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Nun ade, du mein lieb' Heimatland!

Noch niemals, seit ihrer vierjährigen Schulzeit, war Pucki während der Stunden so still wie in den letzten Wochen vor Ostern. Der kleine Plappermund öffnete sich auch nicht, um dieser oder jener Klassenkameradin etwas zuzutuscheln. Die Augen, die sonst so pfiffig und übermütig umherschweiften, waren still auf die Lehrerin gerichtet. Pucki litt unter dem Gedanken, in kurzer Zeit das Elternhaus verlassen zu müssen, um nach Rotenburg überzusiedeln. Oft, sehr oft, faßte sie nach Thusneldas Hand. Die Freundin verstand, was Pucki in diesen Augenblicken dachte und flüsterte zärtlich:

»Wir bleiben immer gute Freunde, auch wenn du noch viel weiter wegfährst.«

Die Lehrer, die merkten, wie sehr Pucki unter dem Trennungsgedanken litt, sprachen dem zehnjährigen Mädchen Mut und Trost zu. Meta Zirl, die Tochter des Rahnsburger Kaufmanns, lachte Pucki aus, wenn diese traurig von der bevorstehenden Veränderung sprach.

»Du bist ja dumm«, sagte Meta, »ich freue mich, daß ich nach Hamburg komme. Das ist eine große Stadt. Dort sehe ich viele Schiffe, ganz große Schiffe, die um die Erde fahren.«

»Mit solch einem Schiff ist der Sohn vom Schmanzbauern gefahren«, sagte Pucki gequält. »Genau so ein Schiff hängt an der Zimmerdecke beim Schmanzbauern. Ich sehe mir das Schiff so gerne an, aber nun kann ich nicht mehr hingehen, nun muß ich fort.«

»Sei doch froh! Rotenburg ist auch eine größere Stadt. Dort wirst du viel Neues kennenlernen. Dort sind viele schöne Geschäfte. Da kannst du alles kaufen, was du haben willst. Ich bekomme jede Woche Taschengeld und darf mir in Hamburg auch mancherlei kaufen. – Ach, wenn es doch erst so weit wäre!«

»Deine Eltern bleiben doch hier.«

»Natürlich, ich gehe zu meinem Onkel.«

»Da freust du dich? Wenn deine Eltern hierbleiben? Und euer Hund auch?«

»In Hamburg hab' ich viel schönere Sachen.«

Pucki schüttelte verständnislos den Kopf. So etwas begriff sie nicht. Man mochte ihr noch so Verlockendes von dem neuen Aufenthalt erzählen, einen so schönen Wald wie in Birkenhain gab es auf der ganzen Welt nicht mehr.

An jedem neuen Tage stand Pucki vor dem Wandkalender und ließ bedrückten Herzens die Blätter durch die Finger gleiten. Das Kind hatte an den 24. April ein großes schwarzes Kreuz gemacht, denn das war der Tag, an dem sie nach Rotenburg fahren mußte. – Ach, daß er doch niemals käme!

Aber er kam immer näher und näher. Pucki stand oft neben der Mutter, die allerlei für sie nähte. Zwei neue Kleider und verschiedene Wäschestücke waren bereits fertiggestellt. Waltraut meinte neidisch:

»Ich kriege immer nur die ollen Kleider, die Pucki schon zerrissen hat. Mutti, ich möchte auch nach Rotenburg und neue Kleider haben.«

»Kannst sie haben«, erwiderte Pucki, »aber dann mußte auch wirklich für mich hinfahren. – Das geht aber nicht, denn du bist klein und darfst zu Hause bleiben, ich bin groß und muß weit fort.«

Der Vater nahm sein Töchterchen, da er dessen Kummer sah, in letzter Zeit viel häufiger als bisher mit in den Wald. Er erreichte damit aber gerade das Gegenteil von dem, was er bezweckte. Mitunter blieb Pucki ganz plötzlich an einem Baum stehen, legte die Arme um den Stamm und flüsterte:

»Dich habe ich so oft gesehen; nun muß ich fort von hier und kann dich nicht weiterwachsen sehen.«

»Sei mein vernünftiges, kleines Mädchen«, sagte der Vater sehr ernst, »du wirst alle Bäume, alle Tiere wiedersehen. Du kommst oft ins Elternhaus zurück. Rotenburg liegt doch nicht aus der Welt.«

Es war ihm selber weh ums Herz, wenn er die Trauer in den Augen seiner Ältesten sah. Aber es ging nun einmal nicht anders. Pucki mußte etwas Ordentliches lernen, damit sie später auf eigenen Füßen stehen konnte. Bei Frau Perler war das Kind in allerbester Obhut.

