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Wir haben wieder eine Mutti!

Der große Entschluß Bärbels, Dr. Kirschner zu heiraten, wurde in ganz Heidenau gewürdigt. Jeder wußte, daß die Witwe damit ein großes Opfer brachte, denn ihr erster Mann war und blieb für sie unvergessen. Tapfer hatte Frau Wendelin ihr Leben neu errichtet und ebenso tapfer legte sie sich eine neue schwere Bürde auf die Schultern.

Es kamen sehr viele, die ihr herzliche Worte sagten. Ein jeder, der in Bärbels Gesicht schaute, wußte aber auch, welch schwerer Kampf hinter ihr lag, daß ihr goldenes Herz und ihre Mütterlichkeit Sieger geblieben waren.

Gabriele Langen, Goldköpfchens beste Freundin, die seit vielen Jahren an einem Dresdener Krankenhaus als Röntgenschwester wirkte, drückte Bärbel die Hand.

»Du wirst so viel neues Glück spenden, Bärbel, daß sein goldener Schein auf dich zurückfällt. Andere zu beglücken ist höchstes Glück. Und wenn die Kleinsten den Namen Mutter stammeln, wenn sie hilfesuchend ihre Ärmchen ausstrecken und nach Liebe lechzen, wird ihr Ruf von dir gehört werden. In dein Herz, das heute noch aufgewühlt ist, wird der Frieden einziehen.«

»Es ist schwer, Gabriele, es ist furchtbar schwer für mich, die Frau eines anderen Mannes zu werden.«

»Die Mutter von fünf hilflosen Kindern! Daran sollst du denken, Bärbel. Trotz all deines Leides bist du glücklicher als viele andere. Sieh mich doch an, ich habe meinen Beruf sehr lieb, doch das letzte Glück wird er mir niemals geben. Mir war es nicht vergönnt, ein Kindchen auf den Armen zu wiegen. Keine rosige Lippe stammelt mir den Namen Mutter entgegen. So bleibt in meinem Herzen ewige Leere, die durch nichts ausgefüllt werden kann.«

»Ich weiß es, Gabriele.«

»Denke auch an Edith Scheffel, die sich mit Rindermark verheiratete. In welch trüber Ehe lebte sie, bis du ihr den rechten Weg gewiesen hast. Heute ist auch sie von einer Schar fröhlicher Kinder umringt, heute ist sie Mutter in einem sonnigen Heim, das von fröhlichem Lachen erfüllt wird. Auch in deinem künftigen Heim wird es hell sein, Bärbel.«

Viele Bekannte aus früherer Zeit stellten sich bei Goldköpfchen ein und wünschten ihr Glück. Es war nicht einer, der es nicht ehrlich meinte. Nicht einmal die Photographen Hampel und Rotmühl hatten selbstsüchtige Gedanken im Herzen, als sie Frau Wendelin zu ihrem Schritt beglückwünschten.

Alle Worte der Anteilnahme wirkten beruhigend auf Bärbel ein. Sie hatte wohl doch das rechte getroffen, zumal die Kirschnerschen Kinder sich vor Freude kaum zu lassen wußten. Waren sie beisammen, so sprachen sie von der Zukunft, von der neuen Mutter, die bald ins Haus kommen werde, von dem schönen Leben, das sie erwarte.

»Ihr bekommt eine Mutter«, sagte Jürgen altklug, »aber wir behalten unsere liebe Mutti. Unsere Mutti gehört uns zuerst, und dann kommt ihr.«

»O nein«, sagte Fritz, »wir bekommen keine Mutter. Wir bekommen auch eine Mutti, weil sie uns ebenso lieb hat, wie euch. Das habe ich gestern gesehen. Du hast einen Kuß gewollt und da hat sie mir auch einen gegeben. Wir bekommen eben auch eine Mutti.«

Dr. Kirschner, der Goldköpfchen mit zartester Rücksicht behandelte, wartete geduldig darauf, daß ihm Bärbel den Tag der Eheschließung nennen werde. Und wieder kämpfte sie einen schweren Kampf. Sie sah, wie furchtbar nötig sie im Kirschnerschen Hause war. Die Kinder, die ständig zwischen den beiden Wohnungen hin und her liefen, waren doch trotz aller Aufsicht zuviel sich selbst überlassen. Außerdem stellten sie in ihrer Freude daheim alles auf den Kopf.

