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Pucki in der Sexta

Bei Tante Grete fand sich am nächsten Tage Puckis Mitschülerin, die schwarzhaarige Carmen Gumpert, ein, die mit ihr das Zimmer teilen sollte. Sehr mißtrauisch betrachtete das Försterkind die neue Freundin. So ein schwarzhaariges Mädchen hatte Pucki noch nie gesehen. Die großen Augen waren tiefdunkel. Ihre Haut war auch nicht so weiß, wie es Pucki bei den Rahnsburger Kindern gewohnt war. Sie sahen, obwohl sie von der Sonne stark verbrannt waren, doch anders aus.

»Oh, du siehst so komisch aus«, sagte Pucki, nachdem sie Carmen eine ganze Zeitlang betrachtet hatte.

»Ich hoffe, du wirst mit Carmen bald gut Freund sein«, sagte Tante Grete freundlich. »Carmens Mutter stammt aus einem fernen Lande, aus Spanien, und von ihr hat Carmen das schwarze Haar bekommen. Sei recht lieb zu ihr, denn sie ist ein gar gutes, sanftes Mädchen.«

»Warst du auch zu Hause?« fragte Pucki.

»Nein«, sagte Carmen, »ich war bei Ellen Krieger zu Besuch. Ich kann nicht nach Hause fahren, denn mein Vater ist auf einem großen Schiff, und meine Mutter ist seit drei Jahren tot.«

»Du kannst nicht nach Hause? Ich möchte immerfort nach Hause. Ich fahre sehr bald wieder zu den Eltern, denn ich wohne in der Försterei Birkenhain. Wenn man mit einem Auto fährt, ist man in zwei Stunden dort.«

»Mein Vater ist Arzt und muß auf einem Schiff fahren, um dort kranke Leute gesund zu machen. Jetzt fährt er bis nach einem fremden Erdteil. Wenn er schreibt, schickt er gar schöne Bilder mit, die will ich dir einmal zeigen. Wo mein Vater hinfährt, ist alles ganz anders als hier. Auch die Menschen haben dort andere Gesichter.«

Für Pucki war das alles neu. Zunächst faßte sie kein Vertrauen zu Carmen. Sie ging lieber zu Eberhard Gregor und fragte ihn, ob er wisse, daß Carmen keine Mutter mehr hätte.

»Ja, das weiß ich; Carmen ist schon ein Jahr bei Tante Grete. Die kleine Carmen kann uns sehr leid tun. Dem Vater ist es unmöglich, seine Tochter auf seinen weiten Reisen mitzunehmen; er ist ein Schiffsarzt und fährt in alle Erdteile. Carmens Mutter ist tot. So hat das arme Mädchen kein Elternhaus.«

»Schrecklich ist das!«

»Ja, Pucki, darum darfst du auch nicht traurig sein. Sei zufrieden, daß du in allen Ferien ins Elternhaus fahren kannst und noch eine Heimat hast.«

»Ach, Eberhard«, sagte Pucki mit traurigen Augen, »ich möchte aber wieder heim – hier gefällt es mir nicht.«

»Na, warte mal, heute abend kommt unser lustiger Hans Rogaten.«

»Hier ins Haus? Auch zu Tante Grete?«

»Ja.«

»O je, wie viele kommen denn noch?«

»Weiter kommt dann keiner. Wir sind zwei Mädchen und zwei große Jungen.«

»Ist der Hans Rogaten auch schon ein großer Junge?«

»Er ist siebzehn Jahre alt und einen Kopf größer als ich.«

»Wo ist er jetzt?«

»Auf Ferien, aber er ist auch nicht zu den Eltern gefahren, sondern er hat einen Freund besucht. Sein Vater ist auch auf Reisen.«

»Auch auf einem Schiff?«

»Nein, sein Vater malt schöne Bilder. Er reist in die verschiedensten Länder, um sich die Landschaft anzusehen, und wenn er ein recht schönes Stück Erde findet, malt er es auf die Leinwand.«

»Dann sage dem Vater vom Hans Rogaten, er soll mal nach Birkenhain kommen. Das ist das allerschönste Haus, das es gibt. Und unser Wald mit den vielen Vögeln und den Tieren! – Den Harras muß er dann auch malen, so einen schönen Hund hat er überhaupt noch nicht gesehen. Und das Plüschli und – – Wann kommt denn der Hans Rogaten?«

»Heute abend, denn morgen beginnt ja wieder die Schule.«

»Ach, die Schule!« jammerte Pucki.