Der letzte Schultag war für Pucki geradezu unerträglich. Jedesmal, wenn ihr einer der Lehrer oder Lehrerinnen die Hand drückte, kniff sie die Augen fest zusammen und biß die Zähne zusammen. Sie hätte nichts antworten können, denn die kleine Kehle war wie zugeschnürt. Von den Klassenkameradinnen brauchte sie noch nicht Abschied zu nehmen, denn an einem Osterfeiertage sollten alle nochmals hinaus nach der Försterei kommen. Aber auch darauf freute sich Pucki nicht. Alles, was man ihr zuliebe antat, schmerzte, denn alles deutete auf den Abschied hin.

Am selben Nachmittage hatte Pucki doch eine kleine Freude. Vor zwei Jahren war von Förster Sandler im Walde ein Rehkitz gefunden worden, das im Forsthause mit der Flasche aufgezogen worden war. Pucki taufte das Tier, das so braun wie der Plüschteppich in der Wohnung der Eltern war, »Plüschli«. Das Tier war den Winter über im Forsthaus geblieben, und es kam auch im nächsten Winter wieder an, um versorgt zu werden, und erschien auch jetzt noch hin und wieder. Heute stand es abermals am Gartenzaun und äugte mit seinen klugen, braunen Augen vertrauensvoll umher.

Pucki sah das Reh, riß einige frische Grashalme ab und eilte hin zu dem Tier, das ruhig stehen blieb.

»Plüschli, nun muß ich weg. Wenn du wiederkommst, bin ich nicht mehr hier. In Rotenburg sind keine Rehe, in Rotenburg ist gar nichts. – Ach, Plüschli – –«

Pucki strich zärtlich mit der Hand über das braune Fell. Das Tier blieb ruhig stehen.

»Ja, du bist gut zu mir, du sagst mir heute Lebewohl. – Ach, Plüschli, wenn ich mal wieder hier bin, mußt du wieder an den Gartenzaun kommen, denn dann will ich dir erzählen, wie schrecklich es in Rotenburg ist.«

Als das Reh sich wieder dem Walde zuwandte, eilte Pucki neben ihm her. Zu Plüschli konnte sie sprechen, wie es ihr ums Herz war. Alles durfte sie dem Tier klagen.

Zeichnung Kirchbach

»Es wäre schon besser, Plüschli, die Waldfrau käme, und ich dürfte mit Mucki und Pucki auf den dicken Baumästen tanzen. Ich würde auch die Leute im Walde nicht ärgern, ich würde ihnen zurufen, wo der richtige Weg ist und wo sie Holzstücke finden, die sie sammeln können.«

Während dieser Unterhaltung eilte Pucki immer tiefer in den Wald. Sie achtete längst nicht mehr des Weges. Sie fürchtete sich ja nicht, denn sie kannte den Wald. Er tat ihr kein Leid an.

Plötzlich ertönte von oben her das emsige Klopfen eines Spechtes. Er saß hoch oben auf einem Aststumpf. Sein Kopf ging blitzschnell auf und nieder. Durch unaufhörliches Pochen auf den dürren Ast veranlaßte er die Würmer, aus ihrem Versteck hervorzukriechen, um sie dann mit Behagen zu verspeisen.

»Du guter Specht, du kannst im Walde bleiben, ich aber muß nach Rotenburg. Dort gibt es keine Spechte, dort gibt es überhaupt keine Waldvögel, dort gibt es nur hohe Häuser und ein Gymnasium.«

Als sich Pucki wieder zu Plüschli wenden wollte, machte das Tier einige zierliche Sprünge und verschwand im Dickicht.