So sagte sie eines Tages dem Arzt, daß sie sich entschlossen habe, noch vor Weihnachten mit ihm vor den Altar zu treten, doch bäte sie darum, die Trauung in aller Stille vollziehen zu lassen. Nicht hier in Heidenau, auch nicht in Dillstadt, sondern in Dresden. Es solle kein Fest werden, nur eine stille, ernste Feier, wie das die Verhältnisse erforderten.

Dr. Kirschner fügte sich ohne weiteres den Wünschen Bärbels. Auch ihm war es sehr lieb, daß er hier in Heidenau nicht neugierigen Blicken ausgesetzt war. Auch Einladungen sollten nicht ergehen; in aller Stille würde Bärbel ihren Einzug in die Villa des Arztes halten.

Es waren auch mancherlei Vorbereitungen zu treffen, da sich im Kirschnerschen Hause allerlei Umwälzungen vollzogen. Die Hausdame hatte bereits erklärt, daß sie zum ersten Dezember einen anderen Posten antreten wolle, ebenso verließ die Amme an diesem Tage das Haus. Dagegen war Grete, Bärbels langjähriges Hausmädchen, sofort bereit, mitzugehen. Da auch Ida, Kirschners Stütze, blieb, hatte man mit den Hausangestellten keinerlei Sorgen. Grete und Ida hatten sich längst ein wenig angefreundet, und der große lebhafte Arzthaushalt konnte zwei tüchtige Angestellte gut brauchen.

Frau Leuschner siedelte bereits am ersten Dezember über. Denn jetzt hatte sie Klein-Ulla und Adele zu betreuen. Frau Wagner war wieder aus Dillstadt gekommen, um der Tochter bei der Auflösung der Wirtschaft zur Seite zu stehen. Forstrat Schmeling und Frau erboten sich, die sechs Kinder tagsüber bei sich zu haben, doch Bärbel lehnte dankend ab. Das ginge wohl für einen Nachmittag, aber dem Lärm, den die sechs verursachten, hielten die Nerven der beiden betagten Leute nicht stand.

Als Trauzeugen waren Bärbels Bruder Kuno und Forstrat Schmeling gebeten worden. Apotheker Wagner beabsichtigte nur für einen Tag herüberzukommen, während Kuno an Bärbels Hochzeitstage eine ganz stille Verlobung mit Karla Schilling feiern wollte. Auch hier kein lautes Freudenfest, alles in Stille und Innigkeit.

Man sah davon ab, die Kinder der Trauung beiwohnen zu lassen. Anfangs wollte Bärbel, daß wenigstens Hermann zugegen sei. Sie ließ den Plan jedoch wieder fallen. Mochten die Kinder an ihrem Hochzeitstage in Heidenau ruhig zur Schule gehen, mochte alles so bleiben, wie es der Alltag vorschrieb.

Als Goldköpfchen in ihrem schwarzen Kleid vor dem Altar stand, als der Geistliche warme und innige Worte zu ihr sprach, senkte sie den Kopf tief. Dann tastete ihre Hand hin zu der des neuen Gatten.

»Ich will, ich will«, flüsterte sie noch einmal, »möge Gott seinen Segen geben.«

Man kehrte nach Heidenau zurück. In ihrem alten Heim kleidete sich Goldköpfchen rasch um. Dr. Kirschner hatte sie begleitet und gesagt: »Ich warte im Nebenzimmer, Bärbel. Wir wollen gemeinsam als junges Ehepaar den Gang gehen, nach dem unser Herz verlangt.«

Nun standen die Neuvermählten am Grabe Haralds, faßten sich fest an den Händen und blickten sich in die Augen.

