Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Selbstprüfung. – Zahnkunde. – Der mitternächtige Zauber. – Hexen und Teufel. – Vorsichtiges Nähern. – Glückselige Stunden.

 

Montag-Morgen kam und mit ihm Toms Elend. Tom fühlte sich an jedem Montag-Morgen elend, denn mit ihm begann ein wochenlanges Leiden in der Schule. Regelmäßig wünschte er, daß es keinen Sonntag gebe, denn nach fröhlich durchlebtem Feiertag wieder in Bande und Fesseln zurückkehren, erschien ihm doppelt hart.

Sinnend lag er im Bette. Wenn er nur krank wäre, dann müßte er nicht zur Schule. Er sah eine Möglichkeit und entwarf seinen Plan. Wiederholte Untersuchungen seiner Körperbeschaffenheit blieben ohne passendes Resultat. Nur glaubte er Symptome von Kolik geltend machen zu können und strengte sich an, sie zu vergrößern; bald aber verminderten sie sich und verschwanden endlich ganz. – Also etwas anderes. Er entdeckte es. Einer seiner oberen Schneidezähne wackelte. Das war ein Glück, und er war eben im Begriff, als »Fühler« einen Seufzer auszustoßen, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß, wenn er mit diesem Argument vor seine Tante käme, sie ihm den Zahn einfach ausziehen würde, und das schmerzt. Somit hielt er den Zahn in Reserve und suchte weiter. Da erinnerte er sich, von einem Uebel gehört zu haben, das einen zwei bis drei Wochen ans Bett fesseln und den Verlust eines Fingers herbeiführen könne. Eifrig zog er seine kranke Zehe unter dem Bettuch hervor, und untersuchte sie. Aber die gefahrdrohenden Symptome waren ihm unbekannt. Doch meinte er, einen Versuch wagen zu können, und fing auf gut Glück zu ächzen an.

Sid schlief ruhig fort.

Tom ächzte stärker und begann sich einzubilden, daß ihm die Zehe wirklich weh thue.

Sid blieb still.

Die seitherigen Anstrengungen hatten Tom den Atem benommen. Er gönnte sich einen Augenblick Ruhe, blies sich auf und stieß eine Reihe schallender Seufzer aus.

Sid schnarchte weiter.

Tom ward ärgerlich, rüttelte ihn und rief: »Sid! Sid!« Das wirkte, Sid gähnte, streckte sich, stützte sich auf die Ellbogen und begann Tom anzustieren. Tom ächzte weiter. Sid rief: »Tom, was ist's, Tom?« (Keine Antwort.) »Höre doch, Tom, was fehlt dir?« Und er schüttelte ihn und sah ihn angstvoll an. Tom winselte: »O laß mich, Sid! Stoße mich nicht!«

»Wie, was ist's denn mit dir? Ich muß Tantchen rufen.«

»Nein, kümmere dich nicht. Vielleicht geht es bald vorüber. Rufe niemand!«

»Aber ich muß! O, höre auf, so zu wimmern, Tom, es ist ja schrecklich! Seit wie lange leidest du so?«

»Stundenlang! Uff!! O, sei nicht so unruhig, du wirst mich töten!«

»Tom, warum hast du mich nicht früher geweckt? Du machst mich schaudern! Was ist es denn mit dir?«

»Ich verzeihe dir alles, Sid. (Geächze.) Alles was du mir je zuleide gethan. – Wenn ich tot bin –«

»Du wirst doch nicht sterben, Tom? O, thue es nicht, thue es nicht! Vielleicht –«

»Ich verzeihe allen, Sid. (Geächze.) Sage es ihnen. Und gieb mein Schiebfenster und meine einäugige Katze dem jüngst angekommenen Mädchen und sage ihr –«

Aber Sid hatte seine Kleider zusammengerafft und war fort. Tom hatte sich seither in seine eingebildete Krankheit so hineingeschafft, daß er nun wirklich litt, und seine Schmerzenslaute wie echt klangen.

Sid flog die Treppe hinab und rief: »Tom stirbt!«

»Er stirbt?«

»Ja, Tante! Komm' schnell!« .

