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Das verunglückte Seiltanzen

Seit Pucki das hohe Seil draußen beim Schützenhaus gesehen hatte, stand es bei ihr fest, daß sie diese Kunst auch lernen müsse. So war Pucki nun einmal! – Wenn es nur erst Sonntag wäre! Pucki steckte mit ihrer Begeisterung auch ihre Zimmergefährtin, die ruhige Carmen, an und meinte, man könne doch gewiß viel Geld verdienen, wenn man auch noch das Seiltanzen lernte.

»Wenn wir mal eine Vorstellung machen, verdienen wir viel Geld, und du kannst mit deinem Vater auf dem Schiff um die ganze Erde mitfahren. Ich aber setze mich ins Flugzeug und fliege über den Ozean.«

»Wir können doch nicht seiltanzen, Pucki.«

»Wir lernen es.«

Ein Stück Wäscheleine war im Hause Tante Gretes bald gefunden. Die Wäscheleine war unbedingt notwendig. Und nun übten die beiden Mädchen alltäglich in größter Heimlichkeit im Schlafzimmer. Der große Raum eignete sich trefflich dazu. Die beiden Betten standen einander gegenüber, in einem Abstand von etwa drei Metern. So wurde die Wäscheleine an jedem Ende an den eisernen Bettpfosten gebunden, etwa einen halben Meter über dem Fußboden. Pucki meinte zwar, es sei richtiger, wenn man das Seil gleich von Anfang an hoch spanne, doch die vorsichtige Carmen riet davon ab.

So wurden die ersten Versuche gefahrlos unternommen. Anfangs ging es überhaupt nicht. Die Leine war viel zu locker gespannt und gab zu sehr nach, so daß kein Schritt möglich war. Außerdem ging es auf den Schuhen mit den hohen Absätzen auch nicht gut.

»Wir müssen die Morgenschuhe nehmen, ich weiß von anderen Seiltänzern, daß sie Schuhe ohne Absätze tragen. Die werden mit Kreide beschmiert, dann geht es.«

Am nächsten Tage brach Pucki in der Klasse die Schulkreide mitten durch und brachte eine Hälfte mit nach Hause. Am Abend wurden die Morgenschuhe derart mit Kreide beschmiert, daß das Zimmer und der Teppich fürchterlich aussahen.

»O weh«, sagte Carmen, »wenn das Tante Grete sieht, bekommen wir was auf die Mütze.«

Doch obgleich Pucki das ganze Stück Kreide auf die Sohlen verarbeitete, gelang es doch nicht, von einem Bettpfosten zum anderen zu kommen.

»Wir machen es nicht richtig«, sagte Carmen, »die Seiltänzerin, die ich gesehen habe, hatte ein ganz kurzes Röckchen an und hielt einen Schirm in der Hand.«

Sofort wurde aus dem Schirmständer, draußen im Flur, der schwarze Regenschirm von Tante Perler geholt. Die Kinder zogen die Kleidchen aus, spannten den Schirm auf und versuchten nun, einer nach dem anderen, erneut auf der Wäscheleine zu spazieren. Der Schirm störte sie entsetzlich! Doch Pucki gab nicht nach. Plötzlich fiel der aufgespannte Schirm auf den Fußboden, im nächsten Augenblick lag Pucki auf ihm, ein Knacken – und mehrere Stangen waren zerbrochen.

Betrübt umstanden die beiden Seiltänzerinnen Tante Gretes Regenschirm.

»Au je, das müssen wir ihr nun wieder sagen«, meinte Pucki gedankenvoll. »Ich werde Hans Rogaten bitten, daß er den Schirm von seinem Gelde wieder in Ordnung bringen läßt. Er hat gerade gestern mit Geld geklimpert. Er wird sicher gern etwas für uns bezahlen.«

Für den heutigen Abend wurden die Übungen eingestellt. Man hoffte, am Sonntag von der Seiltänzerin etwas hinzuzulernen. Sie mußten es gewiß ganz anders machen, denn auf einer Wäscheleine ließ es sich nicht laufen. Da konnte man wohl einige Sekunden darauf stehen, doch beim Weitergehen fiel man sofort herunter.

Am anderen Morgen schalt das Stubenmädchen über Pucki und Carmen. »Was habt ihr nur in eurem Zimmer angestellt? Ihr habt wohl Kreide zertreten?«

Pucki lächelte dazu geheimnisvoll; das Seiltanzen mußte ein Geheimnis bleiben, es sollte später eine Überraschung werden.

