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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Die Freunde des alten Muff. – Muff Potter vor den Assisen. – Muff Potter gerettet.

 

Es kam Leben in die schläfrige Atmosphäre, und ein reges Leben. Die Assisen wurden eröffnet, um über den vorgefallenen Mord zu Gericht zu sitzen. Man sprach von nichts Anderem mehr. Tom konnte dem nicht entgehen. Jede Erwähnung des Mordes goß Schauder durch sein Gebein. Er betrachtete jedes Wort darüber als »einen Fühler«. Zwar konnte er nicht absehen, wie man ihn der Mitwissenschaft zeihen könne, aber diese Gespräche waren ihm höchst unbehaglich, und kalte Schauer überliefen ihn fortwährend. Er suchte Huck auf, und führte ihn in ein Versteck, um ungehört mit ihm plaudern und seine Bürde mit ihm teilen zu können. Dann mußte er auch wissen, ob Huck nicht geschwatzt habe: »Huck, hast du vielleicht irgend jemand etwas von – dem gesagt?«

»Von was?«

»Du weißt wohl, von was!«

»O, natürlich nicht!«

»Kein einziges Wort?«

»Nicht ein Sterbenswörtchen, so wahr ich lebe! Aber warum fragst du?«

»Warum? Weil ich Furcht habe!«

»Nun, Tom Sawyer, du weißt, daß wir keine zwei Tage mehr leben würden, wenn es 'rauskäme. Du weißt das, so gut wie ich!«

Tom fühlte sich beruhigt. Nach einer Pause:

»Gelt, Huck, du würdest dich nicht zwingen lassen, es zu sagen?«

»Mich zwingen lassen? Ja, wenn ich Lust hätte, mich von jenem teuflischen Halbblut ersäufen zu lassen. So aber nicht!«

»So, so! Dann ist alles gut! Ich denke, wir sind sicher, so lange wir schweigen. Laß uns nochmals darauf schwören. Es ist sicherer!«

Somit erneuten sie den Schwur unter schrecklichen Ceremonien.

»Was spricht man über die Geschichte, Huck? Ich habe viel darüber gehört.«

»Man hört nichts, als Muff Potter, Muff Potter und Muff Potter den ganzen, lieben, langen Tag; jedes Wort treibt mir den Angstschweiß aus, so, daß ich mich in ein Mausloch verkriechen möchte!«

»Geradeso geht es mir auch. Der arme Potter wird wohl baumeln müssen. Dauert er dich nicht?«

»Freilich dauert er mich, und wie! Es liegt zwar nicht viel an ihm, aber er hat in seinem Leben niemand wehe gethan. Er fischt ein wenig, um aus dem Erlös sich betrinken zu können, und ist ein Tagedieb, du lieber Gott! Sind wir das nicht alle mehr oder weniger, selbst Prediger und derartige Leute nicht ausgenommen? Aber er ist gutherzig; er hat mir erst noch kürzlich, als ich nicht eben reich war, einen halben Fisch gegeben und mir sonst manchen Gefallen gethan!«

»Jawohl, Huck! Und mir hat er einen Papierdrachen geflickt, und Angeln an meine Leine geknüpft. Wenn wir ihm nur helfen und ihn frei machen könnten!«

»Unmöglich, Tom! Und es würde auch nicht viel nützen. Sie würden ihn doch wieder fangen.«

»Leider wahr! Aber es macht mich wild, ihn so verurteilen zu hören, da er es doch niemals gethan hat!«

»Mich auch, Tom! Herr Gott! Anhören zu müssen, wie sie ihn einen blutdürstigen Wüterich schimpfen, und sich verwundern, daß er nicht schon früher gehängt wurde!«

»Jawohl! Und sie sagen, daß sie ihn, im Falle er freigesprochen werden sollte, lynchen würden!«

»Und das würden sie auch thun, sicher genug!«

Sie plauderten noch, lange, ohne erheblichen Trost zu. finden. Bei Zunachten streiften sie um das kleine, einzelnstehende Gefängnis herum, in der unsicheren Hoffnung, daß ein Zwischenfall sie ihrer Angst entheben möchte. Umsonst. Es ereignete sich gar nichts. Die Rettungsengel, wie die hilfreichen Feen, schienen sich um den unglücklichen Gefangenen nicht sehr zu bekümmern.

Die Jungen thaten, was sie schon oft gethan hatten. Sie näherten sich dem Gitter, und steckten dem armen Potter etwas Tabak und Zündhölzchen zu. Es war zu ebener Erde, und keine Wache da.