Jetzt erst kam es Hedi zum Bewußtsein, daß sie sich recht weit vom Forsthaus entfernt hatte. Da sie auch vom Wege abgewichen war, wußte sie nicht, wo sie sich befand. So ging sie mitten durchs Dickicht, bis sie einen Fußweg erreichte, auf dem sie rüstig ausschritt. Ihre Augen glitten umher. Wie schön war doch der Wald. Nun erwachte er bald aus seiner Winterruhe. Freilich, Schnee gab es längst nicht mehr, aber die Laubbäume hatten die grünen Blätterkleider noch nicht angelegt. Die Buchen zeigten noch immer ihre hellbraunen Blattknospen, nur hier und da waren schon kleine grüne Spitzen sichtbar, die das baldige Hervorbrechen der Blätter ankündeten. Auch unten, auf dem Waldboden, sah es noch nicht sommerlich aus; eine dicke grüne Moosdecke war zwischen den Baumstämmen. Doch nicht lange mehr, dann zeigten die kleinen Blaubeersträucher, die den Waldboden überall bedeckten, ihre hellgrünen Blättchen. Dann kamen gar bald die kleinen, hellroten Blüten, die wie winzige Kügelchen aussahen und aus denen dann die süßen Blaubeeren wurden. Das alles würde sie nicht mehr sehen!

»Wo bin ich eigentlich?« Pucki war stehengeblieben und drehte sich mehrmals um sich selbst. Der kleine Weg bog bald nach links, bald nach rechts ab. »Ja, wo bin ich nur?«

Der Vater hatte einmal davon erzählt, man könne sich im Walde nicht verlaufen, wenn man sich nach der Sonne richtete. Aber Sonnenschein war heute nicht. So blieb Pucki nichts anderes übrig, als auf dem Wege weiter zu gehen; er mußte doch irgendwohin führen. Es war Pucki längst bekannt, daß schmale Pfade stets auf einen breiten Weg führten. Wenn solch ein Weg erst erreicht war, würde sie sich schon zurechtfinden.

»Plüschli – Plüschli, wo bist du?«

»Kuckuck – kuckuck«, tönte es plötzlich aus einiger Entfernung.

Hedi Sandler blieb stehen. Daß der Kuckuck im April sein Rufen hören ließ, erschien dem Försterkinde höchst verwunderlich. Ja, wenn der Fink gesungen hätte, oder wenn der klagende Ruf eines Spechtes erklungen wäre, das hätte Hedi nicht in Erstaunen versetzt. Aber jetzt, um die Mitte des Monats April, einen Kuckuck im Walde zu hören, war eigentlich unmöglich. Der Vati hatte ihr einmal erzählt, daß der Kuckuck einer der letzten Vögel sei, die aus den warmen Ländern wieder zurückkehrten. Erst mußten doch die häßlichen, haarigen Raupen hervorgekommen sein, die der Kuckuck so gerne fraß. Wovon sollte das arme Tier denn sonst leben? Und die dicken Raupen waren noch nicht da, das wußte Pucki genau. Sie kamen erst zum Vorschein, wenn sie an den jungen Blättern Nahrung fanden.

Pucki stand und lauschte. Ob sich der Ruf des Kuckucks wiederholen würde? Und richtig, da klang es wieder durch den Wald: Kuckuck – Kuckuck! Wer jetzt schon viel näher als vorhin.

»Kuckuck, du schwindelst! Du bist doch gar nicht im Walde!«

»Bravo, bravo!«

»Oh, Claus! – Claus! Lieber, lieber Claus! Ach, Claus!«

Mit weit ausgebreiteten Armen lief das Kind auf die beiden Söhne des Oberförsters Gregor zu.

»Claus, nun muß ich bald fort!«

Claus Gregor, der angehende Mediziner, fing Pucki auf. Sie schmiegte sich zärtlich an ihn, und wieder erklang die Kinderstimme:

»Claus, ich muß fort von hier, ich muß nach Rotenburg! Fort aus meinem lieben Walde, fort von den Eltern, fort von allem, was lieb und schön ist.«

»Fein wird's, Pucki«, sagte Eberhard, der Primaner, »ich freue mich darauf, daß du nun auch zu Tante Grete kommst. Tante Grete freut sich auch auf dich. Das wird eine lustige Zeit werden! Wirst mal sehen, was wir für Spaß zusammen haben.«

Doch Pucki achtete nicht auf Eberhards Worte. Sie blickte mit bittenden Augen Claus Gregor an.

»Meinst du auch, daß ich aus dem Walde fort muß? Kannst du mir nicht helfen?«

»Liebe, kleine Pucki, Eberhard hat recht, es wird sehr schön werden! – Warum ängstigst du dich, Pucki? Du kannst doch in allen Ferien heimkommen. Und wenn die Sehnsucht einmal besonders groß ist, bringt dich Eberhard am Sonntag nach Birkenhain. Du wirst in Rotenburg viel Neues hören und sehen.«

»Ich mag nichts Neues sehen«, erwiderte das Kind. Daß auch der große Claus zu ihrem Aufenthalt in Rotenburg riet, machte Pucki das Herz sehr schwer.

