunft und natürlichem Recht abweichen wollen.

§.50. b) Für meine Ansicht spricht auch noch aus einem anderen Gesichtspunkte die muthmaßliche Absicht des Gesetzgebers. Schwerlich hat derselbe irgend einem der Staatsbürger, irgend einem Menschen, der weder Eunuch ist, noch ein Gelübde abgelegt hat, unter Androhung von Criminalstrafen auferlegen wollen, sein geschlechtliches Naturbedürfniß seine ganze Lebenszeit hindurch niemals auf dem Wege, den natura sua et sui generis ihn lehrt, zu befriedigen. Schwerlich hat er die Absicht gehabt, ihm die Ausübung eines seiner unbestreitbarsten Menschenrechte zu versagen. Und ferner: wie Dioningen und Weibern, so ist auch uns die Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses oft medicinisches Heilmittel: nämlich die uns naturgemäße. Denn diese allein ist für uns mit der Einsaugung des magnetischen Stromes verbunden. Sollte nun er, der weltliche Gesetzgeber, wirklich wohl die Absicht hegen, irgend einem der Staatsbürger den Gebrauch dieses Heilmittels unter Androhung von Criminalstrafen zu verbieten? Nach der entgegenstehenden Ansicht aber würde er gegen sämmtliche urnisch gebornen Staatsbürger gerade diese aller Vernunft wahrhaft Hohn sprechenden Absichten hegen, ja diese naturwidrigen Absichten: gegen die übrigen Staatsbürger nicht. Alle Vorwürfe der Ungerechtigkeit, welche oben in Abschnitt I. unter IV. begründet worden sind, würden ihn treffen. Naturwidriges verbietend, würde er selber naturwidrig handeln.

2. Positive Anhaltspunkte.

§. 51. a) Bei der Strafbarerklärung des Coitus mit einem Thiere ist dem Gesetzgeber offenbar nicht maßgebend gewesen, daß dieser Coitus dem Thiere naturwidrig ist, sondern nur, daß er es dem Menschen ist. Wäre nun beim Verbot der Liebesacte zwischen Mann und Mann neben der subjektiven Naturwidrigkeit auch noch die objective ihm maßgebend gewesen, wie der Einwand behauptet; wäre also noch ein zweites selbstständiges Moment der Strafbarkeit hinzugetreten: so hätte er Liebesacte zwischen Mann und Mann vernünftigerweise höher, etwa doppelt so hoch, für strafbar erklären müssen, als Coitus zwischen Mensch und Thier. Da er beide Acte aber nur mit ein und derselben Strafe bedroht, so folgt per argumentum ex contrario: durch ein Argument, das aus dem Gegenteil abgeleitet ist.

in beiden Fällen war für ihn nur die subjektive Naturwidrigkeit maßgebend.

§. 52. b) Damit stimmt auch die Auslegung der fraglichen deutschen Strafbestimmungen nach ihrem historischen Ursprung überein. Sie alle wurzeln in der Carolina sog. Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (1532).
Art. 116: Straff der Vnkeusch, so wider die Natur beschicht.
Item so ein mensch mit einem Viehe, Man mit Man, Weib mit Weib Unkeusch treibenn, die habenn auch das lebenn Verwurckt. Vnd man solle sy, der gemeynen gewohnheit nach, mit dem feure vom lebenn zum tode richtenn. Zitiert nach B.-U. Hergemöller, »iubemus insurgere leges« – Vom »Senatus consultum de Baccanalibus« bis zum »Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten«, in: Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle (1990) S. 21; vgl. Gisela Bleibtreu-Ehrenberg, Tabu Homosexualität. Geschichte eines Vorurteils (1978) S. 297-306.
, indirect in Röm. I. Erstere aber spricht nur von Acten: a. zwischen Mann und Mann, b. Weib und Weib, c. Mensch und Thier; die Bibelstelle nur von den beiden Acten a. und b. Mit den Acten a. b. c. drückt sich auch noch das österreichische Strafgesetz Österreichisches Strafgesetzbuch von 1852: vgl. Bleibtreu-Ehrenberg S. 310. von 1851 aus. Hienach ist also anzunehmen, die neueren Gesetze wollen ebenfalls nur die drei Acte a. b. c. mit Strafe bedrohen. Ist aber dieses richtig, so kommt mir die Strafbarkeit wegen subjectiver Naturwidrigkeit in Betracht, nicht auch die wegen objectiver: d. i. sobald ein bestimmter Act dem Subject nicht naturwidrig ist, ist er auch nicht strafbar. Denn nach dem Ausgeführten ist der Urning nicht Mann, sondern zwitterartiges Mannweib mit weiblicher Richtung der Geschlechtsliebe. Liebesacte zwischen einem solchen Individuum und einem Manne sind aber nicht mit Strafe bedroht, sondern nur zwischen Mann und Mann. Und zwar dieses sowohl dem Worte nach, als dem Sinne nach. Denn der Gesetzgeber, welcher von Mann und Mann sprach, dachte dabei ohne allen Zweifel auf beiden Seiten nur an einen wirklichen Mann.

§. 53. III. Aus einem höheren Gesichtspunkte endlich ist es sogar überhaupt in Abrede zu stellen, daß es dem jungen Dioning naturwidrig sei, Liebesgenuß uns zu gestatten.