»Deinen Kindern eine treue Mutter, dir, Ewald, eine gute Kameradin.«

»Und ich dein Beschützer und dein dir dankbarer Gatte.«

Man stand auch am Grabe der verstorbenen Gattin des Arztes, dann gingen beide heim. Keine Girlande an der Haustür, dafür ein sonnendurchleuchteter Wintertag! Goldene Strahlen tanzten durch die Zimmer, hüpften an den Wänden dahin, als wollten sie einen Freudentanz ausführen, weil in dem verödeten Heim wieder eine Frau schalten und walten würde, der Ruf der Kinder nach der Mutter nicht mehr ungehört verhallen werde.

Frau Leuschner hatte dafür gesorgt, daß der jungen Frau ein Empfang bereitet wurde, der Balsam in ihr wundes Herz goß. In dem großen Eßzimmer standen sieben Kinder, neben ihnen Frau Leuschner, Klein-Ulla auf dem Arm. Als dann Dr. Kirschner sein junges Weib in den Raum führte, streckten sich Bärbel alle Kinderarme entgegen, in allen Händchen sah sie Blumen. Es klang von den Lippen der Kleinen: »Mutti, gute, liebe Mutti, wir danken dir!«

Bärbels Augen füllten sich mit Tränen. Einen nach dem anderen nahm sie an ihr Herz. Ihrem Ältesten sah sie sehr lange in die Augen, und als Hermann von Dr. Kirschner an beiden Händen gefaßt wurde, als Bärbel sah, daß die Augen beider verständnisvoll ineinandertauchten, war es ihr, als senke sich eine helle, leuchtende Wolke langsam auf sie nieder.

»Mutti – Mutter – Mami!« so umjubelten sie die Kleinen, »nun bleibst du immer hier! Wir haben wieder eine Mutter!«

»Nein, eine Mutti«, rief Stefan aus Leibeskräften, »eine gute, goldene Mutti! Genau so, wie sie der Jürgen bisher gehabt hat. – Mutti freust du dich, daß du nun mitten im Misthaufen sitzen kannst? Mutti, hast du uns lieb?«

»Sehr, sehr lieb!«

Stefan schloß sekundenlang die Augen, mit offenem Munde sog er die Worte ein und auch Fritz und Marlene lauschten unbewußt dem Ausspruch: sehr, sehr lieb. – Wie war das schön! Eine Mutti war wieder da, die ihre Tränen trocknete, die liebe Worte zu ihnen sprach, zu der man alles kindliche Leid tragen konnte.

»Eine Mutti, eine Mutti!«

Hermann stand ein wenig abseits. Er schaute auf die geliebte Frau, die von den Kleinen umringt wurde. In dem zwölfjährigen Knaben wuchs ein Gefühl grenzenloser Ehrfurcht empor. Wie schön mußte es sein, von so vielen geliebt zu werden, für viele sorgen zu dürfen, jedem ein liebes Wort sagen zu können. Seine Mutti konnte das! Sie hatte einen unerschöpflichen Schatz im Herzen. Und wenn in diesem Zimmer noch viel mehr Kinder gewesen wären, keines würde zu kurz gekommen sein.

Bärbels Eltern hatten sich zurückgezogen. Sie wollten, daß die neue Mutter in der ersten Stunde ihres Einzugs ins neue Heim bei ihren Kindern blieb. Als dann aber der Abend kam, als der große Eßtisch vollbesetzt war, lachte Stefan lustig auf.

»Immer größer wird die Familie!« Er tippte mit dem Finger Apotheker Wagner auf die Glatze. »Du, mit den wenigen Haaren, bist du jetzt unser Großvater oder unser Großväti?«

»Dein Großvater, der dich an den Ohren ziehen wird, wenn du nichtsnutzig bist. Das macht der Großvater sehr gern.«

»Ja, wenn du das machst, bist du ein Großvater. Und du, bist du eine Großmutter oder eine Großmutti?«

»Das kannst du halten, wie du willst, Stefan.«

»Ich will mal erst abwarten. Wenn du immer so lieb bist, wie unsere neue Mutti, bist du unsere Großmutti, sonst aber bist du auch nur eine Großmutter.«

Am heutigen Tage gab es noch ein glückliches Paar. Das waren Kuno und Karla. Apotheker Wagner und Frau freuten sich herzlich über die gute Wahl, die ihr Sohn getroffen hatte und auch Goldköpfchen, der Karla immer eine treue Mitarbeiterin gewesen war, hoffte, daß der jungen Photographin in Dillstadt ein Glück erblühen werde.