»Aber Pucki«, tadelte Eberhard, »du solltest dich darauf freuen, daß du von morgen an Sextanerin des Schiller-Gymnasiums von Rotenburg bist.«

»Ich möchte gar nicht Sextanerin des Schiller-Gymnasiums sein, ich wäre viel lieber in Rahnsburg geblieben.«

»Du wirst staunen, wenn du das neue Schulgebäude siehst. Es ist ein großes weißes Haus, viel höher als eure Schule in Rahnsburg.«

»Muß sie ja auch«, sagte Pucki geringschätzig.

»Tante Grete bringt dich morgen hin. Du hättest dir heute die Stadt ein wenig ansehen sollen, aber du wolltest ja nicht mit mir gehen.«

»Nein«, sagte das Kind, »ich will die höhere Schule heute nicht sehen. Morgen muß ich ja doch hin.«

»Wir haben auch einen großen Schulhof, auf dem stehen allerlei Turngeräte, außerdem haben wir noch eine schöne Turnhalle. Das wird dir Spaß machen. Du kannst doch vorzüglich klettern. Unser Turnlehrer, Herr Brehm, wird mit dir zufrieden sein. Und später wirst du einmal Vorturnerin.«

»Ich will nicht Vorturnerin sein, ich möchte lieber auf den Bäumen in unserem Garten herumklettern. Das Turnen in der höheren Schule macht mir keinen Spaß.«

»Es wird dir Spaß machen, wenn du siehst, wie schön alles eingerichtet ist. Und dann bekommst du Unterricht bei dem sehr netten Studienrat Altmann. Das ist ein prächtiger Herr, den alle Kinder sehr gern haben.«

»Ich habe ihn nicht gern, den Herrn Altmann.«

»Du kennst ihn ja noch gar nicht, Pucki. Nun sei vernünftig, du kleiner Dickkopf! Wir machen mit der Schule sehr hübsche Ausflüge, du wirst manches sehen, was du bisher noch nicht gesehen hast. Außerdem feiert das Schiller-Gymnasium im Herbst dieses Jahres sein hundertjähriges Bestehen. Das wird eine großartige Feier mit Aufführungen.«

»Hundert Jahre ist die höhere Schule schon alt?«

»Ja, Pucki.«

»Dann mag ich erst recht nicht hin. So ein altes Haus gefällt mir nicht. In Rahnsburg gibt es auch so ein altes Haus, das ist schon ganz kaputt, weil es auch schon hundert Jahre alt ist. Die Schule in Rahnsburg war viel schöner.«

»Laß das Tante Grete nicht hören. Der Claus würde dich sehr ausschelten, wenn er dich so reden hörte. – Er hat dir doch geraten: Immer tapfer sein!«

»Ich bin aber nicht tapfer.« Pucki verzog weinerlich das Gesicht.

»Komm, wir gehen hinüber ins Wohnzimmer, es wird gleich Kaffee geben. Dann freundest du dich mit Carmen ein bißchen an.«

Dem nächsten Tage sah Pucki mit Beklemmung entgegen. Eberhard und Hans Rogaten, ein langaufgeschossener Junge, waren schon früh vor acht Uhr nach der Schule gegangen. Pucki hatte gehört, wie beide im Flur die Mäntel anzogen. Sie und Carmen brauchten erst eine Stunde später zu gehen. Obwohl ihr Carmen immer wieder Mut zusprach, empfand Pucki doch ein großes Bangen. Ganz deutlich stand ihr noch der erste Schultag in Rahnsburg vor Augen. Damals war sie von der Mutter nach der Schule gebracht worden. Fräulein Caspari nahm die Kinder in Empfang. Man hatte Stäbchen gelegt, konnte Figuren auf die Tafel zeichnen, und nach Schluß des Unterrichtes hatte sie eine große Tüte bekommen. Hier auf der höheren Schule war alles anders.

»Eine Sextanerin bekommt keine Schultüte mehr«, sagte Carmen, »du bist jetzt eine Gymnasiastin und keine Vorschülerin mehr.«

»Seid ihr fertig?« fragte Tante Grete, die zum Ausgehen angekleidet in der Tür stand, um Pucki und Carmen nach dem Schiller-Gymnasium zu bringen.