»Dummheit! Ich glaube es nicht!«

Dessen ungeachtet flog sie die Treppe hinauf, Mary hinter ihr her. Ihr Gesicht war blaß und ihre Lippen bebten. Am Bette angekommen, rief sie: »Tom, Tom! Kind, was ist mit dir?«

»O, Tantchen, ich bin –«

»Wo fehlt es dir, was fehlt dir?«

»O, Tantchen! meine kranke Zehe thut mir so weh!«

Die alte Lady sank in einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, und mischte endlich beides zusammen.

»Tom, Tom, wie hast du mich erschreckt! Höre nun mit deinem Unsinn auf und komme herunter!«

Das Geächze verstummte und die Schmerzen an der Zehe verschwanden. Der Junge war konfus und sagte: »Tante Polly, es that so weh, daß ich selbst meinen Zahnschmerz darüber vergaß!«

»Was, Zahnschmerzen! Was ist's mit den Zähnen?«

»Es wackelt einer, und schmerzt mich fürchterlich!«

»Ja so! Nun, fange nur nicht wieder zu ächzen an. Oeffne den Mund! Nun ja, es wackelt einer, aber deswegen mußt du nicht sterben. Mary, hole mir einen Seidenfaden und ein glühendes Scheit aus der Küche!«

Tom rief: »O, Tante, reiße ihn mir nicht aus! Er schmerzt mich gar nicht mehr. Ich will nimmer von der Stelle kommen, wenn er mir nur im geringsten noch wehe thut. Bitte, Tante, thue es nicht! Ich will lieber in die Schule gehen!«

»Aha! so waren alle diese Umstände darum, damit du dich von der Schule frei machen und fischen gehen könntest? Tom, Tom, du weißt, wie sehr ich dich liebe, und doch versuchst du alles mögliche, mein altes Herz zu brechen.«

Inzwischen waren die Zahninstrumente beigeschafft. Die alte Dame machte eine Schlinge an das eine Ende des Seidenfadens und legte sie um Toms Zahn. Das andere Ende wurde am Bettpfosten befestigt. Dann faßte sie unversehens den Feuerbrand, und fuhr dem Jungen damit hart ans Gesicht. Der Zahn hing am Bettpfosten.

Keine Prüfung ohne Lohn. – Als Tom nach dem Frühstück zur Schule ging, erregte er den Neid aller Jungen, denen er begegnete. Die Lücke in seiner oberen Zahnreihe befähigte ihn, auf eine ganz neue, merkwürdige Weise auszuspucken. Er hatte bald einen Kreis von Jungen um sich versammelt, die seine Leistungen bewunderten. Einer derselben, der sich in den Finger geschnitten, und seither die Aufmerksamkeit und Verehrung der übrigen ausschließlich auf sich gezogen hatte, sah sich auf einmal ohne Anhänger, seiner Glorie beraubt. Sein Herz war schwer, und mit anscheinender Geringschätzung, die zu fühlen er weit entfernt war, meinte er, es sei gar nichts so Absonderliches, zu spucken, wie Tom Sawyer. Ein anderer Knabe aber sagte: »Die Trauben sind sauer!« und der gefallene Held ging betrübt davon.

Kurz nachher stieß Tom auf den Paria des Dorfes, Huckleberry Finn, Sohn des Stadttrunkenbolds. Huckleberry war allen Müttern in der Stadt verhaßt, weil er ein meisterloser, gemeiner, böser Bube war, und weil alle ihre Kinder ihn bewunderten, seine verbotene Gesellschaft eifrig suchten, und wünschten, so sein zu dürfen, wie er. Tom teilte die Gesinnung der andern ordentlichen Knaben; auch er beneidete Huckleberry um seine fröhliche Banditenexistenz; auch ihm war strenge verboten, mit ihm zu spielen. Natürlich spielte er mit ihm, so oft der Zufall sie zusammenführte. Huckleberrys Anzug bestand immer in abgetragenen Kleidern von Erwachsenen, an denen ein Fetzen dem andern guten Tag sagte. Sein Hut war eine große Ruine, mit einem weiten halbmondförmigen Ausriß in der Krempe; seine Hosen hingen an einem einzigen Hosenträger, der Sitz tief herab und nichts darin; die Stöße waren reichlich mit Fransen versehen und schleppten im Koth, wenn sie nicht aufgestülpt waren. Huckleberry kam und ging, wie es ihm eben gefiel. Bei schönem Wetter schlief er auf Theetrappen und bei schlechtem in leeren Fässern. Er war nicht gezwungen zur Schule zu gehen; niemand hatte ihm zu befehlen und er niemand zu gehorchen. Er konnte fischen gehen, wo, so lang und so oft es ihm beliebte; niemand wehrte ihm, sich mit andern zu prügeln; abends konnte er aufbleiben, so lange es ihm gefiel. Im Frühling war er immer der erste, der barfuß ging, und im Herbst immer der letzte in Schuhen; er mußte sich nie waschen, oder für reinliche Kleider besorgt sein, und konnte wunderschön fluchen. Mit einem Worte, dieser Junge hatte alles, was nur die Lust zum Leben wecken kann. So wenigstens dachten alle die gequälten Jungen von achtbaren Eltern in Petersburg.