»Warum hast du keine Lust, kleine Pucki? Du bist doch sonst ein fröhliches Mädchen und bist eben wieder allein tief in den Wald gelaufen, bis fast zur Oberförsterei. Mach dir das Herz nicht gar so schwer, Tante Grete hat dich lieb, genau so lieb wie deine Mutti dich hat.«

»Ach nein«, sagte Pucki und schüttelte den Kopf, »nein, nicht genau so lieb wie meine Mutter!«

»Du kommst nach Rotenburg. Dort wirst du viel lernen und ein kluges Mädchen werden. Ich habe es gern, wenn kleine Mädchen viel lernen. – Willst du es mir zuliebe nicht versuchen, Pucki?«

Das Kind legte beide Hände aufs Herz.

»Sei ein tapferes Mädchen, Pucki! Du schreibst mir öfter, und ich freue mich dann, wenn du mir erzählst, daß es in Rotenburg nicht so schlimm ist, wie du jetzt denkst. Ich war auch dort, und es hat mir gut gefallen.«

Hedi ergriff die Hand des großen Claus und hielt sie fest.

»Ist dein Vater in der Nähe?« fragte Claus.

»Nein, ich bin mit Plüschli gelaufen, immer tiefer hinein in den Wald. Ich mußte noch einmal die Bäume sehen, denn nun ist bald Ostern, und dann ist der vierundzwanzigste April, da muß ich fort.«

»Der Vater bringt uns beide im Auto nach Rotenburg, Pucki«, sagte Eberhard vergnügt. »Das wird eine lustige Fahrt werden.«

Doch auch diese Aussicht konnte Puckis trauriges Gesicht nicht erhellen.

»Es ist schon spät«, sagte der große Claus, »wenn du heimgehen willst, wirst du gerade zum Abendessen ankommen. Wir beide bringen dich nach Hause.«

»Nur du«, flüsterte sie, »der Eberhard kann gehen.«

»Magst du mich nicht?« fragte der Primaner, der die leise gesprochenen Worte des Kindes doch gehört hatte.

Claus fühlte sehr wohl, daß Pucki ihm etwas anvertrauen wollte. So machte er dem Bruder ein Zeichen, daß er sich verabschieden möge.

»Also auf Wiedersehen am Ostersonnabend bei uns. Der Osterhase hat viele Eier für dich gelegt, die mußt du suchen«, sagte Eberhard.

»Komm, Claus!«

Nun schritten die beiden die breite Straße dahin, dem Forsthaus Birkenhain zu. Noch immer hielt Pucki die Hand des großen Freundes fest.

»Muß ich immer in Rotenburg bleiben, auch wenn ich es dort nicht aushalten kann?«

»Du kommst zu den Ferien zurück ins Elternhaus, Pucki. Ich kann mir wohl denken, daß dir der neue Aufenthalt anfangs nicht gefallen wird. Doch dann mußt du deine blauen Augen weit aufmachen, dir all das Neue, was Rotenburg zu bieten hat, gut ansehen und dich daran erfreuen. Auch mußt du gleich von Anfang an in der Schule gut aufpassen, sonst wird es dir später schwer, mit den anderen Kindern mitzukommen. Auf diese Weise vergißt du am schnellsten die Schule in Rahnsburg.«

»Ich vergesse das alles nie!«

»Dann mußt du auch daran denken, daß deine Eltern aus Liebe zu dir dieses Opfer bringen, denn sie wollen ein kluges Mädchen aus dir machen. Deinen Eltern wird es nicht leicht, das viele Geld für dich auszugeben und sich von dir zu trennen. Deine Mutti hat große Sorgen, weil du schon jetzt so traurig bist. Auch ihr tut das Herz weh, wenn sie dich nicht mehr bei sich hat.«

»Dann soll sie mich doch hierbleiben lassen.«

»Kleine Pucki, das verstehst du heute noch nicht. Später wirst du deinen Eltern sehr dankbar sein, daß sie dir den Besuch der höheren Schule ermöglichten. Du wirst das schon in wenigen Jahren einsehen. Mir ist es anfangs auch schwer geworden, von zu Hause fort zu müssen. Ich habe oftmals große Sehnsucht gehabt.«