Am Sonntagnachmittag ging Frau Perler mit Hedi und Carmen hinaus zum Schützenhaus. Die Kinder waren voller Erwartung und Freude, die sich noch mehr steigerte, als sie von einem Clown empfangen wurden, der ihnen die Plätze anwies. Pucki konnte sich nicht sattsehen an seinem bemalten Gesicht. Sie fand den Burschen herrlich! Die Truppe war recht klein und in ihren Leistungen nur mittelmäßig. Doch für die beiden Kinder erschienen die Leistungen ungeheuerlich. Sie staunten sehr, wie das Kind im rosa Röckchen mit Silberquasten auf dem Seil hin und her lief. Es konnte sogar auf dem Seil knien und ein Taschentuch aufheben.

»Tante Grete, wie alt ist das Kind?«

»Das ist kein Kind, Pucki, es ist ein junges Mädchen.«

»Ach nein, Tante Grete, das ist ein Kind im kurzen Rock. Junge Mädchen sind nicht so dünn!«

Die zierliche Seiltänzerin machte auf Pucki einen durchaus kindlichen Eindruck. So glaubte sie auch, daß der Clown ein Knabe von höchstens vierzehn Jahren wäre. In der Pause machte er allerhand Allotria.

Und dann war noch ein Herr da, im schwarzen Anzug. Es war der Direktor der Truppe, der sich mit dem Clown unterhielt. Der Hanswurst behauptete, er könne einen Ball, mit dem der Herr Direktor nach ihm werfen würde, mit dem Munde fangen. Er legte auch wirklich beide Hände auf den Rücken, der andere nahm einen kleinen Ball zur Hand und warf nach dem Clown, den dieser dann tatsächlich aus dem Munde hervorholte.

Carmen staunte, doch Pucki rief laut: »Das war Schwindel! Der Mann hat den Ball gar nicht geworfen! Der Hanswurst hat ihn schon vorher im Munde gehabt. Das kann ich auch!«

Tante Grete verwies dem lebhaften Kinde die Zwischenrufe. »Wenn der Clown auftritt, wird stets nur dummes Zeug getrieben, Pucki.«

»Au, dann mache ich mit Hans Rogaten auch mal einen Clown!«

Es folgten noch allerhand Späße, die Pucki und Carmen herzlich belachten. Aber am meisten interessierte sie doch die Seiltänzerin, die bald mit einer Stange, bald mit einem Schirm auf dem Seil umherlief.

»Wir werden es schon auch noch lernen«, flüsterte Pucki Carmen zu, »und Hans Rogaten muß auch mitmachen. Dann kaufen wir uns so einen schönen Wagen und fahren durch die Welt. – Wenn dein Vater nicht mehr auf dem Schiff ist, nehmen wir ihn auch mit.«

Carmen wollte der grüne Wagen nicht recht gefallen, Pucki dagegen fand es herrlich, in solch einem Wagen umherzufahren und bald hier und bald da zu wohnen. So konnte man die ganze Welt sehen.

Als man abends wieder daheim war, erzählten die beiden Mädchen erregt von den herrlichen Darbietungen.

»Wir machen am nächsten Sonntag auch Vorstellung, Hans. Ich bin der Clown, du der Direktor. Dann bin ich mal der Direktor und du der Clown. Das wird fein sein!«

»Du kannst ja deine Vorstellung am Jubiläumstage unseres Gymnasiums geben, Pucki. Du ladest das Lehrerkollegium ein und tanzt auf dem Seil.«

Pucki legte den Kopf auf die Seite und blickte Rogaten mißtrauisch an. »Ich weiß schon, daß du mich verulken willst. Zum Schuljubiläum ist doch nur in der Aula eine Feier vorgesehen, bei der unser Direktor spricht. Und da wir hundert Jahre Schiller-Gymnasium sind, wird furchtbar viel geredet.«

»Es kommen auch viele frühere Schüler, sogar mein Bruder Claus«, fiel Eberhard ein.

