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Häschens Worte

Da Goldköpfchen mit den Kindern und Frau Leuschner am Sonntag vormittag die Reise nach Dillstadt antreten wollte, war der junge Photograph Rotmühl bereits am Freitag in das Atelier der Witwe gekommen, um sich dort einzurichten. Es war Goldköpfchen außerordentlich lieb, daß Karla Schilling hierblieb, die mit allen vorkommenden Dingen Bescheid wußte. So würde ihr die kurze Reise keinen geschäftlichen Abbruch tun. Rotmühl selbst war sehr beglückt, daß er im Atelier arbeiten durfte und versprach Frau Wendelin wiederholt, er wolle alles tun, was in seinen Kräften stehe, um sie zufrieden zu stellen.

Die Kinder waren voll freudiger Erwartung. Immer wieder hingen sie am Halse der Mutter und versicherten, daß wohl die Reise zu den Großeltern etwas Herrliches sei, doch noch viel schöner, daß sie die Mutti für vierzehn Tage von früh bis abends haben würden, sie nichts zu arbeiten brauche und man sich mit ihr dauernd was erzählen könnte.

Goldköpfchen freute sich selbst auf die Zeit der Ausspannung. Auch im Atelier würde alles klappen; dafür sorgte die tüchtige Karla Schilling. Wenn Goldköpfchen abends nach dem Tagewerk hinüber in die Wohnung kam, wenn sie bald dieses, bald jenes Stück in die bereitstehenden Koffer legte, kauerten die Kinder neben ihr, mit glückstrahlenden Gesichtern.

Der Sonnabend kam heran.

»Nur noch einmal schlafen«, sagte Jürgen strahlend. »Morgen abend schlafen wir schon in dem großen Hause in Dillstadt, in dem es immer so schön riecht.«

Da noch verschiedene Kleinigkeiten zu erledigen waren, verabschiedete sich Frau Wendelin bereits am Mittag von Karla Schilling und Herrn Rotmühl. Nachmittags wurden dann die letzten Sachen eingepackt, die letzten Besorgungen gemacht, dann eilte Goldköpfchen nochmals hinüber zum Friedhof, um dem verstorbenen Gatten Lebewohl zu sagen. Sie hatte den Arm voller Blumen, um abschiednehmend den Hügel ihres Harald zu schmücken.

So stand sie lange Zeit in tiefem Sinnen versunken an der geliebten Grabstätte. Die elf glücklichen Jahre, die sie mit ihrem Häschen durchlebt hatte, zogen durch ihr Gedächtnis. Dann das furchtbare Leid und nun ihre Selbständigkeit, das Sorgen für die drei Kinder.

»Mach' ich's recht, mein Häschen? – Bist du mit mir zufrieden?«

Plötzlich horchte Bärbel auf. Ein jämmerlicher Ton traf ihr Ohr, wildes und doch unterdrücktes Schluchzen mußte es sein. Sie schaute um sich. Auf dem Friedhof war weit und breit kein Mensch zu sehen. Um die Abendstunde war es hier fast immer menschenleer. Doch wieder das wehe Schluchzen. So ging sie dem Tone nach.

Sie brauchte nicht lange zu suchen. Dort drüben, ein frisch mit Efeu belegter Hügel, darüber hingeworfen ein achtjähriger Knabe.

»Mutti – Mutti, komm doch heraus!«

Es war Stefan Kirschner, der Knabe, von dem man sagte, daß er der Garstigste der Klasse sei, der arme, mutterlose Bube.

Goldköpfchen beugte sich nieder, hob das weinende Kind vom Erdboden auf. Tränen traten ihr in die Augen, als sie das schmerzlich verzogene Kindergesicht sah.