»Was haste denn da gemacht?«

»Erst habe ich mächtig geheult, und dann habe ich mich geschämt, daß ich so ein schlapper Junge bin. Dann habe ich mir fest vorgenommen, tapfer zu sein, habe tüchtig gelernt, und wenn es nicht recht gehen wollte, habe ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt: ›Willenskraft Wege schafft!‹ Dann habe ich neuen Mut bekommen, habe mir ein Buch vorgenommen, emsig darin gelesen, und so verging die schlimme Zeit. Gar bald habe ich eingesehen, daß es sehr töricht von mir war, mich über die Trennung aus dem Elternhause zu beklagen.«

»Erst hast du geheult«, sagte Pucki nachdenklich, »dann haste mit der Faust auf den Tisch geschlagen? – Nützt das was, großer Claus?«

»Natürlich nützt es, wenn man sich dabei sagt: Ich will tapfer sein, ich will weiterkommen, ich will auch nicht länger weinen! Dann schlägt man noch einmal mit der Faust auf den Tisch, und schon wird man wieder froh.«

»Wenn's nur nützt.«

»Ja, es nützt! Versuche es nur, und dabei denkst du an den großen Claus, dem das Mittel auch geholfen hat. Eine Woche ist so schnell vorüber! Der Vater wird dich öfter mit dem Wagen heimholen, und außerdem sind die großen Ferien nicht weit. Wenn du dann nach Hause kommst, erscheint dir alles noch viel schöner als bisher. Dann weiß man erst, wie herrlich es ist, ein Elternhaus zu haben.«

Gedankenvoll schritt Pucki an der Seite des Freundes dahin. Claus erzählte ihr ausführlich aus seinem Leben.

»Ich will an dich denken«, sagte Pucki mit einem schweren Seufzer.

Im Forsthause atmeten alle erleichtert auf, als Pucki in Begleitung des Studenten ankam.

»Ich habe den Bäumen Lebewohl gesagt«, erklärte das Kind. Weder Förster Sandler noch seine Frau machten heute der Tochter für ihr langes Fortbleiben einen Vorwurf. –

Am Ostersonnabend war Pucki in der Oberförsterei. Onkel Gregor hatte gar schöne Ostereier besorgt und für Pucki und Waltraut im Garten versteckt. Wohl freute sich Pucki, wenn sie ein buntes Ei fand, aber die Freude hielt nicht lange vor.

»Das alles schenkst du mir nur, Onkel Oberförster, damit ich einen Trost habe. Immerfort kommt einer und schenkt mir was. Als ich mal beim Zahnarzt war, hat mir Mutti auch den Baukasten geschenkt. Ich glaube, das ist immer so, wenn man Schmerzen hat.«

»Na, na, Kind, paß auf, in Rotenburg gefällt es dir ganz gut.«

»Ach nein«, meinte Pucki, »ich weiß schon – –« Pucki hielt plötzlich im Weiterreden inne und schlug mit der kleinen Faust derb auf den Tisch.

»Was ist denn los?«

»Es ist schon gut, Onkel Oberförster, jetzt werde ich weiter Eier suchen.«

Während des Kaffeetrinkens, als Pucki das erste Stück von der wunderschönen Torte gegessen hatte, knallte wieder die kleine Faust auf den Tisch. Da begann Claus herzlich zu lachen und sagte fröhlich:

»So ist es recht, Pucki, du wirst es schon machen!«

Die Faust fiel am heutigen Nachmittag noch einige Male auf den Tisch, aber als es ans Abschiednehmen kam, drückte Pucki ihr Gesicht an die Brust der Oberförsterin.

»Tante, liebe Tante«, schluchzte sie unter hervorbrechenden Tränen, »nun komme ich nicht wieder.«

»Natürlich kommst du wieder, mein liebes Kind. Im Mai holt dich der Onkel Oberförster.«

Die Tränen tropften unaufhörlich aus den blauen Kinderaugen. »Ich komme nicht wieder, ich komme nicht wieder!«

Claus strich dem Kinde über das Haar. »Puckilein, nimm die Faust«, sagte er.

Aber Pucki schien sich von der Oberförsterin nicht trennen zu wollen, bis schließlich Onkel Gregor mit lauter Stimme rief:

»Pucki, das Auto schimpft schon, daß es heute gar so lange warten muß! Nun aber los!«

Claus begleitete die beiden Kinder zurück zur Försterei. Waltraut jubelte über ihre vielen bunten Eier, Pucki hatte heute keinen Blick für diese Schätze.