Tom rief den romantischen Vagabunden an: »Hallo, Huckleberry!«

»Selbst hallo! Du –«

»Was hast du da?«

»'ne tote Katze!«

»Laß sehen, Huck! Sieh', sie ist ganz steif. Woher hast du sie?«

»'nen Jungen abgekauft!«

»Um was?«

»Um ein blaues Kärtchen und eine Blase, die ich im Schlachthaus bekam.«

»Woher hattest du das blaue Kärtchen?«

»Hab' es vor 14 Tagen von Ben Rogers für einen Reifstock gekauft.«

»Sag' einmal, Huck, wozu kann man denn tote Katzen gebrauchen?«

»Wozu? Warzen zu vertreiben!«

»So, meinst du? Da weiß ich etwas Bessers.«

»Ich wette, du weißt nichts. Was ist's?«

»Was soll es sein? Schwammwasser.«

»Schwammwasser! Pfeif d'rauf, auf dein Schwammwasser!«

»D'rauf pfeifen! Hast du es schon versucht?«

»Ich nicht, aber Bob Tanner hat's!«

»Wer hat dir's gesagt?«

»Er sagte es Jeff Thatcher und Jeff sagte es Johany Baker und Johany sagte es Jim Holfs und Jim sagte es Ben Rogers und Ben sagte es einem Nigger und der Nigger sagte es mir. So, da hast du's!«

»So, und nun! Alles erlogen! Sie lügen alle, bis auf den Nigger. Diesen kenne ich nicht – aber ich habe noch nie einen Nigger gesehen, der kein Lügner wäre – zum Henker! Sag' mir aber. Huck, wie Bob Tanner es machte.«

»Nun, er steckte die Hand in einen faulen, hohlen, mit Regenwasser gefüllten Baumstumpf.«

»Bei Tage?«

»Gewiß!«

»Das Gesicht dem Baumstumpf zugekehrt?«

»Ja. Ich vermute es wenigstens.«

» Sagte er etwas dazu?«

»Weiß nicht, aber ich glaube nicht.«

»Aha! sage mir vom Warzenvertreiben mit Schwammwasser auf solch' verrückte Weise! Das kann nie gut thun. Man muß allein mitten im Wald einen Schwammwasserstumpf aufsuchen; genau um Mitternacht sich demselben rücklings nähern, die Hand hineinstecken und sagen:

»Gerstenkorn, Gerstenkorn, das Maismehl geht zu Ende!
Schwammwasser, Schwammwasser, säub're mir die Hände!«

sich dann schnell mit geschlossenen Augen elf Schritte weit entfernen, sich dreimal umdrehen und ohne jemand anzusprechen, heimkehren. Denn wenn du sprichst, ist der Zauber gebrochen.«

»Schön, schön, das sieht etwas gleich. Aber Bob Tanner hat es nicht so gemacht!«

»Das glaube ich und du darfst darauf wetten, denn er ist heute noch der warzigste Junge in der Stadt, und wenn er nur im geringsten mit Schwammwasser umzugehen wüßte, so hätte er keine einzige mehr. Ich habe, lieber Huck, deren Tausende auf diese Art von meinen eignen Händen vertrieben. Ich gehe so viel mit Fröschen um, daß ich mit Warzen immer reich gesegnet bin. Manchmal vertreibe ich sie auch mit einer Bohne.«