»Nun ist der Vater auch weg. – Er stirbt auch. Alle gehen weg von uns. Mutti, liebe Mutti, komm doch wieder!«

»Nein, mein Junge, dein Vater geht nicht weg, er hat nur sehr viel zu tun. Er arbeitet für euch, damit ihr –«

»Er kommt nicht wieder«, unterbrach Stefan die Tröstende. »Er ist nach Dresden, ins Krankenhaus gefahren. Dort bleibt er und stirbt.«

Goldköpfchen wurde unruhig. Wenn sie auch aus den Worten des Knaben nicht klug wurde, stieg doch beklemmende Angst in ihr auf.

»Komm, mein lieber Junge, ich bringe dich heim und sehe rasch noch einmal nach den Geschwistern.«

Während des Heimweges weinte der Knabe. Kein gütiger Zuspruch hatte Erfolg. Immer wieder behauptete Stefan, der Vater werde auch sterben und in die Erde gelegt werden.

Goldköpfchen betrat das Haus des Arztes. In der Küche saß das Stubenmädchen und weinte. Unter heftigem Schluchzen berichtete sie der jungen Witwe, daß Dr. Kirschner nach Dresden fahren mußte. Es sei alles ganz plötzlich gekommen. Er habe zwar schon lange etwas am Blinddarm gehabt, doch nun sei er fort und müsse heute noch operiert werden.

Goldköpfchen hatte das Empfinden, als setze ihr Herzschlag aus. War es nicht genug, daß fünf Kindern die Mutter genommen wurde? Mußte der Vater auch noch von ihnen fortgehen?

Wohl dachte sie an das Abendbrot daheim, an die eigenen Kinder, die sehnsuchtsvoll der Rückkehr der Mutter harrten, aber in ihren Ohren klang ein Wort ihres verstorbenen Mannes auf. Wie oft hatte er gesagt: »Man soll nicht zuerst an sich selber denken, wenn es gilt zu helfen. In der Not gibt es erst ein Zugreifen, dann ein Überlegen. So habe ich es immer gehalten.«

Mit den vier Kindern saß Goldköpfchen im Wohnzimmer und tröstete, obwohl ihr selbst die Augen voller Tränen standen. Dann rief sie Ida, das Hausmädchen, herein, um alles weitere zu besprechen, ging auch zu Frau Selle, der Amme.

»Wir wollen alle recht treu zusammenhalten, ich bitte Sie herzlich. Helfen Sie Herrn Doktor, tun Sie es aus Liebe zu den Kindern.«

Ida weinte nur noch heftiger, sie brauchte selbst Trost. Frau Selle meinte, sie wisse keinen Rat. Das Kinderfräulein, das man seit Tagen erwarte, sei noch immer nicht eingetroffen, habe auch nicht geschrieben.

»Es wird schon Rat werden«, tröstete Goldköpfchen.

»Wenn nicht anders, dann – – dann – – nehme ich Ihnen tagsüber die Kinder ab, oder – – ich komme vielleicht tagsüber – – hierher, bis Herr Doktor wieder heimkommt. Die Kinder haben mich gern.«

Ida hob die gefalteten Hände Frau Wendelin entgegen. »Ach, kommen Sie, kommen Sie bald. Ich weiß mir wirklich keinen Rat mehr. Der liebe Gott wird es Ihnen vergelten. Ach, kommen Sie!«

»Ja, wenn Sie tagsüber hier wären«, murmelte Frau Selle, »würde es gehen. Dann würden wir es schon schaffen.«

Sekundenlang schloß Goldköpfchen die Augen. Ihre drei Kinder freuten sich so sehr auf das Zusammensein mit der Mutter bei den Großeltern. Für morgen war die Fahrt nach Dillstadt beschlossen.

»Man soll nicht an sich selbst denken, wenn ein anderer in Not ist.« Wer hatte diese Worte soeben gesprochen? Sie tönten in Bärbels Ohren. Noch ein kurzer Kampf, dann hob sie den blonden, gesenkten Kopf.