Seine Dankesergießungen hatten ihnen bei ähnlichen Gelegenheiten immer wehe gethan. Heute fühlten sie die peinigendsten Gewissensbisse. Ihr ganzes Benehmen erschien ihnen feig und verräterisch, als Potter sagte: »Ihr seid gut gegen mich gewesen, besser als irgend jemand in der Stadt. Ich werde das niemals vergessen. Wie oft habe ich zu mir selbst gesagt: »Ich habe all diesen Jungen ihre Drachen und sonstige Spielzeuge geflickt, habe ihnen die besten Angelplätze gezeigt, und bin bei jeder Gelegenheit freundlich gegen sie gewesen – und nun der alte Muff in der Patsche sitzt, haben sie ihn alle vergessen! Nur Tom nicht, und Huck nicht! Nun, liebe Jungen, ich habe eine schreckliche That vollbracht, betrunken und meiner Sinne nicht mehr mächtig. – Anders kann ich es mir nicht erklären. Dafür muß ich baumeln, und von Rechts wegen. Es geschieht mir Recht, und es ist vielleicht besser so. Ich hoffe es wenigstens. Aber, sprechen wir nicht weiter darüber. Ich möchte euch nicht betrüben, aber das, was ich möchte, ist, euch zu bitten, niemals dem Laster des Trunkes zu fröhnen, und ihr werdet nie dahin kommen, wo ich jetzt bin. Tretet ein wenig zur Seite, daß ich euch besser sehen kann. Es ist mir ein großer Trost, diese lieben Gesichter zu betrachten, die allein zu mir gekommen sind, während alle anderen mich in meinen Nöten vergessen haben. Liebe, liebe Gesichter! Steigt einer auf den Rücken vom andern, daß ich sie berühren kann! – So! Gebt mir die Hände! Steckt sie durch die Gitter, die meinigen sind zu groß. Liebe Hände, kleine und schwache Hände! Aber sie haben Muff Potter Trost gebracht und würden ihm noch größere Hilfe bringen, wenn sie eben nicht zu schwach wären!«

Gebrochenen Herzens und elend ging Tom nach Hause. Fürchterliche Träume quälten ihn die ganze Nacht. Zwei Tage schlich Tom um den Gerichtshof. Ein fast unbesiegbarer Drang zog ihn in den Saal, und nur mit Aufgebot aller Kräfte konnte er ihn bemeistern. Huck litt in gleicher Weise. Sie vermieden sich sorgfältig, aber jeder, so oft er sich auch entfernte, wurde immer wieder auf die Stelle gezogen, wo Potters Schicksal sich entscheiden mußte. Toms Ohr lauschte begierig den Aeußerungen der aus dem Saal Kommenden – sie wurden immer trostloser, und Potters Sache stand schlimm. Gegen Ende des zweiten Tages war allgemein bekannt, daß die Angaben des Indianers Joe, nicht im mindesten angezweifelt, zu Recht bestanden, und was der Wahrspruch der Geschworenen sein würde, war jedem sonnenklar.

Tom blieb an jenem Abend lange aus, und stieg durchs Fenster ins Schlafzimmer. Seine Aufregung hatte den höchsten Grad erreicht. Es vergingen Stunden, bevor er den ersehnten Schlaf finden konnte. Die ganze Einwohnerschaft strömte am nächsten Morgen früh nach dem Gerichtshofe. Es war der Tag der Entscheidung. Beide Geschlechter waren im vollgepfropften Saale gleichmäßig vertreten. Nach längerem Warten trat die Jury in einer Reihe feierlich ein und nahm Platz. Kurz nachher folgte Potter in Ketten, blaß und furchtsam, und setzte sich auf die den Blicken aller ausgesetzte Bank. Jedes Auge stierte nach ihm. Nicht geringere Aufmerksamkeit erregte der Eintritt Joes. Seine Züge verrieten nicht die mindeste Aufregung. Eine kleine Pause folgte. Dann erschien der Oberrichter, und der Sheriff erklärte die Versammlung als eröffnet. Geflüster der Advokaten und Geraschel von Aktenstücken. Die Erwartung der Menge war gespannt.

Ein Zeuge wurde aufgerufen und gab an, in früher Morgenstunde nach der Mordnacht Muff Potter am Bache getroffen zu haben. Er habe sich da gewaschen, und dann weggeschlichen. Der Staatsanwalt richtete einige Fragen an ihn, und wandte sich dann an den Verteidiger:

»Haben Sie Fragen an den Zeugen zu stellen?«

»Keine!« antwortete dieser.

Potter hatte die Augen bei der Anfrage lebhaft aufgeschlagen. Bei der Antwort seines eigenen Verteidigers ließ er sie bestürzt sinken.

Der nächste Zeuge konstatierte den Fund des Messers neben dem Gemordeten.

»Fragen an den Zeugen?«

»Keine!« entgegnete wieder Muffs Beistand.

Ein dritter Zeuge schwor, das Messer oft in Potters Besitz gesehen zu haben.

»Gegenfragen an den Zeugen?«

»Keine!« war wieder die Antwort des Verteidigers.