Pucki begann emsig in ihren Schulsachen zu kramen.

»Beeile dich, Pucki, wir dürfen uns nicht verspäten. Als Gymnasiastin mußt du pünktlich sein.«

Pucki rümpfte die Nase und kramte weiter.

»Schiebe die Kommode zu, Pucki, wir müssen fort.«

Dann holte Pucki sehr umständlich ihren Mantel. Schließlich half ihr Carmen beim Anziehen.

»Du, es wäre sehr schlimm, wenn wir gleich am ersten Schultage zu spät kämen.«

Pucki dachte zwar, es sei gar nicht schlimm, sie sagte jedoch nichts. Stumm schritt sie neben Tante Grete und Carmen durch die Straßen. Während sonst ihre Augen neugierig über alles hingingen, was ihr fremd war, zeigte sie heute keinerlei Interesse für die Umgebung.

Tante Grete sagte nichts dazu; sie wußte, daß Pucki sehr bald anders denken würde.

Nach kurzer Wanderung war das Gymnasium erreicht. Es war ein schöner weißer Bau, zu dem Pucki neugierig hinaufschaute. Und als man nun gar in das Innere des Hauses trat, als Hedi Sandler die langen, hallenden Korridore sah, als sie das laute Lärmen der Kinder hörte, die bald hinter dieser, bald hinter jener Tür verschwanden, da war schnell jede Unlust verflogen.

Tante Grete nahm Carmen und Pucki an die Hand und öffnete eine Tür, an der ein Schild hing, auf dem das Wort »Sexta« stand.

Der Lärm im Schulzimmer verstummte, als die beiden Mädchen eintraten. Aller Augen richteten sich neugierig auf die neue Schülerin. Allerlei Fragen wurden gestellt, die Pucki eifrig beantwortete. Das große, helle Zimmer gefiel dem Kinde recht gut, und vor allem interessierte sie die große Tafel, die man nach Belieben hinauf- und herunterziehen konnte.

Der Unterricht begann. Die erste Stunde wurde von einer Lehrerin gegeben, die die Kinder nach ihren Namen fragte. Pucki erinnerte sich, daß das alles so ähnlich war wie in Rahnsburg. Auch die Lehrerin gefiel ihr recht gut. Sie hatte ein freundliches Gesicht und lachte mitunter herzlich. So verging die erste Stunde recht schnell.

Dann kam Studienrat Altmann, von dem Eberhard gesagt hatte, er sei ein sehr netter Herr, den alle Kinder gern hätten.

»Du bist also unser Puck aus Birkenhain? Von dir habe ich schon gehört.«

»Ich bin nicht der Puck, ich bin doch die Pucki.«

»Manchmal auch ein Puck, denke nur an das Boxen.«

Pucki wurde rot. Woher wußte der fremde Herr, daß sie sich mit Paul Niepel in der Scheune geboxt hatte?

»Den guten Onkel Oberförster kenne ich sehr gut, ich bin auch schon oftmals in eurem Walde gewesen. Es ist schön bei euch, aber auch bei uns in Rotenburg ist es schön.«

»Sind Sie auch in der Försterei Birkenhain gewesen?«

»Vorübergefahren bin ich dort schon, als ich bei deinem Onkel Oberförster zu Besuch war. Er hatte mich zur Jagd eingeladen.«

Der Studienrat Altmann gefiel Pucki sofort recht gut, seit sie wußte, daß er den Oberförster Gregor kannte und den Wald lobte, den sie so lieb hatte.

Im Laufe der Stunde sah sich Pucki ihre Mitschüler und Mitschülerinnen etwas genauer an. Hier saßen Knaben und Mädchen bunt durcheinander, genau so wie in Rahnsburg. Während des Unterrichts stieß Pucki ihre neue Freundin Carmen in die Seite, die neben ihr saß.

»Wo ist denn das kleine Mädchen, bei dem du zu Ostern gewesen bist?«

»Still Pucki, wir dürfen während des Unterrichts nicht sprechen.«

»Ich möchte nur wissen, wer das Mädchen ist.«

Schweigend wies Carmen auf eine pausbäckige Kameradin, die schräg vor Pucki saß.

»Wie heißt sie denn?« klang es wieder.