»Ja, ich komme. Morgen früh bin ich hier, abends gehe ich heim. Ich habe Vertretung im Atelier. Es wird schon gehen. Doch jetzt muß ich eilen, ich habe ja auch drei Kinder.«

Doch Goldköpfchen kam nicht so rasch fort. Als Ida freudestrahlend den Kindern berichtete, Frau Wendelin werde von nun an an jedem Tag herkommen, sie wolle von früh bis abends mit den Kindern zusammen sein, da brach ein unbeschreiblicher Jubel aus.

»Tante Pottchen, du goldene, gute Tante Pottchen! – Ach, Tante Pottchen, wird das schön sein!«

»Kommst du wirklich?« fragte Stefan. Er schien das große Glück nicht fassen zu können. »Kommst du den ganzen Tag zu uns?«

»Ja, mein Junge. Wenn ihr mir versprecht, euch heute recht brav von Ida zu Bett bringen zu lassen, komme ich morgen her.«

»Tante Pottchen«, zwitscherte Marlene, »nun geh' ich nicht mehr die Mutti suchen. Wenn du morgen kommst, bin ich auch hier.«

»Nein, kleine Marlene, du sollst die Mutti nicht suchen. Die Mutti ist doch im Himmel. Morgen erzähle ich dir von ihr.«

»Wenn du morgen zu uns kommst, Tante Pottchen, ist alles gut.«

Als Goldköpfchen endlich die Treppe hinabstieg, hörte sie von oben her noch die jubelnden Rufe: »Morgen kommt Tante Pottchen!«

Unten im Hausflur blieb Goldköpfchen stehen. Sie legte beide Hände an die heiße Stirn. Etwas sehr Schweres stand ihr noch bevor. Sie mußte den Kindern sagen, daß sie nicht mit ihnen nach Dillstadt reisen könne, daß sie mit Frau Leuschner allein fahren mußten. – Wie hatten sich die drei gefreut! Nun mußte sie ihnen die Freude zerstören. – Es ging nicht anders, gar zu deutlich war von ihr die Stimme des verstorbenen Gatten gehört worden.

»Oh, Mutti«, kam ihr Hermann lachend entgegen, »heute hast du dich mal verspätet! Aber unsere Mutti hat so viel für uns und für die Reise zu tun, daß sie sich auch mal verspäten darf. – Mutti, wir haben schon gegessen. Frau Leuschner sagte, wir sollen es ruhig tun.«

»Ja, ja, Hermann, es ist gut so. Die Mutti will sich nur umziehen. Dann möchte sie etwas mit dir besprechen, mein Junge.«

Stolzes Leuchten übersonnte das Gesicht des Elfjährigen. Wenn die Mutti so zu ihm sprach, gab es etwas zu beraten, und er durfte mittun. Nun ja, er hatte ihr ja auch versprochen, daß er ihr helfen wolle. Wie schön war es, gemeinsam mit der lieben Mutti über etwas nachzudenken.

Das Hausmädchen überbrachte Frau Wendelin einen Brief. Der Chauffeur des Herrn Dr. Kirschner sei hiergewesen, er habe das Schreiben abgegeben.

Goldköpfchen erbrach es. Anscheinend hatte Dr. Kirschner ganz kurz vor seiner Abreise ins Krankenhaus die Worte niedergeschrieben:

»Ich bin am Verzweifeln! Muß mich sofort in Dresden am Blinddarm operieren lassen. Nehmen Sie sich meiner Kinder an. Ich weiß keine Bessere als Sie, Frau Goldköpfchen. Sie, mit dem goldenen Haar und dem goldenen Herzen. Gott hat mich anscheinend vergessen. So haben Sie wenigstens Erbarmen mit einem unglücklichen Vater.«

Bärbel legte die gefalteten Hände über das Schreiben. »Du sollst nicht vergeblich rufen, du Ärmster.« Schon in der nächsten Minute war die kurze Antwort geschrieben, die sie in später Abendstunde hinüber ins Haus des Arztes tragen wollte, um dort seine genaue Adresse zu erfahren, damit der Kranke recht bald Nachricht in Händen habe.

