Iwan Turgénjew
Aus der Jugendzeit
Iwan Turgénjew

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Der Verzweifelte.

I.

Wir saßen unserer acht im Zimmer; das Gespräch drehte sich um die jüngsten Tagesereignisse und um die Menschen, die mit ihnen verbunden waren.

»Ich verstehe diese Leute und ihren Charakter gar nicht mehr,« sagte Einer der Anwesenden; »sie handeln so wild, so unberechenbar – sie benehmen sich gerade wie Verzweifelte. Ich glaube, so lange die Welt steht, ist etwas Aehnliches nicht erhört gewesen.«

»O, es ist doch schon dagewesen,« warf P. ein, ein alter Mann, dessen Haare schon silbergrau glänzten – er war in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts geboren. »Es gab auch in früheren Zeiten verzweiflungsvolle Menschen, nur glichen sie denjenigen nicht, welche wir heute als Verzweifelte ansehen. Gelegentlich eines Gespräches über den Dichter Jasykow bemerkte einmal Jemand, daß seine Begeisterung eine ganz eigenthümliche war – sie hatte nämlich nichts Bestimmtes zum Objekt; gerade so könnte man auch von den Leuten, welche ich bei meiner Bemerkung im Sinne habe, sagen, daß ihre Verzweiflung eine gegenstandslose gewesen sei. Wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen die Geschichte meines Großneffen Mischa Poltew erzählen. Sie mag Ihnen als Probe dafür dienen, welcher Art die damaligen Verzweifelten waren.

Er kam, wenn ich mich recht erinnere, im Jahre 1828 zur Welt, und zwar wurde er auf dem Erbgute seines Vaters geboren im fernsten Winkel eines von jedem Verkehr abgelegenen Steppen-Gouvemements. An Mischa's Vater, Andrej Nikolajewitsch Poltew, kann ich mich noch recht gut erinnern – er war ein richtiger Steppenjunker, ein Gutsbesitzer vom alten Schlage, brav und fromm, ziemlich unterrichtet – wenigstens im Verhältniß für die damalige Zeit – im Großen und Ganzen aber, um es gerade heraus zu sagen, waren seine Geistesgaben nicht eben die bedeutendsten. Nebenbei bemerkt, er litt etwas an Epilepsie. Es ist ja eine alte Geschichte, daß in vielen unserer Adelsgeschlechter diese Krankheit erblich ist – man kann auch von ihr sagen, daß sie von altem Schlage sei. Die Anfälle, denen Andrej Nikolajewitsch unterworfen war, waren übrigens nicht heftiger Art; sie endeten gewöhnlich mit furchtbarer Abspannung, der ein tiefer Schlaf folgte. Andrej's Wesen war liebenswürdig und freundlich; man konnte ihm auch eine gewisse Würde nicht absprechen. So, wie ich ihn kannte, habe ich mir immer den Czar Michael FeodorowitschMichael Feodorowitsch Romanow begründete im Jahre 1613 die jetzt in Rußland herrschende Dynastie. vorgestellt.

Andrej Nikolajewitsch's ganzes Dasein wurde ausgefüllt durch die strenge Beobachtung und Innehaltung aller von Alters her bestehenden Sitten und Gebräuche, den Sitten und Gebräuchen des strenggläubigen »alten heiligen Rußlands«. Wenn er aufstand und sich niederlegte, wenn er speiste und trank, ins Bad ging, sich belustigte oder sich ärgerte (das Eine geschah übrigens so selten wie das Andere), wenn er die Pfeife rauchte und Karten spielte (zwei große Neuerungen!), so handelte er nicht etwa nach persönlicher Laune oder nach eigenem Gutdünken, sondern nur mit geziemender Strenge so, wie seine Vorfahren zu handeln vorgeschrieben hatten.