»Sei doch still.«

»Ich möchte nur rasch ihren Namen wissen.«

»Ellen Krieger«, flüsterte Carmen unruhig. »Aber nun sei endlich still.«

Nachdem die Stunde vorüber war und Studienrat Altmann das Klassenzimmer verlassen hatte, mußte Pucki sich erst einmal die Tafel genauer ansehen. Ihre unnützen Finger machten sich an den Schnüren zu schaffen. Einer der Knaben, der in der vordersten Reihe saß und in der Sexta sitzengeblieben war, kam herbei.

»Paß mal auf, die Tafel kann man immerfort 'rauf und 'runter schieben. Au, das macht Spaß! Einmal ist sie uns schon 'runtergefallen.«

»Mach doch mal!«

Der übermütige Knabe zog die hängende Tafel auf und nieder. Das Vergnügen wurde aber sehr bald durch das Eintreten des Direktors unterbrochen. Er begrüßte die Kinder in herzlicher Weise und hatte für jeden neueingetretenen Schüler ein gütiges Wort.

Pucki schaute aufmerksam in sein Gesicht. Der Onkel Oberförster besaß auch einen kleinen Bart, doch der Direktor hatte seinen weißen Bart ganz spitz zugeschnitten. Wenn er sprach, dann wackelte der weiße Bart gar lustig hin und her. Pucki gab brav auf alle Fragen Antwort. Man hatte ihr gesagt, daß der Herr Direktor ein strenger Mann sei, der die Kinder einsperren durfte, wenn sie dumme Streiche machten. Dieser Direktor war also viel strenger als der Rektor in Rahnsburg, vor dem Pucki auch bedeutende Hochachtung gehabt hatte.

Noch während der Direktor im Klassenzimmer weilte, kam ein anderer Lehrer herein. Er war lang und sehr dünn, beinahe ebenso lang wie Hans Rogaten. Pucki stellte fest, daß die Ärmel seiner Jacke ein wenig zu kurz waren. Sehr bald erfuhr sie, daß dieser neue Lehrer Doktor Buschkamp sei, von dem die Sexta in Deutsch unterrichtet wurde. Sie begriff nicht recht, warum ein Doktor in die Schule kam, denn ein Doktor hatte doch nur mit Kranken zu tun. Leise fragte sie Carmen, aber die legte nur den Finger an den Mund und erwiderte nichts.

Endlich war auch diese Stunde vorbei, und für heute war die Schule aus. Pucki ging durch den langen Korridor. Sie ging nicht auf dem Läufer, sondern daneben. Es knallte so schön, wenn sie kräftig auf die Steinfliesen trat. Soviel Krach war in der Schule von Rahnsburg nicht gewesen wie hier. Sie lief rasch noch einmal den langen Flur zurück und lachte.

»Au, das macht Spaß!«

Als sie in den Hof hinauskam, war gerade Pause. Pucki stand auf der breiten Treppe, die hinab in den Schulhof führte, und staunte über die vielen Schüler und Schülerinnen, die hier zusammen waren. Vor allem konnte sie es nicht fassen, daß ganz große Jungen noch immer in die Schule gingen und lernten.

»Pucki!« Eberhard Gregor hatte sie gesehen und rief ihren Namen laut über den großen Schulhof.

Aber Pucki kam nicht. Es war ihr zu fremd zwischen all den unbekannten Kindern. Es war schon besser, nach Hause zu gehen.

»Halt, halt, Pucki!« Schon stand Eberhard an ihrer Seite und lachte sie verschmitzt an. »Komm, wir gehen noch ein wenig auf dem Schulhof spazieren.«

»Ach nein, ich möchte nicht.«

Aber Eberhard ließ sie nicht los. Pucki sah auch, daß andere ihrer Mitschüler von den Großen im Schulhof herumgeführt wurden.

»Na, Pucki, war's schön?«

»Es hat mir ganz gut gefallen«, meinte sie.

Pucki ahnte nicht, was man mit ihr vorhatte. Im Schiller-Gymnasium bestand der übermütige Brauch, den neu Eingetretenen am ersten Tage in der Schule die sogenannte Schillertaufe zu geben. Schon warteten die Obertertianer auf einem der Balkone auf die Vorüberkommenden. Sie hatten Becher in den Händen, die mit Wasser gefüllt waren, und während die ahnungslosen neuen Schüler mit einem großen Kameraden, der sich im letzten Augenblick rasch zurückzog, unter dem Balkon durchgingen, wurde von oben her ein Becher ausgeschüttet.