Am nächsten Tage reisten Wagners wieder heim. Goldköpfchen blieb allein bei ihren acht Kindern zurück, Dr. Kirschner war am frühen Morgen schon fortgegangen, jetzt zur Winterszeit hatte er viel zu tun.

»Niemand darf vernachlässigt werden«, sagte er zu Hermann, »ich muß sehr fleißig sein, denn ich habe nun für acht Kinder zu sorgen.«

»Wird es dir zuviel?«

»Nein, mein lieber Junge, im Gegenteil! Es freut mich, daß ich die Kraft in mir fühle, arbeiten zu können, von früh bis spät. Gibt der Herr ein Häschen, gibt er auch ein Gräschen! Meine acht Hasen sollen satt werden.«

»Vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen. Ich habe eine gute Handschrift.«

»Ich werde dich schon brauchen können, Hermann. Du weißt, wir zwei sind Verbündete, wir wollen auch in der Arbeit Verbündete sein. Ich komme schon zu dir, mein lieber Junge, wenn ich Hilfe brauche.«

Auch diese Worte machten Hermann sehr stolz. Der neue Vater schien wirklich nur sein treuer Freund sein zu wollen.

Goldköpfchen empfand es als Erleichterung, daß das Weihnachtsfest vor der Tür stand. So konnte sie trüben Gedanken nicht nachhängen, denn schon der Alltag brachte ihr viele Pflichten und Arbeit. Die Kinder nahmen sie stark in Anspruch und immer wieder mußte sie sich Liebesbeteuerungen anhören, immer wieder sprachen Kinderlippen von dem Glück, wieder eine Mutti zu haben.

Viele Fragen, viele Wünsche wurden laut. Jedes Kind wollte diesmal vom Weihnachtsmann etwas Besonderes haben. Hermann war der einzige, der zur Bescheidenheit mahnte.

»Woher sollen wir plötzlich soviel Geld nehmen? Seid vernünftig! Ihr habt eine neue Mutti bekommen, das müßte euch genug sein.«

»Ach ja«, sagte Erna, »das ist für euch genug. Ich aber habe keine neue Mutti bekommen, ich habe meine alte Goldmutti behalten. Darum kann ich mir mehr wünschen.«

»Ich auch«, sagte Jürgen und riß Stefans Wunschzettel mitten durch. »Ihr habt 'ne Mutti, das ist genug.«

Marlene war die einzige, die das anfangs einsah. »Wenn die neue Mutti immer hierbleibt, habe ich Weihnachten.«

Beim Ansehen der Auslagen in den Schaufenstern aber meinte sie später: »Ein bißchen möchte ich freilich dazu haben. Aber die neue Mutti ist so gut, sie schenkt mir bestimmt etwas.«

Nun begann ein Beraten und Nachdenken. Noch in später Abendstunde, wenn Goldköpfchen mit ihrem Gatten zusammensaß, fragte sie schüchtern, was er wohl für jedes Kind bewilligen könne, und ob er auch an die verschiedenen Schutzbefohlenen denke, die von ihr zu jedem Weihnachtsfest bedacht worden waren.