»Claus kommt, Claus kommt«, jubelte Pucki, »bis dahin muß ich das Seiltanzen gelernt haben.«

»Ihr werdet so lange seiltanzen, bis ihr euch die Nasen zerschlagen habt! Den Schirm von Tante Grete habt ihr auch schon zerbrochen und einen mächtigen Verweis bekommen.«

»Claus kommt – Claus kommt! – Claus freut sich, wenn ich etwas Neues gelernt habe! Außerdem macht mir das Seiltanzen viel Spaß. Im Walde bin ich immer auf den gefällten Baumstämmen entlanggelaufen. Nicht wahr, Carmen, uns gefällt das Seiltanzen!«

»Ach ja, es ist herrlich!«

Eberhard schüttelte den Kopf. »Pucki macht dich auch verdreht. Sonst bist du immer recht vernünftig gewesen, nun fängst du ebenfalls mit dem Unsinn an.«

»Du könntest es auch mal versuchen, Eberhard, es ist wirklich fein.«

»So lange, bis ihr euch die Glieder gebrochen habt.«

»Gib mir mal dein Poesiealbum, Pucki, ich werde dir folgendes hineinkritzeln:

Hört Kinder meinen Rat und schreibt
Es tief in eure Herzen:
Die Freuden, die man übertreibt,
Verwandeln sich in Schmerzen.«

Die beiden Mädchen lachten übermütig. »Bei uns verwandeln sich die Freuden in noch größere Freuden, Hans, wirst es ja sehen. Am nächsten Sonntag machen wir eine Probe, und du mußt den Clown machen. Paß auf, ich werde dir gleich sagen wie.«

Pucki holte zwei kleine Gummibälle herbei und reichte Hans Rogaten einen hin. »Der Clown hat einen in den Mund genommen und ich, der Herr Direktor, nehme den anderen in die Hand und tue, als ob ich nach dir schmeiße. Stell dich doch mal dort drüben hin und steck den Ball in den Mund.«

»Pfui Teufel!«

»Lieber Hans, du bist doch mein allerbester Freund, bitte, sei der Clown, es macht mir so viel Freude.«

Hans wischte den Ball an der Jacke ab, dann schob er ihn in den Mund. Pucki stellte Hans an die gegenüberliegende Zimmerwand und entfernte sich mehrere Schritte von ihm.

»Meine geehrten Herrschaften«, rief sie mit tiefer Stimme, »Sie sehen hier meinen Hanswurst, den Clown Hans, darum heißt er auch Hanswurst. Er wird jetzt den Ball, den ich ihm zuwerfe, mit den Zähnen auffangen. Er wird ihn nachher aus seinem Munde holen, denn er ist ein berühmter Ball- und Fliegenfänger. – Achtung, Hanswurst! Bei drei schmeiße ich, und du fängst!«

Carmen lachte. Das erschien ihr ein herrlicher Spaß.

»Ich passe aber genau auf, ob du den Ball wirfst«, meinte Eberhard.

»Eins – zwei –«, Pucki hielt den Ball in der Hand und schwang beim Zählen den ganzen Arm im Kreise. »Hanswurst, mache den Mund weit auf!«

Rogaten tat es willig.

»Drei!« – Pucki hatte im Eifer den Ball losgelassen; er flog Rogaten ins Gesicht.

»Frechheit«, rief er und nahm den Ball rasch aus dem Munde. »Du bist eine hinterlistige Kröte!« Und schon hatte Pucki eine kräftige Ohrfeige bekommen. Dann rieb sich Rogaten schmerzlich die Nase.

Eberhard lachte laut, Carmen war bestürzt.

»Wenn du solche Vorstellungen gibst, Pucki, wirst du nicht weit kommen. Da wird der Hanswurst dich mächtig vermöbeln.«

»Hans, ich wollte wirklich nicht schmeißen«, maulte Pucki. »Der Ball ist mir nur aus der Hand gerutscht. – Sei nicht böse, Hans, ich habe ja nun auch meine Ohrfeige weg. Wir sind also quitt!«

»Die Freuden, die man übertreibt«, zitierte Eberhard mit lauter Stimme, »verwandeln sich in Schmerzen. – So, jetzt kommst du an die Reihe, Pucki, jetzt bin ich der Direktor.«

Carmen faßte Pucki an der Hand. »Komm schnell fort! Mit den großen Jungen wollen wir uns nicht einlassen«, und schon waren beide Mädchen aus dem Zimmer gelaufen. Draußen im Flur rieb sich Pucki nochmals das Ohr.

»Der Hans ist ein Grobian, aber lieb habe ich ihn doch«, sagte Pucki.

Am nächsten Tage wurde viel von Claus gesprochen, der sich bereits bei Tante Grete angemeldet hatte. Er wollte am Dienstagvormittag in Rotenburg eintreffen. Pucki konnte sein Kommen kaum erwarten.

