Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII.

Vier Jahre waren verflossen. Ich hatte soeben die Universität verlassen, und wußte eigentlich noch nicht recht, was ich mit mir vornehmen, an welche Tür ich klopfen sollte; einstweilen trieb ich mich müßig umher. An einem schönen Abende traf ich im Theater Maidanow. Er hatte inzwischen geheiratet und war in den Staatsdienst getreten: ich fand ihn ganz unverändert. Er war noch immer, wie ehemals, Anfällen unzeitigen Entzückens, wie auch plötzlicher Mutlosigkeit unterworfen.

– Sie wissen doch, sagte er mir unter anderem, daß Frau von Dolsky hier ist?

– Wer ist Frau von Dolsky?

– Haben Sie sie denn vergessen! die frühere junge Fürstin Sassekin, in welche wir alle, und auch Sie, verliebt waren. Erinnern Sie sich doch, es war auf dem Landhause, dem Neskuschni gegenüber.

– Sie hat einen Herrn von Dolsky geheiratet?

– Nun ja.

– Und sie ist hier im Theater?

– Nein, aber in Petersburg. Sie ist vor Kurzem hier angekommen und im Begriff, eine Reise ins Ausland anzutreten.

– Was für ein Mensch ist ihr Mann? fragte ich.

– Ein braver Kerl, mit Vermögen. Er war in Moskau mein Amtsgenosse. Sie begreifen, – nach jener Geschichte, ... nun, die muß Ihnen ja recht gut bekannt sein, ... (Maidanow lächelte bedeutungsvoll) war es für sie nicht leicht eine Partie zu machen; die Sache hatte nämlich Folgen gehabt, ... doch mit ihrem Verstande war alles möglich. Besuchen Sie sie: es wird sie sehr freuen, Sie zu sehen. Sie ist noch schöner geworden.

Maidanow gab mir Sinaïdes Adresse. Sie war im Hotel Demut abgestiegen. Alte Erinnerungen wurden in mir wach, ... ich gab mir das Wort, am folgenden Tage meiner früheren »Liebe« einen Besuch abzustatten. Es kamen aber Geschäfte dazwischen: eine Woche verging, eine zweite, und als ich mich endlich in jenes Hotel begab und nach Frau von Dolsky fragte, – erfuhr ich, sie sei vor vier Tagen plötzlich im Wochenbette gestorben. Es war wie ein Stich, der mir durchs Herz fuhr. Der Gedanke, daß ich sie hätte wiedersehen können, sie nicht wiedergesehen habe und nie wiedersehen werde, – dieser schmerzliche Gedanke bohrte sich in meine Seele mit der ganzen Gewalt eines Vorwurfes. Gestorben! wiederholte ich, mit stumpfem Blick auf den Portier wandte mich still zur Tür und ging die Gasse entlang, ohne selbst zu wissen, wohin. Die ganze Vergangenheit war plötzlich wieder vor mir aufgetaucht und neuerstanden. Und das also war das Ende, das war das Ziel, welchem, in seiner ungestümen Hast, dieses junge, glühende, glänzende Leben entgegenstrebte! Das also! Ich stellte mir ihre teuren Züge, ihre Augen, ihre Locken vor, die nun im engen Kasten lagen, im feuchten Grabesdunkel, dort, nicht weit von mir, der ich noch am Leben war, und vielleicht nur einige Schritte von meinem Vater entfernt ... Dies alles dachte ich, strengte meine Einbildungskraft an, es mir zu vergegenwärtigen, und:

»Von teilnahmslosen Lippen kam die Todesstunde mir
Und teilnahmslos hört' ich dieselbe an«

tönte es in meiner Seele wieder. O Jugend, Jugend! du machst Dir aus allem nichts! Es ist, als wären alle Schätze der Welt, alles Dein, aus Kummer selbst erblüht für Dich Freude, Traurigkeit steht Dir, der selbstvertrauenden, kühnen, sogar gut und Du sprichst: in mir allein ist Leben, – sehet her! Und dennoch fliehen und schwinden auch Deine Tage dahin, spurlos und ungezählt, und alles in Dir vergeht, wie Wachs an der Sonne, wie Schnee ... Und vielleicht liegt das ganze Geheimnis Deines Zaubers nicht in der Möglichkeit alles zu vollbringen, – sondern in dem Wahne, Du könntest alles vollbringen; es liegt darin, daß Du glaubst Kräfte in den Wind zu streuen, die Du ohnehin zu nichts anderem verwendet hättest, – darin, daß jeder von uns, alles Ernstes, sich als einen Verschwender hält, alles Ernstes glaubt, er habe das Recht zu sagen: O, was würde ich nicht alles getan haben, wenn ich nicht unnützerweise meine Zeit verloren hätte!

So auch ich ... wie groß waren meine Hoffnungen, meine Erwartungen gewesen, welch' reiche Zukunft sah ich nicht vor mir und es standen mir kaum ein Seufzer, kaum ein Gefühl von Wehmut zu Gebote, die ich dem für einen Augenblick vor mir erstandenen Schatten meiner ersten Liebe hätte widmen können! Und was ist von alle Dem, worauf ich damals meine Hoffnung gebaut hatte, in Erfüllung gegangen? Und doch – selbst jetzt noch, da bereits abendliche Schatten über mein Leben heranzuziehen beginnen, was gibt es für mich Erfrischenderes, Teueres, als die Erinnerung an jenes rasch vorübergezogene, morgendliche Frühlingsgewitter in meinem Herzen?