»Gerade an sie wollen wir in erster Linie denken, mein Bärbel. Unsere eigenen Kinder können und wollen wir zur Bescheidenheit erziehen und ihnen ins Herz legen, daß Geben seliger ist als Nehmen. Aber die, die kein so glückliches Heim haben, wie wir, die müssen ihre Weihnachtsfreude weiter haben. Für die sollst du mit vollen Händen geben. Laß die Kinder an der Freude, die du ausstreust, teilhaben, damit sie von vornherein erkennen, daß es Menschenpflicht ist, anderen zu helfen.«

»Ich danke dir, Ewald. So ähnlich würde Harald gesprochen haben.«

»Und nun wollen wir einmal berechnen, mein liebes Weib, was wir für das Weihnachtsfest ausgeben dürfen. Doch zunächst sage mir, wodurch ich dich erfreuen kann.«

»Du hast drei Kinder mehr zu beschenken, Ewald. Ich weiß, wie anstrengend dein Beruf ist. Wir werden viele Neuanschaffungen machen müssen, ich bitte dich daher, sieh von kostspieligen Geschenken für mich ab. Die Freude der Kinder ist mir das schönste Geschenk.«

»Mein Goldköpfchen mit dem goldenen Herzen! Ich werde dir bei den Besorgungen leider nicht helfen können, alles das muß ich dir überlassen, denn es ist viel Krankheit in Heidenau. Aber«, fügte er ernst hinzu, »gerade das tut dir vielleicht wohl. So kommst du am besten über das Fest hinweg, das für dich viel traurige Erinnerungen erwecken wird.«

»Auch in dir, Ewald.«

»Wir werden am Weihnachtsabend einen strahlenden Lichterbaum sehen, zu dem frohe Kinderaugen aufblicken. Wir werden uns fest an den Händen fassen, mein Bärbel, werden die Zähne zusammenbeißen und nur an die Kinder denken. Dann wird auch über uns langsam stiller Frieden kommen.«

Von nun an war für Goldköpfchen jede Minute ausgefüllt. Es gab unendlich viel zu besorgen. Nicht nur die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest nahmen sie stark in Anspruch, auch der große Haushalt erforderte viel Umsicht und Arbeit. Selbst wenn Grete und Ida taten, was in ihren Kräften stand, um die Hausfrau zu entlasten, lag doch noch genügend auf ihren Schultern. Jeden Abend legte sich Goldköpfchen auch Rechenschaft darüber ab, ob sie nichts versäumt habe, ob sie ihre eigenen Kinder nicht vor denen Ewalds bevorzugt habe. Es schien nicht der Fall zu sein, denn von den Kinderlippen wurden keine Klagen laut. Und als Jürgen einmal einen Verweis erhielt, ein wenig maulte und sagte:

»Mit mir müßtest du nicht so streng sein, Mutti. Ich bin doch schon viel länger dein Sohn, aber du machst gar keinen Unterschied – –« da war es Goldköpfchen, als habe sie ein Lob erhalten.

Je näher das Weihnachtsfest herankam, je lauter ging es in der Kirschnerschen Villa zu. Die kleine Schar war kaum zu bändigen. Die Kleinsten fragten voller Ungeduld, ob es noch nicht soweit wäre, und Stefan ging mit Jürgen oft durch die Straßen Heidenaus, um noch immer etwas herauszufinden, was sie sich wünschen könnten.

»Jetzt habe ich wieder einen Vater, eine Mutti, einen Großvater, eine Großmutter und einen Onkel Kuno. Dann ist noch ein Onkel Joachim. Wenn mir alle was schenken, wird mein Tisch so voll sein, daß gar nichts mehr darauf Platz hat.«

»Der Großvater hat seine Apotheke an Onkel Kuno gegeben und bekommt kein Geld mehr. Die Großmutter lebt von dem Gelde, das der Großvater verdient, und weil der Großvater nichts mehr verdient, hat sie auch nichts. Und Onkel Kuno, na, der hat jetzt eine Braut, für die er alles Geld hergeben muß. Meine Mutti aber hat sich noch fünf Kinder auf den Hals geholt. Sie muß das Geld in acht Teile zerteilen. Wir wollen gleich mal rechnen. Wenn sie hundert Mark hat und wir sind acht Kinder, dann – dann –« Jürgen nahm die Finger zu Hilfe. Plötzlich rief er aus: »Dann bekommt jeder noch über zehn Mark geschenkt. Aber nein – zwanzig Mark bleiben übrig, davon schenkt die Mutti dem Vater was.«

»Oh, dann wünsche ich mir den Baukasten, der kostet nur acht Mark.«

»Wenn sie aber nur fünfzig Mark hätte?«

»Wir wollen sie mal fragen«, meinte Stefan, »damit wir genau wissen, was wir uns wünschen können.«

Im Kirschnerschen Hause gab es ein Zimmer, das war seit Tagen fest verschlossen. Marlene wußte, daß hier das Christkind ein und ausging, daß der Nikolaus durchs Fenster stieg und sackweise die Gaben ausschüttete.

