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Der Traum

Während Pucki sich von dem ausgestandenen Schreck schnell wieder erholte, lag Peter noch immer fiebernd im Bett. Der Vater erkannte bald, daß das innere Leid seines Knaben in der Hauptsache Schuld an seinem Befinden hatte. Kinder haben auch schon ihr Herzeleid, und sie tragen oft schwerer daran als Erwachsene. Wenn die Mutter an sein Bettchen trat, schloß er die Augen und wagte nicht, sie anzusehen. Wenn sie dann davonging, weinte er bitterlich in die Kissen.

Sie konnte ihn ja nicht mehr liebhaben! Der Knabe lauschte angestrengt, wenn die Mutter im Nebenzimmer mit Karl oder Rudi sprach; er sehnte sich danach, sie um Verzeihung zu bitten, aber auch das wagte er nicht. So wurden die Kinderaugen immer heißer, und das Fieber wollte nicht weichen, trotz der Medizin, die ihm der Vater gab. – –

Eines Nachmittags, als Peter sich schlafend stellte, ging die Mutter lautlos im Zimmer umher. Da kam Karl herein. Er warf einen Blick auf den Bruder, glaubte ihn auch schlafend und sagte:

»Mutti, hast du den Peter noch lieb?«

Peter, der diese Worte hörte, konnte kaum an sich halten. Wie ein Hammer pochte sein Herz in der Brust. – Was würde die Mutti jetzt sagen?

»Natürlich habe ich ihn lieb, Karl. Eine Mutter hat alle ihre Kinder immer lieb.«

»Er hat dir doch aber einen so großen Schreck eingejagt. Wenn du nun wieder krank geworden wärest!«

»Trotzdem hat ihn die Mutti lieb. Die Mutti ist ja so traurig, wenn sie sieht, daß eins ihrer Kinder im Bett liegen muß.«

»Hast du den Peter – genau so lieb – wie mich?«

»Ja, Karlchen, ganz genau so lieb. Die Mutti wird den Tag sehnsüchtig erwarten, an dem Peter wieder fieberfrei ist und aufstehen kann.«

»Oh – eine Mutti ist aber was Schönes! Darf der Peter auch wieder Pucki-Mütterchen zu dir sagen?«

»Wenn er mir ernstlich verspricht, das Lügen zu lassen, darf er es auch wieder sagen.«

»Na, dann ist es ja gut!«

Dann verließen Pucki und Karl das Krankenzimmer. Die Mutter stand jedoch noch auf der Schwelle der Tür, als sie einen unterdrückten Schrei ihres Peter hörte. Hastig wandte sie sich um, ging zu seinem Bett und sah das fieberheiße, bebende Kind, das beide Arme nach ihr ausstreckte.

»Mutti, hab mich wieder lieb!« flüsterte er leise und innig.

»Ja, Peterli!«

»Mutti – darf ich zu dir Pucki-Mütterchen sagen? – Mutti, ich will auch nicht wieder naschen und nie wieder lügen. Tausend Jahre nicht! – Mutti, darf ich – zu dir – Pucki-Mütterchen sagen?«

Pucki hatte inniges Mitleid mit dem aufgeregten Kind und legte zärtlich den Arm um seine Schultern. »Wenn du mir versprichst, dir ernstlich Mühe zu geben, ein wahrhafter Junge zu sein, dann darfst du mich auch wieder Pucki-Mütterchen nennen.«

»Mutti, ich verspreche es dir!«

»Es wird nicht leicht sein, Peterli, das bedenke wohl. Du wirst noch manchmal aus kleinen Dingen etwas Großes machen, das hast du dir leider angewöhnt. Aber wenn es geschieht, und du merkst es, dann mußt du dich gleich verbessern. Das würde schön sein und die Mutti sehr freuen.«

Immer wieder blickte er ihr ins Gesicht, streichelte ihre Hand, brachte seine Lippen an ihr Ohr und fragte leise: »Darf ich jetzt?«

»Ja, mein Junge.«

»Pucki-Mütterchen«, sagte er mit tiefer Innigkeit, »mein allerbestes Mütterlein! – Jetzt ist es mir nicht mehr so heiß und so eng. – Ach, Mutti, du bist so gut!«

Behutsam legte Pucki den Knaben in die Kissen zurück. Unter den geschlossenen Lidern rannen seine Tränen, die ihm die Mutter liebevoll abwischte.