»Verzagen Sie nicht. So gut ich es vermag, will ich Ihren Kindern die Mutter ersetzen, bis Sie heimkommen. Sorgen Sie sich nicht um die Kleinen. Ich verspreche Ihnen, die liebe Schar zu betreuen. Ich habe gute Vertretung im Atelier und werde mich den Kindern von früh bis abends widmen.«

Nun gab es kein Zurück mehr. Die Würfel waren gefallen. Jetzt kam die Unterredung mit Frau Leuschner, die Mitteilung an die Kinder.

Erst ließ Goldköpfchen Frau Leuschner zu sich kommen. Die alte, treue Kinderfrau griff stumm nach Goldköpfchens Händen, dann nickte sie mehrmals mit dem Kopf.

»Sie sagen ja gar nichts, liebe Freundin?«

»Ich glaube, ein anderer hat Ihnen zu diesem Schritt geraten, Frau Wendelin. Einer, der sein ganzes Leben darauf einstellte, anderen zu helfen, niemals an sich zu denken. Der auch sein Leben hingab.«

»So ist es, liebe Frau Leuschner.«

»Vielleicht ist es gut so, Frau Wendelin. Doch wie wäre es, wenn ich auch hierbliebe? Ich könnte Ihnen in manchem helfen. Ich bringe die Kinder nach Dillstadt und komme wieder zurück.«

»Nein, Frau Leuschner, auch Sie brauchen eine Erholung.«

»Hat unser lieber Herr Oberingenieur nicht auch zu mir gesprochen? Soll ich in diesem Hause, das voller Nächstenliebe ist, abseits stehen? Sie wissen, ich verstehe mich gut auf Kinder. Das junge Hausmädchen drüben, die Ida, wird genügend mit der Wirtschaft zu tun haben. Nein, Frau Wendelin, dieses Mal lasse ich mich nicht fortschicken. Ich denke, wir erweisen Herrn Doktor Kirschner den besten Dienst, wenn wir uns gemeinsam um seine Kinder kümmern. Unsere drei sind bei den Großeltern vortrefflich aufgehoben.«

»Sie haben recht, Frau Leuschner. Aber Sie brauchen auch Ferien. Es ist keine leichte Aufgabe, mit den Kirschnerschen Kindern fertigzuwerden.«

»Sollten wir das gemeinsam nicht leichter schaffen? Da das Kinderfräulein bisher noch nicht eingetroffen ist, wird die alte Leuschner zunächst diese Stelle einnehmen. Es bringt Ihnen doch Erleichterung.«

»Sie gute, treue Seele!«

»Es ist vielleicht nicht gut, daß die Kinder des Nachts nur mit Ida zusammen sind. Wenn Fritz und Marlene von der Sehnsucht nach der Mutter erfaßt werden und sich heimlich fortschleichen – – Ach nein, liebe Frau Wendelin, ich weiß genau, daß ich drüben auch nötig bin. Allein könnte ich es freilich nicht schaffen, aber mit Ihnen geht es herrlich!«

Da gab Goldköpfchen nach. Es war für die armen Waislein am besten so.

»Nun will ich es Hermann und den anderen sagen. Es wird mir bitter schwer.«

Hermann saß erwartungsvoll der Mutter in dem großen Stuhl gegenüber. Als Goldköpfchen aber noch immer nach den einleitenden Worten suchte, sprang der Knabe auf, strich ihr zärtlich über die Hand und sagte mit ernster Stimme: »Mutti, habe nur Mut! Wir werden es gemeinsam tragen, auch wenn es schwer ist.«

Genau diese Worte hatte der Vater einst zu ihr gesprochen. Hermann hatte die Worte nicht vergessen. Und da er in allem dem Vater nacheifern wollte, benutzte er auch heute wieder dessen Worte.