Das Publikum wurde unruhig. Wie? wollte dieser Advokat das Leben seines Klienten wegwerfen, ohne ihn auch nur durch ein einziges Wort zu retten suchen?

Verschiedene andere Zeugen deponierten über Potters schuldbewußtes Gebahren bei seiner Konfrontation mit dem Leichnam. Auch sie wurden entlassen, ohne daß der Advokat für notwendig befunden hätte, eine Frage an sie zu stellen.

Alle Nebenumstände der Scene auf dem Friedhof, der ja alle angewohnt hatten, wurden durch glaubwürdige Zeugen aufs neue erhärtet.

Potters Anwalt hatte keine Gegenfrage, kein Kreuzverhör.

Unwilliges Murmeln vom ganzen Publikum und Ordnungsruf vom Präsidenten.

Der Staatsanwalt sprach:

»Das abscheuliche Verbrechen ist nun durch den Eid glaubhafter Bürger so über allen Zweifel festgestellt, daß wir uns jeder weiteren Debatte enthalten können.«

Muff Potter stieß einen tiefen Seufzer aus. Er verbarg sein Gesicht in die Hände, und wiegte sich leise hin und her. Ein peinliches Schweigen herrschte im Saal. Viele unter den Männern waren gerührt, und das Erbarmen der Frauen trat durch reichliche Thränen zu Tage.

Der Anwalt des Angeklagten stand auf:

»Meine Herren! Bei Eröffnung dieser Sitzung waren wir gewillt, die Verteidigung unseres Klienten auf das, durch übermäßiges Trinken bei ihm eingetretene Delirium zu stützen. Wir sind von diesem Vorsatze abgekommen, und werden auf andere Weise plädieren.«

Dann zum Gerichtsschreiber:

»Man rufe Tom Sawyer!«

Uebermäßiges Erstaunen auf allen Gesichtern, das Tom Sawyers nicht ausgenommen. Alle Augen waren auf ihn geheftet, als er vortrat und auf der Zeugenbank Platz nahm. Der Junge sah zerstört genug aus. Ihm war sehr bange.

»Tom Sawyer, wo warst du am 17. Juni um Mitternacht?«

Tom warf einen verstohlenen Blick auf Indianer Joes eiserne Züge, und die Zunge versagte ihm den Dienst. Das Auditorium hielt den Atem an sich, aber die Worte wollten nicht kommen. Nach einigen Minuten hatte er jedoch wieder soviel Fassung erlangt, um verständlich sagen zu können:

»Auf dem Friedhofe!«

»Ein wenig lauter, wenn ich bitten darf! Sei nicht ängstlich! Du warst also ...«

»Auf dem Friedhofe!«

Ein verächtliches Lächeln zuckte durch Indianer Joes Züge.

»Warst du vielleicht in der Nähe von Roß Williams Grabe?«

»Ja, Herr!«

»Antworte frisch und ein wenig lauter! Wie nahe warst du am Grabe?«

»So nahe, als an Ihnen!«

»Warst du versteckt, oder nicht?«

»Versteckt!«

»Wo?«

»Hinter den hart am Grabe stehenden Ulmen!«

Der Indianer Joe schrak unmerklich zusammen.

»War jemand bei dir?«

»Ja, es war ...«

»Halt! Warte einen Augenblick! Es ist unnötig, den Namen deines Kameraden zu nennen. Er wird zu geeigneter Zeit gerufen werden!«

Tom schwieg bestürzt.

»Sprich frei, und sei nicht mißtrauisch! Die Wahrheit ist immer das Beste! Was hattest du dort?«

»Nur eine – tote – Katze!«

Heiterkeit des Publikums. Ordnungsruf des Präsidenten.

Das Skelett dieser Katze soll als Beweismittel beigebracht werden. Nun frisch, mein Junge, erzähle uns alles, was vorgefallen ist! Thue es in deiner eignen Weise, vergiß nichts, und fürchte dich nicht!«

Tom begann. Zuerst zögernd; als aber die lebhafteste Erinnerung des in jener Nacht Erlebten über ihn kam, flossen seine Worte immer leichter. Jeder Laut war verstummt. Nur seine Stimme erscholl durch das Haus. Mit offenem Munde und verhaltenem Atem lauschte die ganze Versammlung seinen Worten, und vernahm, Ort und Zeit vergessend, die schauerliche Mähr. Die Erregung war aufs höchste gestiegen als Tom fortfuhr:

»... Und als der Doktor mit dem Brett ausholte, und Muff Potter fiel, that der Indianer Joe einen Satz mit dem Messer und ...«

Krach! Mit Blitzesschnelle hatte sich das Halbblut einen Weg durch die Menge gebahnt, und war durch das zertrümmerte Fenster verschwunden.


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