»Nun schlafe dich ganz gesund, mein lieber Junge, dein Pucki-Mütterlein hat dich sehr lieb und freut sich darauf, ihren braven Jungen bald wieder gesund zu sehen.« – –

Überraschend schnell erholte sich Peter, seit er wußte, daß ihm die Mutter wieder gut war. Er gab sich die denkbar größte Mühe, sein Versprechen zu erfüllen. Er mußte sich aber oftmals verbessern, denn es verging anfangs kaum ein Tag, an dem er nicht wieder übertrieb und lügenhaft aufschnitt. So sagte er einmal:

»Mutti – heute habe ich tausend kleine Hühnerchen gesehen!«

»Wirklich tausend, Peterli?«

»Ach nein, Mutti, hundert waren es. – Ach nein, noch viel weniger. Ich glaube dreißig oder neunzig oder nur so viel, wie ich Finger an der Hand habe. – Mutti, ich wollte es gleich richtig sagen, aber es rutschte so schnell heraus. Ich sage es nicht wieder.«

Und Pucki, die genau wußte, wie schwer es ist, sich eine schlechte Eigenschaft abzugewöhnen, tadelte nicht, denn ganz allmählich, das merkte sie, nahm sich Peter mehr und mehr zusammen. – –

Da war es eines Nachts, daß Karl aus dem Schlaf erwachte. Da die Tür zum Schlafzimmer der Eltern immer nur angelehnt war, hörte er plötzlich, wie die Mutter leise seufzte. Er richtete sich auf. War sie krank? Noch einmal hörte er ihr Seufzen und dann einen leisen Klageton.

»Peter! – Die Mutti ist krank! – Peter, wach auf!«

Der Angerufene ermunterte sich, und beide Kinder hörten nun das seltsame Seufzen. Da hielt es die Knaben nicht länger in ihren Betten. Sie stiegen heraus und gingen behutsam ins Nebenzimmer. Das Bett des Vaters war leer, er war vor einer Stunde zu einem Kranken gerufen worden. Pucki lag in tiefem Schlummer. – Aber wieder seufzte sie leise.

K.

»Mutti«, flüsterte Karl ängstlich.

Da erwachte die Schlafende.

»Kinder, was wollt ihr hier?«

»Mutti, bist du krank?«

»Nein. – Warum steigt ihr aus euren Betten?«

»Ach, Mutti, du hast so gejammert und so getan, als ob du weinen wolltest. Genau so hast du damals in der Laube gejammert. Mutti, was fehlt dir?«

Pucki mußte lachen. »Eure Mutti hat eben einen ganz tollen Traum gehabt, da hat sie wohl im Schlaf angstvolle Töne ausgestoßen. War es so schlimm, daß ihr davon erwacht seid?«

»Ich war schon ein Weilchen munter, Mutti, da hat auf einmal dein Jammern angefangen.«

»Nun geht wieder in eure Betten, aber sehr leise, damit Rudi nicht erwacht.«

»Mutti, was hast du denn für einen Traum gehabt?« fragte Peter.

»Warum hast du so gejammert, Mutti?« wollte Karl wissen.

»Das erzähle ich euch morgen. Jetzt geht schlafen. – Ich hatte Angst um euch.«

»Ach, liebe Mutti, erzähle doch! – War es so schlimm, was wir gemacht haben?«

»Nein«, sagte sie leise und innig, »im Gegenteil, es war sehr, sehr schön.«

»Erzähle doch, bitte, bitte!«

»Jetzt geht ihr schlafen, aber morgen, beim Sonntagsfrühstück, erzähle ich euch den Traum. Der Vati soll ihn auch hören. – Und nun marsch in die Betten!«

»Marsch!« wiederholte Karl, dann marschierte er los. Ihm folgte der Bruder. Bald lagen die beiden wieder in friedlichem Schlaf in ihren Betten.

Am Sonntag wurde das Frühstück im Gregorschen Hause immer etwas später eingenommen. Die drei Knaben saßen artig am Tisch, hatten ihr Frühstück verspeist und warteten darauf, daß ihnen die Mutti den Traum der vergangenen Nacht erzählen sollte. Da begann sie:

»Der Vati und ich gingen durch einen großen, finsteren Wald. Es war kein Weg, kein Steg vorhanden; wir wußten nicht mehr, wohin wir uns wenden sollten. – Da kamst du, Karlchen, hattest eine Axt in der Hand und fingst an, dicke Bäume umzuschlagen, denn du wolltest deinen Eltern einen Weg bahnen. Ich aber hatte große Angst, daß dir in der Dunkelheit ein Unglück zustoßen könnte, denn es war kaum noch möglich, etwas zu sehen.«

»Aha«, sagte Karl, »darum hast du so gejammert.«

»Wir wollten nicht, daß du so schwere Arbeit tust, doch du sagtest, es wäre deine Pflicht, für die Eltern den Weg in der Finsternis zu suchen. So ließen wir dich gewähren.«

»Mutti, ich hätte auch die großen Bäume umgehackt, um euch einen schönen Weg zu machen«, sagte Peter. »Mutti, habe ich nicht auch 'ne Axt oder ein Schwert gehabt und in dem finsteren Wald Bäume umgehauen?«

»Nein, Peterli, das hat nur Karl getan. Er hat dabei ganz laut gerufen, ob er denn nicht ein wenig Licht bekommen könne. – Da bist dann du, Peterli, ganz plötzlich gekommen und hattest eine Laterne in der Hand. Als die Laterne nicht genug leuchtete, bist du plötzlich emporgeflogen, bis wir dich nicht mehr sehen konnten, gerade hinein in den Himmel. Von dort holtest du ein Sternchen herab, und nun war es plötzlich hell im Walde.«