»Mein lieber Junge, ich muß euch heute einen großen Schmerz zufügen.«

»Ach nein, Mutti, du machst uns nur Freude, niemals Schmerz.«

»Höre mich an, Hermann, unterbrich mich auch nicht. Du darfst nicht klagen oder gar weinen, mußt tapfer sein und an den lieben Väti denken, der uns sagte, daß wir erst anderen helfen müssen, ehe wir an uns denken dürfen. Nun will die Mutti armen, traurigen Kindern helfen, nimmt euch damit aber eine Freude fort.«

Hermann blickte stumm auf die Mutter. Goldköpfchen legte den Arm um seine Schulter und begann zu erzählen, wie traurig es im Kirschnerschen Hause aussähe, daß auch der Arzt fortgefahren sei, weil eine Operation notwendig geworden war. Und während sie ihren Ältesten fest und immer fester an sich zog, ihm mit liebendem Blick in die Augen schaute, sprach sie davon, daß sie die Reise nach Dillstadt nicht mitmachen, sondern hierbleiben werde, um an den mutterlosen Kindern Mutterstelle zu vertreten.

Hermann drückte schweigend seinen Kopf an der Mutter Schulter.

»Der Väti würde es mir auch geraten haben, Hermann.«

»Kommst du nun gar nicht hin?« Wie traurig diese Frage klang.

»Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, mein Junge. Erst muß ich sehen, wie es im Kirschnerschen Hause wird. – Verstehst du, daß die Mutti dort hingehen muß?«

»Sie haben keine Mutter – nun ist auch der Vater noch fort. – Ach, Mutti, es wäre so schön gewesen, wenn wir dich wieder mal gehabt hätten. Aber ich jammere nicht, nein – wir wollen gemeinsam beraten. – Nun ja, geh nur hin, damit die armen Kinder auch eine Freude haben. Wenn du bei ihnen Mutti spielst, können sie sehr, sehr glücklich sein.«

»Mein guter Junge! Ich freue mich, daß du so lieb und so vernünftig bist. Hoffentlich macht es dir Jürgen nach.«

»Oh, dem will ich es schon beibringen.« Und schon hatte sich Hermann den Armen der Mutter entwunden und stürmte davon.

Frau Leuschner war gerade dabei, die beiden anderen Kinder zu Bett zu bringen, als Hermann eintrat und rief: »Ich habe noch eine wichtige Besprechung mit euch. Keiner hat zu jammern oder zu klagen. Ihr habt ganz still zu sein, sollt jetzt nur an den Väti denken. Wenn ihr nicht stille seid, sollt ihr was erleben. Keinen Mucks, kein Wort, ich habe auch nicht gemuckst. Ihr seid jetzt stumm wie die Fische.«

»Warum sind eigentlich die Fische stumm?« fragte Jürgen.

»Dumme Frage«, meinte Hermann, »weil sie unterm Wasser sind. Kannst du reden, wenn du untertauchst?«

»Aber sie stecken doch auch mal den Kopf aus dem Wasser. Warum fangen sie dann nicht an zu reden?«

»Weil – weil – – na, weil sie dann eben das Maul noch ganz voll Wasser haben und weil sie überhaupt keine Luftröhre besitzen, in der die Stimme sitzt. – So und jetzt frage nicht weiter, jetzt kommt was viel Wichtigeres.«

»Ich weiß schon, was kommt«, sagte Klein-Erna.

»Du weißt gar nichts, kleines Ding! – Also, die Mutti wollte doch morgen mit uns mitfahren, aber – – «

»Morgen fährt die Mutti mit uns nach Dillstadt«, piepste Erna.

»Stille bist du«, schrie sie Hermann an. »Sie fährt eben nicht.«

»Doch, sie fährt.«

»Freilich fährt sie«, bestätigte nun auch Jürgen.