»Am dritten Feiertag komme ich nach der Försterei, mein Kind.«

»Ach ja, du mußt kommen!«

Waltraut erzählte vergnügt von dem schönen Nachmittag, aber Puckis verweintes Gesicht zeigte den Eltern deutlich, wie schwer ihr der Abschied von den Oberförsters geworden war. Und wieder dachte Frau Sandler sorgenvoll an den vierundzwanzigsten April, an den Reisetag.

Am ersten Osterfeiertag gab es auch im Forsthause Ostereier. Pucki bekam sogar noch eine neue Schulmappe. Dabei verzog sich ihr Gesicht schmerzlich; sie lief rasch in die Küche und schlug mit beiden Fäusten auf den Küchentisch.

»Was machst du denn, Pucki?« sagte Minna.

»Ich tröste mich.«

Minna schüttelte nur den Kopf dazu.

Am zweiten Osterfeiertag kamen die Freundinnen. Wieder wurden die Kinder mit Waffeln reichlich bewirtet. Frau Sandler veranstaltete allerlei heitere Spiele; sie wollte, daß es heute recht fröhlich zuging. Es gelang ihr auch wirklich, ihr Töchterchen fröhlich zu stimmen. Pucki lachte mehrmals lustig auf, wenn beim Topfschlagen der Topf in Scherben ging oder wenn beim Pfänderauslösen etwas Drolliges verlangt wurde. Als sich aber die ersten Kinder zum Fortgehen rüsteten, als sie an Pucki herantraten, um ihr Lebewohl zu sagen, brach der Schmerz des Kindes erneut hervor. Besonders als Thusnelda beide Arme um Puckis Schultern legte und auch zu weinen anfing, schluchzte Pucki:

»Ach, ich bin so traurig!«

»Komm recht bald wieder, Pucki.«

»Ich darf doch nicht fortlaufen, ich soll den Kopf hochnehmen und durchhalten!«

Schließlich mußte Frau Sandler die beiden Freundinnen mit freundlichen Worten trennen.

»Ihr kleinen Schäfchen, ihr habt euch doch auch in den Ferien längere Zeit nicht gesehen. Es dauert ja nicht lange, bis Pucki wieder hier ist. Seid nicht so töricht!«

»Ich habe dich immer lieb«, sagte Pucki schluchzend.

»Und ich habe dich noch viel lieber.«

Pucki stand am Gartenzaun und winkte den Fortgehenden nach. Als sie endlich das Taschentuch sinken ließ, zerrte jemand daran. Das war Harras, der treue Jagdhund, den Pucki heute gar so wenig beachtet hatte. Nun kniete das Kind neben dem Tier nieder und legte das Köpfchen auf sein Fell.

»Harras, wirst du mich nicht vergessen?«

Der Hund leckte die Kinderhände. – –

Tags darauf kam Claus ins Forsthaus. Er brachte Pucki ein hübsches Buch mit vielen bunten Abbildungen von Vögeln und Blumen.

»In diesem Buch sollst du lesen, Pucki; da wirst du alle deine Freunde wiederfinden. Schau her, hier hast du den Specht, hier das niedliche Rotkehlchen, das abends gar so süß singt, und hier siehst du den Eichelhäher, der so häßlich schreit und den kleinen Waldvöglein so gern die Eier aus den Nestern nimmt. Hier sind die flinken Meisen mit ihren schwarzen Köpfchen und da der Kuckuck, der dreiste Bursche, der seine eigenen Eier in fremde Nester legt, um sie ausbrüten zu lassen.«

»Oh, das ist aber ein schönes Buch«, sagte Pucki.

»Du mußt alles lesen, was darin geschrieben steht, und wenn du dann wieder in den Wald kommst, sagst du allen deinen gefiederten kleinen Freunden guten Tag. Sie begleiten dich in diesem Buch. Dann wird alle Traurigkeit vorübergehen.«

Mit dem schönen Buch hatte Claus das Rechte getroffen. Am liebsten hätte Pucki gleich jetzt darin gelesen. Aber Claus meinte, das sei ein Buch für Rotenburg.

Als er sich verabschiedete, machte er einige lustige Scherze. Er wollte nicht, daß Pucki wieder traurig würde.

»Paß nur gut auf den Eberhard auf, Pucki, der kleine Claus macht manchmal Dummheiten. Dann schreibst du mir, ob er fleißig lernt, ob er auch manchmal nachsitzen muß. Ich schreibe dir auch. Wenn du nach Rotenburg kommst, findest du einen Brief von mir vor.«

Noch einmal drückte er das Kind fest an sich, gab ihm einen herzlichen Kuß auf die Stirn und war sehr schnell verschwunden.