Nun kam auch Pucki an jene gefährliche Stelle. Eben wollte sie an Eberhard Gregor eine Frage richten, der einige Schritte zur Seite getreten war, da klatschte das Wasser auf sie herunter. Es platschte auf ihre blonden Haare, und als Pucki nun den Kopf hob, um nach dem Täter zu schauen, kam die zweite Ladung herab, mitten in ihr Gesicht.

Dröhnendes Gelächter erfolgte.

»Die Taufe ist vollzogen – du bist nun aufgenommen ins Schiller-Gymnasium!«

Pucki wollte böse auffahren, aber Eberhard kam rasch wieder zu ihr.

»Nicht schelten, Pucki, dazu muß man lachen. Das macht man hier mit allen Schülern. Wenn du den Spaß verkehrt auffaßt, mag dich keiner leiden. – So, nun lache mal tüchtig. Wenn du erst in der Obertertia bist, darfst du selber die Sextaner taufen.«

Da hielt es Pucki für richtig, auch herzlich zu lachen. Sie trocknete das nasse Gesicht rasch mit dem Kleiderärmel ab und freute sich nun, wie andere Sextanerinnen ebenfalls ahnungslos unter den Balkon geführt und gleichfalls getauft wurden. Pucki schrie jetzt am lautesten und klatschte vor Freude in die Hände.

»Au, das macht Spaß! Können wir nicht jeden Tag taufen?«

»Leider nein«, sagte Eberhard. »Du kannst dir aber denken, daß sich das ganze Gymnasium auf diesen ersten Schultag nach Ostern freut.«

Abermals gab es ein lautes Schreien. Wieder hatte man einen Wasserbecher über einer Sextanerin ausgeleert.

»Könnt ihr denn nicht einen Krug nehmen?« meinte Pucki. »In so einem Becher ist doch zu wenig drin.«

»Wo denkst du hin, das würde unser Direktor nicht erlauben.«

Zeichnung Kirchbach

»Erlaubt er das?«

»Ja, aber es darf immer nur ein harmloser Spaß bleiben. Schau mal dort hinüber, dort drüben am Fenster steht unser Klassenlehrer und paßt genau auf, daß keine Dummheiten gemacht werden.«

»Ich weiß was Feines«, sagte Pucki, »jetzt bringe ich auch eine Flasche mit Wasser in die Schule, dann gieße ich das Wasser über einen Jungen aus.«

»Ich glaube, dann gibt es gehörige Strafe. Laß das lieber bleiben.«

»Ich möchte doch auch taufen.«

»Erst wenn du in der Obertertia bist, kannst du es tun. Deine Mitschüler sind schon getauft.«

»Es hätte doch so viel Spaß gemacht. Ich glaube, ich versuche es doch.«

»Nein, Pucki, das läßt du sein. Du bist jetzt eine Sextanerin, und im Schiller-Gymnasium treibt man keine dummen Streiche in den Klassen. Sonst wird der Direktor auf dich böse. Es wäre doch häßlich, wenn er an deine Eltern schriebe, daß du ein unnützes Mädchen bist. – So, nun lauf, Carmen wartet bereits auf dich.«

»Ist Carmen auch getauft worden?«

»Im vorigen Jahr, Pucki.«

»O je, sie ist sitzengeblieben, ich weiß es.«

»Nein, Pucki, sie ist nicht sitzengeblieben. Carmen ist ein sehr fleißiges und gewissenhaftes Mädchen. Du weißt doch, daß sie kein Elternhaus hat. Sie ist, als die Mutter starb, bald in dieser, bald in jener Schule gewesen und konnte daher nicht so viel lernen wie du. Sie hat es immer viel schwerer gehabt als du. Außerdem ist Carmen mehrere Monate lang sehr krank gewesen. Der Arzt hat dann gewollt, daß sie Ostern nicht versetzt wird.« »Ja, ja, sie hat es schlimm.«

»Und nun lauf, Pucki! Daheim erzählen wir uns mehr.«

Pucki war mit dem Verlauf des ersten Schultages recht zufrieden. Ihre Lehrerin, Fräulein Papst, war sehr nett, und ebenfalls der Herr Studienrat Altmann, der den Onkel Oberförster kannte und ihren Wald liebte. Nun fühlte sie sich doch nicht mehr so einsam und verlassen.


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