»Ich finde es nicht schön«, sagte sie zu Carmen, »daß am Dienstag früh die Feier in der Aula ist. Es wäre besser, wir machten vorher unsere Vorstellung. Aber am Montag wollen wir noch einmal proben, ob alles klappt.«

»Wir spannen die Wäscheleine unten im Hof. Wir schlagen einen Haken in die Mauer, und auf der anderen Seite können wir sie an der Wasserrinne festbinden.«

So kam der Sonnabend heran, der für die Kinder den freien Nachmittag brachte. Carmen und Pucki lagen zum Fenster hinaus und überlegten, ob sie schon heute den Haken einschlagen sollten.

»So eine Gemeinheit«, rief Pucki plötzlich, »jetzt kommt die ›Dreistöckige‹! Sie will Teppiche klopfen, da können wir doch nicht üben.«

Die »Dreistöckige« war das brave Hausmädchen von Tante Grete, das von Eberhard diesen Spitznamen erhalten hatte, weil sie übergroß war.

Das Mädchen warf einen Läufer über die Teppichstange.

»Carmen«, flüsterte Pucki, »ich habe eine glänzende Idee! – Carmen, unsere Vorstellung wird ganz besonders schön sein. Wir haben endlich auch ein hohes Seil!«

»Ein hohes Seil?«

»Wir seiltänzern auf der Teppichstange! – Au, das wird fein, auf der können wir bestimmt laufen!«

»Und wenn wir 'runterfallen?«

»Wir fallen nicht.«

»Wenn wir aber doch fallen, tun wir uns mächtig weh.«

»Wir müßten was Weiches drunterlegen oder ein Netz spannen, wie die Seiltänzer. – Carmen, du hast doch eine Hängematte!«

»Pucki, die ist zu klein.«

»Ach, es wird schon gehen.«

Von nun an warteten die beiden darauf, daß die »Dreistöckige« mit dem Teppichklopfen fertig wurde. Und als es Pucki gar zu lange dauerte, rief sie hinunter: »Es kommt gar kein Staub mehr 'raus, Sie können es jetzt sein lassen!«

In diesem Augenblick rief Tante Grete nach dem Hausmädchen. »Bürsten Sie erst die Teppiche aus, dann kommen Sie herauf.«

Das geschah. Aufmerksam verfolgten die beiden Kinder jeden Handgriff des Mädchens. Außer den Treppenläufern waren noch sechs Bettvorleger geklopft worden. Endlich aber stand alles nebeneinander im Hof, gut zusammengerollt.

Carmen und Pucki lauschten. Wenn die »Dreistöckige« in der Küche beschäftigt war, war für die Kinder der Hof frei. Sie würde ihnen gewiß sonst das Seiltanzen auf der Stange verboten haben. Die Kinder unterdrückten daher das Jauchzen, als sie Tante Gretes Stimme hörten, die das Mädchen vom Hof wegrief. Daß Tante Grete im Vorderzimmer saß und schrieb, war prachtvoll.

Schon schlichen die beiden Kinder hinunter in den Hof.

»Wir brauchen deine Hängematte gar nicht«, meinte Pucki, »wir legen die Teppiche unter die Stange. Wenn wir 'runterfliegen, fallen wir weich.«

»Nachher müssen wir sie aber wieder zusammenrollen.«

»Machen wir«, meinte Pucki. Schon holten sie die Trittleiter, die in der Holzkammer stand. Pucki kletterte als erste hinauf. »Du – die Stange ist schön breit, ich stehe ganz sicher. Komm gleich mal mit 'rauf, Carmen.«

Die Gerufene stand zögernd auf der untersten Leiterstufe. »Ich habe ein bißchen Angst«, sagte sie. »Warte mal, erst will ich hier den alten Eimer fortnehmen, sonst fallen wir 'rein in die Küchenabfälle.«

»Komm nur 'rauf, wir fallen bestimmt nicht. – Sieh mal!« Pucki stand auf der Teppichstange und lachte vergnügt, »ich stehe ganz sicher!« Sie versuchte sogar das eine Bein zu heben. Auch das gelang.

»Warte, Pucki, ich will noch die Bettvorleger unterpacken.«

»Ist gar nicht nötig!«

Doch die fürsorgliche Carmen rollte gewissenhaft den Treppenläufer auf, legte ihn doppelt zusammen und darauf die sechs Bettvorleger.

»Ich kann seiltanzen! – Ich kann seiltanzen«, lachte Pucki, »sieh mal: Linkes Bein vorwärts – streckt!« Pucki hob das linke Bein höher und immer höher.