»Mutti, wenn das eine Zimmer ganz voll ist, haste dann noch ein Zimmer für den Nikolaus? Vergiß auch nicht das Fenster aufzumachen. – Mutti, warum sehe ich das Christkind nie?«

Jürgen lachte verstohlen. Gar zu gern hätte er Marlene gesagt, daß es kein Christkind gäbe, doch wollte er seiner lieben Mutti den Glauben daran nicht zerstören. Außerdem war ja Marlene ein Mädchen. Sie mochte an das Christkind glauben, bis sie Mutter war.

»Mein armes, abgehetztes Bärbel«, sagte Dr. Kirschner zwei Tage vor Weihnachten. »Es ist gut, daß du den Arzt im Hause hast. In den Feiertagen verschreibt er dir Ruhe.«

»Laß mich nur schaffen und arbeiten, Ewald. Es ist am besten so.«

Den Weihnachtsbaum durften die großen Knaben selbst putzen. Frau Leuschner stand zwar im Zimmer und gab acht, doch Hermann sorgte dafür, daß nichts von den Süßigkeiten, die an die Zweige gehängt werden sollten, in die Mägen kam. Und da er ein strenger Aufpasser war, wagten weder Jürgen noch Stefan sein Verbot zu übertreten.

Am Mittag des vierundzwanzigsten Dezembers zeigten die Kinder den Eltern mit Stolz den geschmückten Baum.

»Das habt ihr gut gemacht«, lobte der Vater.

Wieder erbot sich dann der gutherzige Forstrat Schmeling, am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers die Kinder für zwei bis drei Stunden zu sich zu nehmen. Doch übereinstimmend lehnte die kleine Schar ab. Sie wollten daheimbleiben.

»Ich muß das Rumoren hören«, sagte Jürgen. »Die Mutti flitzt von einer Stube in die andere. Im Weihnachtszimmer riecht es gar so schön nach Tannenbaum, in der Küche nach Kuchen und Pfefferkuchen. – Na, es riecht überall bei uns nach Weihnachten. Beim Onkel Forstrat riecht es lange nicht so schön.«

Frau Leuschner bemühte sich vergeblich, die Kinder im Spielzimmer zurückzuhalten. Sie wußte, wie störend es für Bärbel war, daß ihr die Kleinen ständig in den Weg liefen, sie an der Arbeit hinderten. Sie versprach, ihnen eine schöne Weihnachtsgeschichte vorzulesen, doch auch das fruchtete heute nichts. Sie wollte ein Würfelspiel beginnen, sogar um Bonbons spielen, es war vergebliche Mühe. Vorfreude und Ungeduld der Kinder ließen sich nicht ablenken.

»Tut doch wenigstens der Mutti den Gefallen und laßt sie in Ruhe!«

»Dann tu' uns auch einen Gefallen«, sagte Jürgen.

»Was wollt ihr haben?«

Jürgen lachte verschmitzt. »Spiel mit uns allen ›Häschen in der Grube‹.«

»Mit so großen Jungen?«

»Ja, dann bleiben wir alle im Kinderzimmer.«

»Du kleiner Racker«, sagte Frau Leuschner. »Ich weiß ja, was du willst!«

»Spielste mit uns?«

Und die gute Frau Leuschner, die genau wußte, daß sie ihrem Goldköpfchen einen großen Dienst erwies, wenn sie die Kinder in den letzten Stunden vor der Bescherung beschäftigte, sagte zu.

Jürgen stieß ein Freudengeheul aus und rief die Geschwister zusammen. Dann bildete man im Kinderzimmer den Kreis.