Aber, ich tue mir Unrecht. Selbst damals, in jener leichtlebigen Jugendzeit, blieb ich nicht taub für die traurige Stimme, die zu mir rief, für den feierlichen Laut, der von jenseits des Grabes zu mir herüberhallte. Einige Tage, nachdem ich den Tod Sinaïdes erfahren hatte, wohnte ich selbst, von freiwilligem, unwiderstehlichem Drange getrieben, dem Hinscheiden einer armen, alten Frau bei, die in demselben Hause mit mir lebte. Von Lumpen bedeckt, auf hartem Bretterlager, mit einem Sacke unter dem Kopfe, verschied sie in Schmerzen und Pein. Ihr ganzes Leben war in stetem Kampfe gegen die tägliche Notdurft verflossen; keine Freuden hatte sie gekannt, vom Honigseime des Glückes nicht gekostet, – wie hätte sie sich nicht, müßte man denken, auf den Tod, die Erlösung durch ihn und die Ruhe, die er in Aussicht stellte, freuen sollen? Und dennoch, solange die alten Glieder noch widerstanden, solange noch die Brust qualvoll unter der auf ihr lastenden eisigen Hand sich hob, solange noch die letzten Kräfte sie nicht verlassen hatten, hörte die Alte nicht auf sich zu bekreuzigen und zu stammeln: Herr, vergib mir meine Sünden! – und erst mit dem letzten Funken des Bewußtseins verschwand aus ihren Augen der Ausdruck von Scheu und Furcht vor dem Tode. Und dort, am Sterbelager der armen Alten, erinnere ich mich, wurde mir bange um Sinaïde und ich empfand das Bedürfnis, zu beten für sie, für meinen Vater und – für mich.

* * *

Als die Geschichte beendet war, senkte Wladimir Petrowitsch den Kopf, wie in Erwartung, wer wohl zuerst das Wort ergreifen werde. Aber weder Sergei Nikolajewitsch noch der Herr vom Hause unterbrachen das Schweigen. Wladimir selbst erhob nicht den Blick von seinem Hefte.

– Es will mich bedünken, meine Herren, sagte er endlich mit erzwungenem Lächeln, daß meine Beichte Ihnen nicht sonderlich gefallen hat.

– Das nicht, erwiderte Sergei Nikolajewitsch aber ...

– Nun? Aber ...

– Ich meine, daß wir in einer eigentümlichen Zeit leben und daß wir selbst eigentümliche Menschen sind.

– Inwiefern?

– Ja wir sind eigentümliche Menschen, wiederholte Sergei Nikolajewitsch. – Nicht wahr, Sie haben zu dem, was Sie Ihre Beichte nennen, nichts hinzugedichtet?

– Nichts!

– Hm! – Übrigens das merkt man. Nun! – mir will es scheinen, daß nur in Russland ...

– Solch eine Geschichte möglich ist? unterbrach ihn Wladimir; ich bitte Sie!

– Sie haben mich nicht ausreden lassen. Ich wollte sagen, daß eine solche Erzählung nur in Russland möglich ist.

Wladimir schwieg einen Augenblick. – Welches ist Ihre Meinung? fragte er dann, sich an den Hausherrn wendend.

– Ich teile ganz die Ansicht von Sergei Nikolajewitsch, entgegnete dieser; aber erschrecken Sie darüber nicht. Wir wollen damit nicht sagen, daß Sie deshalb ein Vorwurf trifft, im Gegenteil. Wir wollen damit nur ausgesprochen haben, daß die sozialen Zustände, unter welchen wir alle groß geworden sind, sich bei uns in ganz besonderer Weise gebildet und entwickelt haben, wie das weder früher je gewesen ist, noch auch voraussichtlich künftig je wieder sein wird. – Ihre einfache und ungekünstelte Erzählung hat uns mit einer Art von Schauder erfüllt. – Nicht daß sie uns als unsittlich verletzt hätte: sie enthüllt etwas viel Dunkleres als bloße Unsittlichkeit. Sie persönlich sind von jedem Vorwurf frei, denn Sie haben kein Unrecht begangen. Aber jede Zeile Ihrer Erzählung durchweht, – ich weiß nicht welche – allgemeine Schuld, die Schuld eines ganzen Volkes, welche ich fast ein Nationalverbrechen nennen möchte.

– O! welch' großes Wort für eine kleine Sache! warf Wladimir ein.

– Der Fall ist klein, die Sache aber ist es durchaus nicht. Es gibt, ich wiederhole es, und Sie selbst fühlen das – es gibt bei uns ein Etwas, das unwillkürlich an die Worte des Marcellus im Hamlet erinnert:

»Etwas ist faul im Staate Dänemark.«

– Hoffen wir jedenfalls, daß unsere Kinder andere Geschichten aus ihrer Jugend zu erzählen haben werden und daß sie sie anders erzählen werden.

* * *


 << zurück