Pucki preßte beide Fäuste fest an die Augen. Sie wollte nicht weinen. Claus hatte gemeint, es sei schlapp und häßlich, wenn man immerfort Tränen hätte. Oh, sie wollte tapfer sein! Er würde ihr nach Rotenburg schreiben und hatte ihr das schöne Buch geschenkt. Und Tante Grete war doch so gut. Sie hatte schöne Ostereier bekommen, hatte einen großen Beutel herrlicher Backbirnen von der Schmanzbäuerin erhalten, und Minna wollte noch einmal Waffeln backen. Jeder schenkte ihr etwas. Es war gewiß sehr undankbar, wenn sie noch traurig wäre.

Sie eilte ins Wohnzimmer und trommelte mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. –

Der gefürchtete vierundzwanzigste April kam heran. Pucki versuchte zwar tapfer zu sein, doch das blasse Gesicht verzog sich immer öfter. Der Koffer stand fertig gepackt im Nebenzimmer; Harras saß wie ein treuer Wächter daneben. Er hatte jedes Stück, das hineingelegt wurde, beschnuppert. Auch er hatte heute trübe Augen; er schien zu wissen, daß seine kleine Freundin das Elternhaus verlassen mußte. Und nun kam auch noch der Kater Peter durchs Fenster gesprungen und setzte sich auf den Koffer.

»Dich darf ich auch nicht mitnehmen«, sagte Pucki leise, »ihr habt es gut, ihr könnt hierbleiben.«

Das Mittagessen schmeckte dem Kinde nicht, obwohl Frau Sandler heute Puckis Leibgericht gekocht hatte. Man sprach kein Wort vom Abschied. Der Vater erzählte lustige Dinge, doch war auch er traurig gestimmt, wenn er sein blasses Töchterchen ansah.

Es war verabredet worden, daß das Auto des Oberförsters gegen zwei Uhr bei der Försterei vorfuhr, um Frau Sandler und Pucki abzuholen. Oberförster Gregor hatte sich selbst erboten, Mutter und Kind nach Rotenburg zu bringen, zumal er auch Eberhard dort absetzen mußte. Wie hätte sich Pucki sonst auf diese Fahrt gefreut, doch heute gingen die blauen Kinderaugen angstvoll zum Fenster. Sie spähte heraus, ob der Wagen wohl schon da sei.

Das Mittagessen war beendet. »Wir müssen uns nun fertigmachen, mein liebes Kind, denn gleich wird der Herr Oberförster hier sein.«

Da stürmte Pucki aus dem Zimmer und lief durch den Garten und umarmte bald diesen, bald jenen Baum. Sie lief zu den Ziegen, nahm den Kater auf den Arm, streichelte ihn zärtlich und kniete dann vor Harras nieder, um auch von ihm Abschied zu nehmen.

»Harras, mein lieber, lieber Harras, jetzt muß ich fort!«

Da waren im Garten die herrlichen roten Tulpen in voller Blüte, die blauen und gelben Krokus standen in dicken Reihen auf den Beeten, Primeln und Himmelschlüssel begrenzten die Wege. Alles das schaute Pucki mit heißen Augen an, galt es doch heute, Abschied von ihnen zu nehmen. Oben in den Bäumen sangen die Vögel, es schien fast, als gälte heute ihr ganz allein dieser Gesang. Plötzlich kam ihr das Lied in den Sinn, das sie vor wenigen Monaten in der Schule gelernt hatte:

»Nun ade, du mein lieb' Heimatland,
lieb' Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
lieb' Heimatland, ade!«

Dort drüben war der liebe, liebe Wald!

»Leb wohl, du schöner, grüner Wald, lebt wohl, alle, alle; ich muß ja fort!«

Pucki wischte die Tränen mit dem Taschentuch ab. Sie wollte doch nicht weinen. Gleich würde der gute Onkel Oberförster kommen, und auch die Mutti war so traurig, wenn sie weinte. Da kam Waltraut gelaufen, an der Hand die zweijährige Agnes.

»Hier hast du Schokolade.«

»Auch von mir Nukolade!« piepste Agnes.

Pucki umarmte die beiden Schwestern. Noch niemals glaubte sie die beiden so lieb zu haben wie jetzt. Dann schrak sie heftig zusammen. Das war die Hupe des Autos von Onkel Gregor.

Der Wagen hielt am Forsthaus.

Hedi fühlte ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen. Sie lief zurück ins Haus und klammerte sich an den Vater.