»Mit einer Bohne? Ja, das ist der rechte Weg. Ich habe es selbst probiert.«

»Hast du? Nach welcher Methode?«

»Du nimmst eine Bohne und spaltest sie. Dann schneidest du die Warze bis Blut kommt. Mit diesem bestreichst du eine Hälfte der Bohne bei Neumond auf einem Kreuzwege, machst ein Loch und begräbst sie. Dann verbrennst du die andere Hälfte. – Siehst du nun, die mit Blut getränkte Hälfte zieht, um die andere wieder mit sich zu vereinigen, und zieht so lange, bis die Warze heraus ist, was gewöhnlich ganz glatt zu stände kommt.«

»Richtig, Huck, so ist es! Aber sicherer ist es noch, wenn man dazu sagt:

»Hinunter Bohne! Warze fort!
Frei von dir bin ich hinfort!«

So macht es Joë Harper, und er ist schon nahe bei Cronville und fast überall gewesen. – Aber sage mir, wie vertreibst du Warzen mit einer toten Katze?«

»Nun siehst du, du trägst die Katze auf einen Friedhof, um Mitternacht, zum frischen Grabe eines Bösewichts. Um Mitternacht wird ein Teufel erscheinen, vielleicht werden es auch zwei oder drei sein. Man kann sie nicht sehen; höchstens hört man etwas wie Windesrauschen; vielleicht hört man sie auch mit einander schwatzen. Wenn diese Kerle den Bösewicht dann wegführen, wirfst du ihnen die Katze nach und sagst: ›Teufel, folge dem Toten! Katze, folge dem Teufel! Warze, folge der Katze, mit dir bin ich fertig!‹ Das vertreibt jede Warze!«

»Das klingt gut! Hast du es jemals versucht, Huck?«

»Nein, aber die alte Mutter Hopkins sagte es mir.«

»Dann muß es wohl wahr sein. Man sagt, sie sei eine Hexe.«

»Man sagt! Wie, Tom! Sie ist eine und ich weiß es! Sie verhexte Papa. Er sagte es. Er begegnete ihr eines Tages und sah, daß sie im Begriff war, ihn zu verhexen. Er raffte einen Stein auf und hätte sie sicher damit getroffen, wenn sie ihm nicht plötzlich aus dem Wege gegangen wäre. Gut, in derselben Nacht fiel er von einem Schuppen, auf dem er betrunken lag, und brach den Arm.«

»Das ist schrecklich! Aber wie konnte er wissen, daß sie ihn behexen wollte?«

»Das kann dir Vater ganz genau sagen. Er meint, wenn sie einen recht starr ansehe, so ist man sicher, verhext zu werden, und ganz besonders, wenn sie dazu murmele. Denn wenn sie murmele, bete sie das Vaterunser rückwärts!«

»Sage, Huck, wenn willst du es mit der Katze probieren?«

»Heute Nacht! Ich rechne, die Teufel werden heute den alten Roß Williams holen.«

»Aber er wurde am Sonnabend begraben. Holten sie ihn denn Samstags Nacht nicht?«

»Wie du nur sprichst! Ihre Macht reicht nicht bis Mitternacht und dann beginnt der Sonntag und ich glaube, daß sie an Sonntagen sich geziemend ruhig verhalten!«

»Richtig! Daran hatte ich nicht gedacht. Darf ich mitgehen?«

»Natürlich! Wenn du dich nicht fürchtest.«

»Mich fürchten? Unmöglich! Willst du miauen?«

»Ja, und dann miaue aber auch, wenn du kommen kannst! Das letzte Mal miaute ich so lange um euer Haus herum, bis der alte Hays Steine nach mir warf und die verdammte Katze zu allen Teufeln wünschte. Als Antwort warf ich ihm einen Ziegelstein durchs Fenster, aber sage es nicht!«

»Nein. Jene Nacht beobachtete Tante mich so scharf, daß ich nicht miauen durfte. Aber diesmal soll es sicher geschehen! Was hast du da?«

»Nichts als eine Zecke.« (Schaflaus.)