Carmen war nun gleichfalls begeistert. Langsam kletterte auch sie auf der Leiter empor und machte schüchtern den ersten Tritt auf die Stange. Pucki lief lustig hin und her. Sie streckte Carmen die Hand hin. »Du gehst vorwärts, ich rückwärts. – Wir sind jetzt zwei Künstlerinnen!«

Carmen machte unsicher einen Schritt vorwärts, kam aber ins Schwanken, griff mit beiden Händen nach Pucki, um sich an ihr zu halten, und – – dann ertönte ein zweistimmiger Schrei! Zwei Mädchen fielen von der Stange. Pucki war so unglücklich gestürzt, daß sie mit dem einen Arm auf den Eimer schlug. Der Eimer mit seinem ganzen Inhalt entleerte sich auf die Teppiche. Carmen wurde von Kartoffelschalen und anderen Küchenabfällen überschüttet. Sie fühlte einen brennenden Schmerz an beiden Knien und vermochte im ersten Augenblick nicht aufzustehen.

Carmen begann zu weinen, obwohl der Fall für sie ziemlich glimpflich abgegangen war. Gesicht und Kleid waren völlig beschmutzt. – Und wie sahen die Teppiche aus, die sauber geklopften und gebürsteten Teppiche!

Endlich hatte sich Pucki erhoben. Von beiden Knien tropfte Blut auf die Bettvorleger. Auch am Arm hatte sie sich eine ziemliche Wunde gerissen.

»Du machst ja die Teppiche blutig«, rief Carmen.

Pucki humpelte einige Schritte seitwärts. »Es tut so weh«, jammerte sie und verbiß sich tapfer das Weinen.

»Ich habe mir die Stirn zerschlagen«, schluchzte Carmen, »ich bin ganz schmutzig.«

»Wir müssen die Teppiche wieder zusammenrollen.«

»Pfui, sie sind ja voller Schmutz.«

»Den schütteln wir schnell ab. – Au, meine Knie tun so weh!«

Pucki zog das Taschentuch heraus und wickelte es um das eine blutende Knie. Für das andere und für den Arm hatte sie keinen Verband.

»Ich muß hinaufgehen und muß mich waschen!«

Carmen lief voran, und Pucki humpelte mit Anstrengung hinterher. Sie vermochte kaum die Treppe hinauf zu steigen. »Ach, es tut so weh«, klagte sie immer wieder.

Im Flur trafen sie Eberhard, der fortgehen wollte. »Ihr Ferkel, wie seht ihr denn aus?«

»Ach, es tut so weh!«

Tante Grete, die am Schreibtisch saß, horchte auf. Sie erhob sich sofort, kam aus dem Zimmer und sah die beiden Mädchen in ihr Zimmer verschwinden. Ein paar Blutstropfen waren auf dem Fußboden sichtbar.

»Was ist passiert, Eberhard?«

Der lachte. »Vielleicht sind die Seiltänzer verunglückt.«

Tante Grete wollte ins Zimmer der Kinder gehen. Es war von innen verschlossen. Pucki hatte angstvoll den Riegel vorgeschoben.

»Ihr öffnet sofort!« rief die Tante.

Noch ehe sich Carmen säubern konnte, stand Tante Grete vor ihr. An der blutenden Stirn klebten Kartoffelschalen Pucki war dabei, mit dem Schwamm den blutenden Arm zu säubern.

»Was habt ihr schon wieder angestellt?«

Sie mußten berichten.

»Ich verbiete euch, jemals wieder auf der Teppichstange zu laufen, ich verbiete euch überhaupt das Seiltanzen. Und nun zeige her, Pucki. – Du hast dich recht arg zerschlagen.«

Tante Grete holte den Verbandskasten, doch die Wunden Puckis sahen zu bedenklich aus. Es war wohl richtiger, den Arzt zu rufen, denn Verletzungen am Knie waren nicht leicht zu nehmen. Pucki war sehr froh, daß sie sich niederlegen durfte, denn das Auftreten schmerzte sie.