»Oh, Mutti«, rief Peter strahlend, »dann habe ich für euch den Wald hell gemacht.«

»Ja, Peterli, aber die Mutti hatte große Angst, als sie dich höher und immer höher fliegen sah.«

»Da hast du wieder gejammert!«

»So sahen wir schließlich einen schmalen Weg, den wir gehen konnten.«

»Mutti, wo war denn der Rudi?« fragte Karl. »Hat der auch gehackt oder einen Stern geholt?«

»Nein – Rudi saß in einem schönen Wagen. Er fuhr immer hinter uns her.«

»Wenn doch kein Weg da war, Mutti?«

»Er fuhr eben auf dem Weg, den Karl mühsam zurechtmachte. – Weißt du, Peter, im Traum ist alles nicht immer richtig. Im Traum verwirren sich die Gedanken.«

»Aber ein Traum hat auch manchmal etwas zu bedeuten, Mutti.«

»Jawohl«, sagte der Vater, der bisher ruhig zugehört hatte, »nun kommt einmal zu mir, ich will euch sagen, was der Traum der lieben Mutti bedeuten könnte.«

Die drei Knaben lehnten sich voller Erwartung an den Vater.

»Du, Karl, bist vor uns her in den Wald gegangen und hast mit der Axt den Weg für uns geschlagen. Das könnte bedeuten, daß der Sohn, wenn er erst groß ist, seinen Eltern den Lebensweg erleichtert und bereit ist, für sie Arbeit zu leisten und Mühen auf sich zu nehmen. – Meinst du nicht, Karl, daß das so sein könnte?«

»Ja, Vati«, sagte der Knabe flüsternd, »wenn ich erst groß bin, mache ich euch einen breiten, schönen Weg, damit euer Fuß nie an einen Stein stößt. – Mutti, das war ein schöner Traum!«

»Vati, von mir hat die Mutti doch auch geträumt. Arbeite ich auch für euch?« fragte Peter.

»Peter, die Mutter hat von dir auch etwas sehr Schönes geträumt«, fuhr der Vater fort. »Mühsam hat Karl für die Eltern den Weg gesucht, da kamst du und brachtest helles Licht. Helles Licht ist aber Freude. Als dir die Laterne noch zu wenig zu leuchten schien, strengtest du alle deine Kräfte an, um den Eltern und Brüdern, die bisher im Dunkel wanderten, noch mehr Licht, also noch mehr Freude zu bringen. – So sagt der Traum, daß unser Peter seinen Eltern und Geschwistern Freude machen wird. Nicht wahr, Peter, so wollen wir es halten?«

»Ja, Vati. – Na, und der Rudi? Der ist in einem Wagen hinterhergefahren?«

»Vati – dem Rudi habe ich den Weg breitgemacht, und der Peter hat dazu geleuchtet! – Hat der Rudi auch was Gutes im Traume getan? Oder ist er nur hinterhergefahren?«

»Rudi tut auch was Gutes«, schrie der Jüngste.

»Ja, Junge«, lachte der Vater, »der große Wagen, der von dir gefahren wurde, bedeutet, daß du die Eltern, wenn sie alt und müde sind und nicht mehr laufen können, in deinen Wagen setzen willst. Darum fährst du hinterher, um gut aufzupassen, ob sie auch noch laufen können. – Nicht wahr, Rudi, später fährst du uns in deinem Wagen?«

»Ja, Vati, der Rudi fährt«, schrie der Kleine begeistert.

»So, Jungen, nun ist die Frühstücksstunde vorüber, jetzt lauft und spielt!«

»Vati, einen Kuß muß ich dir geben, weil du uns einen so schönen Traum erklärt hast. – Ach, ich bin so froh, daß ich für euch den Weg machen kann, und der Peter bringt die Freude, und der Rudi fährt euch alten Leute! Ach, wird das schön sein!«

Vom Vater gingen sie zur Mutter. »Schön hast du geträumt, Mutti! Ach, träume immer so schön von uns! Wir tun noch viel mehr für euch, immerfort, solange wir leben, denn wir haben euch ja so furchtbar lieb. Wir haben unsern Vati lieber als alles auf der Welt, und noch viel lieber – nein, ebenso lieb haben wir die Mutti! Unser Pucki-Mütterlein!«

»Pucki-Mütterlein«, wiederholten die beiden kleineren Geschwister und schmiegten sich an die glücklich dreinschauende Mutter.

»Und nun: angetreten!« sagte der Vater. »Stillgestanden! – Marsch, hinaus in den Garten!« – Die ganze Kompanie – marsch!«

Als die Kinder gegangen waren, schlang Pucki die Arme um den Hals des Gatten: »Was hast du aus meinem Traume gemacht, Claus! Wie schön hast du alles unseren Kindern gesagt. Ich glaube, mein Traum wird sie durchs ganze Leben begleiten.«

»Meine Pucki – du prächtiges Mütterlein!«

K.

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