»Woher?«

»Vom Wald.«

»Was willst du dafür?«

»Ich weiß nicht. Sie ist mir nicht feil.«

»Wie du willst. Immerhin ist es nur eine winzige Zecke.«

»O, jedermann kann etwas bemängeln, was ihm nicht gehört. Mir gefällt sie; sie ist für mich gut genug!«

»Bah! Es giebt Zecken zum Auflesen. Ich könnte Tausende haben, wenn ich wollte.«

»Warum hast du denn keine? Du weißt ganz gut, daß du keine kriegen kannst! Das ist eine prachtvolle, frühzeitige Zecke, die erste, die ich in diesem Jahre gesehen!«

»Höre, Huck, willst du meinen Zahn dafür?«

»Laß sehen!«

Tom zog ein Papierchen aus der Tasche und entfaltete es. Huckleberry betrachtete den Zahn aufmerksam. Die Versuchung war groß. Endlich sagte er: »Ist er echt?«

Tom zog die Lippe zurück und zeigte die Lücke.

»Abgemacht, es gilt!«

Tom sperrte die Zecke in das vormalige Gefängnis des Kneipkäfers, in die Zündhütchenschachtel, und die Jungen trennten sich, jeder mit dem Gefühle, einen guten Schick gemacht zu haben.

Bei dem kleinen Schulhause angekommen, trat Tom lebhaft ins Zimmer, wie wenn er es sehr eilig gehabt hätte. Er hing seinen Hut an einen Nagel und nahm mit anscheinender Lernbegierde Platz. Der Lehrer war, von dem eintönigen Summen überwältigt, in seinem hölzernen Armsessel eingeschlafen, und erwachte, durch Toms Eintritt im Schlummer gestört.

»Thomas Sawyer!«

Tom wußte aus Erfahrung, daß, wenn er bei seinem vollen Namen gerufen wurde, etwas nicht in Ordnung war.

»Herr Lehrer!«

»Komm' hierher! Warum bist du, wie gewöhnlich, wieder zu spät?«

Tom war im Begriff, seine Zuflucht zum Lügen zu nehmen, als er zwei gelbe Zöpfe über einen Rücken herabhängen sah, den er, wie durch elektrische Liebessympathie, sogleich erkannte, und neben dieser Gestalt war der einzige leere Platz auf der Mädchenseite. Augenblicklich antwortete er: »Ich habe mich verspätet, weil ich mit Huckleberry Finn zu reden hatte.«

Des Lehrers Pulse stockten, er schien nach Luft zu schnappen. Das Gesumme der Schüler schwieg. Die Kinder wunderten sich, ob der tollkühne Junge den Verstand verloren habe. Der Lehrer rief: »Was, was hast du gethan?«

»Ich verweilte, um mich mit Huckleberry Finn zu unterhalten!«

Das war klar und keine Mißdeutung möglich.

»Thomas Sawyer, das ist das überraschendste Geständnis, das mir jemals vorgekommen. Da reicht die Rute auf die Hände nicht aus, um einen derartigen Fehltritt zu sühnen. Ziehe die Jacke aus!

Der Lehrer bearbeitete ihn so lange, bis seine Kräfte und der Rutenvorrat erschöpft waren.

»So, jetzt packe dich auf die Mädchenbank! Und laß dir diese Strafe zur Warnung dienen!«

Das Gekicher, das sich im Zimmer ringsum vernehmen ließ, schien den Jungen zu verblüffen. Aber das war's nicht. Es war das überwältigende, nie geahnte Glück, neben der unbekannten Angebeteten sitzen zu dürfen. Er nahm Platz. Das Mädchen rückte hastig, den Kopf zurückgeworfen, von ihm weg. Seitenstöße, Geflüster und Winke gingen durch die Schule. Tom saß, die Arme auf dem Pulte, ruhig und schien seine ganze Aufmerksamkeit dem vor ihm liegenden Buche zuzuwenden.

Nach und nach wandte sich die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler von ihm ab, und das gewohnte Schulgesumme ließ sich wieder vernehmen. Der Junge sandte verstohlene Blicke nach dem Mädchen. Sie merkte es, schnitt ihm eine Fratze und kehrte ihm eine Minute lang den Rücken. Als sie sich langsam wieder umwandte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn zur Seite. Tom schob ihn sanft wieder zurück. Sie ließ ihn liegen. Tom kritzte auf seine Schiefertafel: »Sei so gut und nimm! Ich habe noch mehr!« Das Mädchen überlas die Worte und blieb stumm.