»Er kommt!«

»Hedi, mein Liebling! Mach uns doch das Herz nicht so schwer. Sei mein tapferes Mädchen. Frau Perler wird dich sehr liebhaben, es wird dir bei ihr gefallen. Mutti ist schon sehr traurig, wenn sie dich so weinen sieht. Denk doch auch ein wenig an deine gute Mutti. Du bereitest ihr Kummer!«

Langsam löste sich das Kind aus den Armen des Vaters. Hedi duldete es auch, daß ihr der Vater in den Mantel half und das rote Käppchen aufsetzte.

»Bald bist du wieder hier. Sonntag in acht Tagen kommst du zu Besuch, das ist ja gar nicht lange, mein Liebling. Und nun sei tapfer.«

Pucki sagte nichts mehr. Stumm begrüßte sie den Oberförster und Eberhard, und ebenso schweigsam nahm sie vorn neben Onkel Gregor Platz. Sonst saß sie so gern neben dem Steuerrad, doch heute hatte sie kaum einen Blick dafür.

»Nun erst mal tüchtig hupen, mein Kind«, sagte der Oberförster, »dann fahren wir los.«

Aber Pucki hupte heute nicht. Ihre Augen waren starr auf das Haus und den Garten gerichtet. Mechanisch winkte sie dem Vater und Minna zu, die an der Gartentür standen. Und da war auch Harras, der neben dem Vater stand.

»Heute mußt du mir beim Fahren helfen, Pucki«, sagte der Oberförster, um das Kind auf andere Gedanken zu bringen. »Die Finger, die sonst die Hupe drücken, wollen heute bei mir nicht. Das mußt du mir abnehmen. Jedesmal, wenn eine Wegkreuzung kommt, hupst du. – Also recht gut aufpassen, mein kleines Mädchen. Du sollst heute zeigen, daß du was vom Autofahren verstehst.«

Die Bäume flogen nur so vorüber. Hier und da flatterte ein Vogel erschreckt auf. Alles das sah Pucki. Dort war der weiße Stein, an dem einst der Sack mit dem Heu für das Stuhlkissen gestanden hatte. Und dort ging es ab zum Niepelschen Gutshause. Am zweiten Feiertage hatte sie die Drillinge zum letzten Male gesehen. Dort weit drüben lag die Schmanz – –

Es ging immer rascher. Eberhard sagte zu Pucki einige liebe Worte, aber sie achtete kaum darauf. Erst als man den Wald verließ, wandte sich das Kind um.

Dann führte der Weg durch Felder, durch Dörfer. Hin und wieder drückte Pucki auf die Hupe, doch auch das geschah heute ohne Freude.

Endlich kam Rotenburg in Sicht. Und dann hielt der Wagen. Pucki erkannte das Haus sogleich wieder, in dem Frau Perler, die verwitwete Schwester des Oberförsters Gregor, wohnte. Damals, als sie hier gewesen war, hatte das kleine Herz gar freudig gepocht.

»Sei mir herzlich willkommen, kleine Pucki.« Eine schwarzgekleidete große Dame sprach diese freundlichen Worte. Hedi wußte, das war Tante Grete, die Schwester des guten Oberförsters. Antworten konnte sie nicht. Sie eilte zur Mutter und umklammerte deren Hand.

Es gab Torte, Waffeln und Pfannkuchen. Pucki aß nur wenig. Ihre Augen verfolgten jede Bewegung der Mutter. Bald würde auch sie aufstehen und fortgehen.

Und dann schlug auch diese Abschiedsstunde.

»Mutti – Mutti – Mutti – –«

Mehr vermochte das Kind nicht zu sagen, aber es weinte nicht, es blieb tapfer. Mit schwerem Herzen schied Frau Sandler aus Rotenburg.

Eberhard wollte noch gegen sechs Uhr einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen, doch Hedi mochte nicht mitgehen.

»Ich helfe auspacken«, sagte sie, »Mutti hat mir gesagt, ich soll alle Sachen schön in den Schrank hängen.«

Als Frau Perler eine Viertelstunde später in das helle und freundliche Zimmer trat, das Pucki mit einer anderen Pensionärin teilen sollte, fand sie ihr Pflegetöchterchen im Sessel sitzend, ein Buch auf den Knien.

»Du lieber, lieber Fink, in Birkenhain hast du so schön gesungen«, sagte Pucki, »jetzt kann ich dich nicht mehr hören.«


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