»Ich zähle aus, wer das Häschen ist, das hüpfen muß.« Sekundenlang überrechnete der kleine Schelm die Zahl der Mitspieler. »Auf wen achtundvierzig trifft, der ist das Häschen.«

Die achtundvierzig traf Frau Leuschner. Alle Kinder lachten fröhlich.

»Jetzt gehste in den Kreis, kauerst dich nieder und hüpfst.«

»Aber Kinder – –«

»Geh oder wir laufen zur Mutti!«

Eine zweiundsechzigjährige Frau kauerte im Kreis und hüpfte auf allen Vieren, unter dem Gesang der Kinder. Doch immer wieder mußte Frau Leuschner in den Kreis, dem es war wie eine Verschwörung unter den Kleinen, daß jeder die gute Frau Leuschner holte, die wieder das Häschen spielen mußte.

Sie tat es unter Keuchen und Pusten. Die alten Knochen taten ihr weh, doch galt es, Goldköpfchen zu entlasten. Sehnsüchtig wartete sie, daß die Glocke ertöne, die zur Bescherung rief.

Endlich gebot Hermann Einhalt. »Wollt ihr die alte Frau krank machen, unsere gute Alte?«

Einer nach dem anderen kam zu Frau Leuschner, die erschöpft auf dem Stuhl saß.

»Du bist beinah so gut, wie die Mutti«, sagte Jürgen.

»Wir sind froh, daß du bei uns bist«, meinte Stefan. »So eine gute alte Frau, wie du, bekommen wir nicht wieder. Der Vater läßt dich auch hundert Jahre alt werden. Er wird dir 'ne Medizin eingeben, wenn du klapprig bist.«

Und Frau Leuschner duldete es wieder, daß man auf ihren Schoß kroch. Wenn doch erst die Glocke läuten wollte!

Endlich war es soweit. Unter Indianergeheul eilten die Kinder ins Bescherungszimmer. Über jedem Platz hing ein Schild mit dem Namen des Kindes. Hermann war der einzige, der zunächst nach der Mutter blickte. Ob sie glücklich war oder auch in dieser Stunde an den Väti dachte, der draußen auf dem Friedhof schlief?

Er sah die geliebte Mutter stehen, neben ihr Dr. Kirschner. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Goldköpfchen stand dicht neben ihm, so dicht, wie früher die Eltern beisammengestanden hatten. In den blauen Augen der geliebten Frau glänzte keine Träne. Auch um ihre Lippen war nicht das wehe Zucken, das Hermann so oft bemerkt hatte. Goldköpfchens Augen gingen von einem zum anderen und jedesmal, wenn die Rufe des Entzückens ihr Ohr trafen, war es, als übersonne ein heller Schein ihr Gesicht.

»Mutti, sieh doch, was ich habe!«

»Mutti – was wäre es für ein schlimmes Weihnachtsfest ohne dich.«

Die Kinder stürmten wieder an ihre Gabenplätze. Da neigte sich Dr. Kirschner ein wenig nieder, hin zu Goldköpfchens Ohr.

»Was wäre es für ein schlimmes Weihnachtsfest, ohne dich«, wiederholte er der Kinder Worte. »Dir allein habe ich zu danken, daß mein Haus am heutigen Tage voll Jubel ist und keine Kindertränen fließen. Weißt du noch, wie ich dir am Tage meiner Werbung sagte, daß du aus der Finsternis Rosen hervorzaubern kannst, daß deine Hände streicheln und beglücken können? Weihnacht! Auch bei uns ist wieder Weihnacht, Bärbel! Ich darf wieder hoffend in die Zukunft blicken. Mein treuer Kamerad steht neben mir, auf uns nieder aber blicken zwei teure Entschlafene, die allen Segen auf uns herabflehen. Alles, was ich dir heute schenkte, ist so gering, so jämmerlich klein gegen das, was du mir gegeben hast. Ein ganzes Leben kann meine Dankesschuld nicht auslöschen. Ich kann nur wünschen, daß Gott deinen großen Entschluß reich lohnen möge und es einstmals auch deine Kinder tun.«


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