Er war von hoher Figur und ziemlich wohlbeleibt, hatte eine sanft und etwas heiser klingende Stimme, wie man sie bei fast allen frommen Russen hört. In Wäsche und Kleidung war er peinlichst auf Sauberkeit bedacht; er trug gewöhnlich eine weiße Halsbinde, einen tabacksfarbigen Ueberrock mit langen Schößen. Aber seine adlige Abstammung kam doch, trotz dieser unscheinbaren Hülle, bei ihm immer zum Vorschein; Niemand würde ihn für einen Priestersohn oder für einen Kaufmann gehalten haben. Immer, aber wirklich in allen Lebenslagen und unter allen nur erdenklichen Umständen wußte Andrej Nikolajewitsch aufs Genaueste, was er zu thun hatte, wie er sprechen mußte und in welcher Weise er sich am besten ausdrücken sollte; bei Unfällen konnte er Medizinen und sonstige Heilmittel verschreiben und ihre Anwendung näher bestimmen; er verstand sich auf die Deutung von äußeren Anzeichen, er wußte, welche Glück oder Unglück im Gefolge haben und welchen keine Aufmerksamkeit weiter zu schenken ist – mit einem Worte: er wußte, was in jedem einzelnen Fall zu thun war. ›Unsere Altvordern‹, pflegte er zu sagen, »haben schon Alles vorausgesehen und bestimmt und wir haben nur nöthig, uns an sie als an unsere Führer zu halten. Die Hauptsache allerdings ist, daß wir stets auf Gott vertrauen und daß wir nichts ohne festen Glauben an seine Hülfe unternehmen.«

Dir Wahrheit zu sagen: in seinem Hause herrschte eine gradezu tödtliche Langeweile; in diesen niedrigen Zimmern, in denen es so schwül und dunkel war, herrschte immer ein Geruch nach Weihrauch und Fastenspeisen und aus allen Winkeln schienen die Litaneien und die Gesänge der Abendandachten widerzuhallen.

Er verheirathete sich, als er schon ziemlich bei Jahren war, mit einem armen, aus der Nachbarschaft stammenden Fräulein, das in einem Institute erzogen war; es war eine kränkliche und nervöse Person. Sie spielte ziemlich gut Klavier und sprach französisch mit jenem Accent, der in den Instituten den Schülerinnen gewöhnlich anerzogen wird. Im Uebrigen war sie ein Wenig exaltirt und gab sich gern einem unbegründeten Trübsinn hin, in welcher Stimmung sie leicht bittere Thränen vergoß. Kurz, ihr Charakter hatte etwas Unstätes, Ruheloses. Da sie ihr Leben für verfehlt hielt, konnte sie auch ihren Gatten nicht lieben, der ihr natürlicher Weise »kein Verständniß entgegenbrachte«; aber sie achtete ihn und ertrug ihn, wie er nun einmal war. Da sie sehr ehrenhaft war und ein überaus kühles Temperament hatte, richteten sich ihre Gedanken auch nicht etwa auf einen andern »Gegenstand«. Dazu kam auch noch, daß sie den Kopf beständig voll von Sorgen hatte, zunächst über ihre eigene, wirklich sehr schwache Gesundheit; zweitens über die ihres Gatten, dessen Anfälle ihr immer etwas wie abergläubische Furcht einflößten. Schließlich war sie auch um ihren einzigen Sohn Mischa sehr besorgt, den sie mit großem Eifer selbst erzog. Andrej Nikolajewitsch legte seiner Gattin kein Hinderniß in den Weg, sich mit Mischa nach Gutdünken zu beschäftigen – nur eine Bedingung hatte er gestellt: Unter keinen Umständen sollten jene Grenzen überschritten werden, die nun einmal von Alters her bestimmt waren, und innerhalb welcher sich Alles in seinem Hause zu bewegen hatte.

Um ein Beispiel anzuführen: In der Weihnachtswoche und am Neujahrstage war es Mischa erlaubt, mit den andern Kindern im Orte sich zu verkleiden und allerhand Scherz zu treiben; ja es war ihm dies nicht nur erlaubt, sondern es wurde ihm geradezu zur Pflicht gemacht. Wenn er sich dasselbe aber auch zu einer andern Zeit hätte einfallen lassen, so wäre es ihm sicherlich schlimm ergangen.


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