Denn wohl verstanden: der Liebesact zwischen Dioning und Weib, der dem Dioning doch naturgemäß ist, ist ihm keinesweges bloß aus subjectiven Gründen naturgemäß, sondern in gleichem Grade auch aus objectiven. D. i. nicht nur deshalb ist derselbe ihm naturgemäß, weil er in diesem Act einen ihm selber natürlichen Liebesgenuß genießt, sondern in gleichem Grade auch deßhalb, weil er in demselben einen dem anderen Theile, dem Weibe, natürlichen Liebesgenuß gewährt. Dasselbe gilt umgekehrt. D. i. auch dem Weibe ist dieser Liebesact aus dem angegebenen doppelten Grunde naturgemäß.

Ganz ebenso aber ist nun der Liebesgenuß zwischen Urning und Dioning dem Dioning subjectiv zwar unnatürlich, Schon in III. Vindicta (S. 11) wird Ulrichs »dies Gewähren eine Sache ohne Gewicht, ein Adiaphoron« [= weder gut noch schlecht] nennen., weil der Dioning nämlich in demselben einen ihm selber natürlichen Liebesgenuß nicht genießt. Wohl aber ist derselbe objectiv dem Dioning natürlich, weil er nämlich in demselben einen dem Urning natürlichen Liebesgenuß gewährt.

Diese objective Natürlichkeit liegt darin begründet, daß die Natur dem jungen Dioning die wundersame Fähigkeit verliehen hat, dem Weibe wie dem Urning den vollen reinen Liebesgenuß mit magnetischer Durchströmung zu gewähren Dem Weibe, dem Urning und auch dem männerliebenden Zwitter. (Siehe oben §. 13.) Hätte der Einwand recht, so wäre auch dieser Zwitter strafbar für einen Liebesact zwischen ihm und einem jungen Dioning, welcher einwilligt. Selbst der Münster'sche Zwitter, welcher einen Mann förmlich heirathete, wäre strafbar. Denn diesem Manne waren die Liebesacte zwischen ihm und einer Zwitter-Gattin, subjectiv betrachtet, ja doch sicherlich nicht natürlich.. In gewissem Grade analog ist der Fall, wenn junge und kräftige Personen des einen oder anderen Geschlechts mit alten, schwachen oder reconvalescenten Personen in körperlicher Berührung im Bette zubringen und durch die von ihnen ausgehende Lebenskraft die Lebenskraft jener beleben und stärken. Dies hat noch niemand ihnen naturwidrig erklärt. (Uebrigens ist dieses zubringen-im-Bette mit alten etc. Personen den jungen schädlich, die körperliche Berührung mit einem Urning dem Dioning aber nicht, vorausgesetzt, daß der Urning nicht etwa ebenfalls alt, schwach oder reconvalescent ist.) [Vergleiche übrigens noch §. 99. u. 100. der zweiten Schrift. Anhang.]

Diese objective Natürlichkeit fällt also ebenfalls nicht unter das: »Minima non curat praetor«.

Jenes subjective unnatürlich wird nun aber absorbirt durch dieses objective natürlich. Beides ist mithin gegen einander aufgehoben.

§. 54. IV. Nun aber kommt noch hinzu, daß der Wortlaut der betreffenden Gesetze selbst in der That keinesweges das enthält, was der Einwand darin zu finden scheint. Der Wortlaut gewährt durchaus keinen Anhaltspunkt, eine zwiefache Strafbarerklärung darin zu finden, eine aus subjectiven Gründen, wegen subjectiver Naturwidrigkeit, und daneben eine andere aus objectiven Gründen, wegen objectiver Naturwidrigkeit. Nur eine vielmehr ist darin zu finden, welche aber, als das Zunächstliegende, als die aus subjectiven Gründen aufzufassen ist. Die aus objectiven Gründen darin zu befinden, dafür gewährt der Wortlaut des Gesetzes überall keinen Anhaltspunkt.

§. 55. V. Sollte nach allem irgend ein leiser Zweifel noch übrig sein, so gilt der calculus Minervae Minerva = Athene, die u. a. in Athen den Gerichtshof auf dem Areopag einsetzte; hier Anspielung auf ihr Votum zugunsten des Orest. – suffragium: Votum bei der Abstimmung – calculus: Votierstein; der weiße Stein bedeutet Freispruch.. Als im Rath zu Athen zwölf Stimmen ein schwarzes suffragium abgaben, zwölf ein weißes, und der Rath rathlos war: da erschien Pallas Athene und warf einen weißen Stein in die Urne.

§. 56. Die Aufhellung des bisher verbreitet gewesenen naturwissenschaftlichen Irrthums stürzt die bisherige Handhabung der bestehenden Gesetze. Die bisher vollzogenen Bestrafungen läßt sie im Lichte bona fide begangener Justizmorde erscheinen.

Alle Juristen rufe ich auf, ihre Stimme zu erheben, auf daß der Fortsetzung bona fide begangener Justizmorde ein Ziel gesteckt werde.

Geschrieben zu Würzburg und Achim im Sommer und Herbst 1863.

Numa Numantius.

*

Druck von Kohler & Teller in Offenbach a. M.


 << zurück weiter >>