Der Arzt kam. Bei Carmen war die Stirnverletzung nicht schlimm, Pucki dagegen wurde ins Bett gesteckt. »Wir müssen abwarten«, sagte der Arzt, »denn es ist immerhin möglich, daß das Knie anschwillt.«

Die »Dreistöckige« war aufs höchste erzürnt. Frau Perler schickte Carmen hinunter in den Hof; sie mußte beim Abbürsten helfen und mußte auch den Abfall wieder zusammenkehren und zurück in den Eimer bringen. Es war eine scheußliche Arbeit, die Carmen gar nicht zusagte. Es war aber immerhin noch besser, als wie Pucki im Bett zu liegen und in der Ungewißheit zu sein, ob aus der Verletzung etwas Schlimmes würde. Und das schien so. Der Arzt, der am Sonntag wiederkam, meinte, es wäre am besten, eine Röntgenaufnahme zu machen, da vielleicht die Kniescheibe verletzt sei. Morgen wollte man Pucki mit dem Wagen abholen, um im Krankenhaus das Knie durchleuchten zu lassen.

»Und was ist am Dienstag?« fragte Pucki. »Am Dienstag kommt doch der Claus?«

»Dienstag liegst du entweder im Krankenhaus oder hier im Bett.«

Da wandte Pucki wortlos den Kopf zur Seite und zog nach einer Weile die Decke über das Gesicht. Es brauchte keiner die Tränen zu sehen, die kamen. Als eine Stunde später Hans Rogaten ins Zimmer kam, griff sie nach seiner Hand und sagte kläglich:

»Die Freuden, die man übertreibt, verwandeln sich in Schmerzen. – Es stimmt so.«

»Willst du nun am Montag eine Vorstellung geben?«

»Mußt mich nicht noch mehr ärgern, Hans! Der Claus wird kommen, und ich kann nicht mit ihm herumlaufen. Darauf habe ich mich doch so sehr gefreut.«

Die Röntgenaufnahme ergab, daß keine größeren Verletzungen am Knie waren, doch mußte Pucki einige Tage im Bett bleiben.

»Dann kann ich auch die Hundertjahrfeier nicht mitmachen«, sagte sie leise.

»Ich erzähle dir ganz genau alles, wie es war«, sagte Carmen.

»Und den Claus, den schick mal gleich zu mir.«

»Ja, Pucki.«

Am Dienstag früh, als sich Carmen das Sonntagskleid anzog, steckte Pucki wieder den Blondkopf tief unter die Decke. »Ob der Claus bald kommt?« dachte sie.

Es war eine neue große Enttäuschung für das Kind, daß sie ihren geliebten Freund Claus am Vormittag nicht sehen konnte. Das Auto war erst so spät in Rotenburg angekommen, daß sich Claus sofort zur Aula begab, um dort der Hundertjahrfeier des Schiller-Gymnasiums beizuwohnen.

Es waren viele alte Schüler des Gymnasiums anwesend, und der Student fand eine Menge seiner früheren Klassenkameraden wieder. Erinnerungen wurden ausgetauscht. Die jungen Leute saßen nach Beendigung der Feier gemeinsam beim Mittagessen und sprachen von Vergangenem und von der Zukunft.

So kam der Nachmittag heran. Für den Abend war ein neues Zusammensein mit den Lehrern verabredet worden.

»Nun will ich aber heimgehen«, sagte Claus, »denn es wartet noch ein kleines Mädchen auf mich, das ich unbedingt begrüßen will.«

Pucki war schon sehr unglücklich. Stunde auf Stunde verging, ohne daß Claus zu ihr kam. Carmen berichtete von der Feier in der Aula, die sehr schön gewesen war, und von den vielen Reden, die gehalten worden waren. Sie versuchte die traurige Freundin aufzuheitern, aber es gelang ihr nicht. »Hast du mit Claus gesprochen?«

»Ja, aber nur ganz kurz.«

»Hat er nach mir gefragt?«

Zeichnung Kirchbach

»Auch das. Ich sagte ihm, daß du krank bist.«

»Hast du auch gesagt, warum ich krank bin?«

»Das hat ihm der Eberhard schon gesagt.«

Und wieder steckte Pucki den Kopf unter die Decke.

Es wurde Mittag, es wurde drei Uhr, endlich, kurz vor vier Uhr, öffnete sich die Tür und Claus trat ins Zimmer. Da freute sich Pucki sehr und sie beteuerte mit tausend Eiden, daß sie bestimmt nie eine Seiltänzerin werden wollte.

Claus tröstete das traurige Kind. Er erzählte ihr vom Onkel Oberförster, von den Eltern und dem grünen Wald.

Da hellten sich die Augen Puckis wieder auf. Ihr geliebter Claus saß an ihrem Bett, und dabei vergaß sie sogar die Schmerzen im Knie.


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