Gelegentlich fing Tom, die Tafel mit der linken Hand schirmend, etwas zu zeichnen an. Eine Zeitlang schien das Mädchen gleichgültig, nach und nach aber verrieten verschiedene Bewegungen ihre natürliche Neugierde. Tom zeichnete fort, scheinbar ohne sie zu beachten. Sie suchte über seine Hand weg zu schielen, – ohne Erfolg. Zuletzt flüsterte sie: »Laß mich sehen!«

Tom zeigte eine ungeheuerliche Karrikatur eines Hauses mit zwei Giebeln und Korkziehern, die den Rauch aus den Schornsteinen vorstellen sollten. Die Aufmerksamkeit des Mädchens war gefesselt und sie vergaß alles andere.

Als die Zeichnung fertig war, flüsterte sie: »Das ist hübsch, mache einen Mann!«

Der Künstler zeichnete einen Mann, der einem Hafenkrahn glich, und leicht über das Haus hätte wegschreiten können. Die Anforderungen des Mädchens waren nicht überspannt, und sie wisperte: »Der Mann ist schön. Nun male mich, wie ich vorbeigehe!«

Tom zeichnete eine Sanduhr, einen Vollmond, Strohhalme, die Arme und Beine vorstellen sollten, und bewaffnete die ausgespreizten Finger mit einem wuchtigen Fächer.

Das Mädchen sagte: »Ach, wie schön! Wenn ich nur zeichnen könnte!«

»Es ist nicht schwer,« flüsterte Tom. »Ich will es dir zeigen!«

»Willst du? Wann?«

»Nachmittag. Gehst du zum Essen heim?«

»Ich bleibe da, wenn du willst.«

»Sehr gut! Wie heißt du?«

»Becky Thatcher. Und du? O, ich weiß, – Thomas Sawyer!«

»So heiße ich, wenn ich Prügel bekomme. Wenn ich brav bin, heiße ich »Tom«. Nenne mich Tom, Gelt?«

»Ja!«

Tom kritzelte verstohlen etwas auf die Tafel. Sie wollte sehen.

Tom sagte: »O, es ist nichts!«

»Doch, doch!«

»Nein! Du brauchst es nicht zu sehen.«

»Jawohl. Ich muß es sehen. Bitte!«

»Du wirst es weiter sagen!«

»Nein, ich werde nicht!

»Schloß auf- und zugeschlagen,
Niemand werd' ich's jemals sagen!«

So lange ich lebe! So, jetzt laß mich sehen!«

»Aber gerade du sollst es nicht sehen!«

»Und zum Trotz will ich!« Sie versuchte mit ihren kleinen Fingern Toms Hand wegzuschieben; Tom widerstrebte, ließ aber bald nach. Die Worte wurden sichtbar: »Ich liebe dich!«

»O, du Böser!« Sie gab ihm einen leichten Schlag auf die Hand, wurde rot, sah aber ganz vergnügt darein.

Im gleichen Moment fühlte sich Tom durch einen festen, steten Griff an den Ohren emporgezogen und auf seinen früheren Platz zurückversetzt. Der Lehrer fixierte ihn eine Weile mit finsterem Auge, und kehrte, ohne ein Wort zu sagen, auf seinen Thron zurück. Toms Ohren schmerzten ihn, aber sein Herz jubelte. Im Verlauf des Unterrichts strengte er sich ernstlich an, aufmerksam zu sein, aber es gelang ihm nicht. Seine innere Aufregung war zu groß. Beim Lesen stotterte er fortwährend; in der Geographieklasse verwandelte er Seen in Berge, Berge in Flüsse, Flüsse in Kontinente, bis er ein vollständiges Chaos hergestellt hatte. In der Buchstabierklasse endlich ließ er nur kindische Laute vernehmen, mußte sich auf den untersten Platz setzen und verlor seine zinnerne Medaille, die er bisher mit so großem Selbstgefühl getragen hatte.


 << zurück weiter >>