»Ihr seid schrecklich ungezogene Kinder«, stellte Hermann fest. »Die Mutti ist selber ganz traurig darüber, daß sie nicht mitfahren kann. Aber bei Kirschners sind eben fünf Kinder ohne Mutter und Vater. Sie borgen sich unsere Mutti für einige Zeit, weil es sonst drüben furchtbar schlimm aussehen würde. Und da die Mutti immer sehr gut ist und jedem Menschen hilft, hat sie gesagt: ihr habt die gute Frau Leuschner, die euch nach Dillstadt bringt, ich aber bleibe hier, und wenn es euch nicht paßt, haue ich euch eins hinten drauf.«

»Aber Hermann, das hat doch die Mutti nicht gesagt«, lächelte Frau Leuschner.

»Nein, das sage ich, weil ich doch Muttis Berater bin. Und weil sie mit mir alles besprochen hat, sage ich euch jetzt, daß es von der Mutti ganz richtig ist, wenn sie drüben die Mutter macht. Ihr dürft nicht etwa maulen, denn die Mutti ist selber furchtbar traurig. Wenn ihr die Mutti aber noch trauriger macht, stirbt sie am Ende auch, wie die Mutter vom Stefan.«

Das war bei Hermann die Drohung, mit der er jeden Widerstand brach. Er wußte, daß es für Jürgen und Erna kein schlimmeres Schreckgespenst gab, als den Tod der Mutti. So machten auch jetzt die beiden nur ängstliche Gesichter und schauten besorgt auf Frau Leuschner, die die weiteren Erklärungen gab. Als Goldköpfchen zehn Minuten später das Schlafzimmer ihrer drei betrat, um den Kindern den Gutenachtkuß zu geben, wurde sie von Jürgen leidenschaftlich umschlungen.

»Mutti, ich bin stumm wie ein Fisch. Aber du stirbst doch nicht, wie die Mutti vom Stefan. – Ich hatte mich doch so gefreut, daß du mit uns kommst. – Nu' gräme dich ja nicht.«

Nur Erna bettelte ganz leise, ob die Mutti nicht doch mit ihr kommen wolle.

»Vielleicht komme ich nach«, tröstete sie Goldköpfchen.

Nun hieß es wieder auspacken.

Mit Hilfe des Hausmädchens wurde aus den Koffern das überflüssig Gewordene herausgenommen, dann eilte Goldköpfchen nochmals in das Haus des Arztes, damit der Brief noch heute nacht nach Dresden abging. Ida war hocherfreut, als sie hörte, daß die treue Frau Leuschner, die man in ganz Heidenau kannte, in zwei Tagen auch ins Arzthaus kommen werde.

»Nun werden wir es schaffen. Da die Köchin fort ist und ich nicht viel vom Kochen verstehe, hatte ich große Sorgen. Wenn aber die gnädige Frau mithilft und wir Frau Leuschner für die Kinder haben, wird alles gut.«

Zu später Nachtstunde schrieb Goldköpfchen an die Eltern einen Brief. Frau Leuschner sollte ihn mit nach Dillstadt nehmen. Daß sie ihre Angehörigen durch ihr Fernbleiben betrübte, wußte sie. Doch die Eltern würden einsehen, daß ihre Tochter in diesem Falle nicht anders handeln konnte.

Ehe sie sich zur Ruhe legte, blickte Bärbel nochmals zum Bilde des Gatten auf:

»Bist du mit mir zufrieden?«

Da war es ihr, als nicke Harald freundlich.

Am anderen Morgen war Goldköpfchen schon frühzeitig auf den Beinen. Es galt, alles für die Abreise zu rüsten. Die Freude der Kinder war wohl ein wenig gedämpft, trotzdem erwarteten sie voller Sehnsucht die Abfahrt des Zuges. Hermann schickte oftmals Blicke des Mitleids zur Mutter hinüber. Es tat ihm weh, daß sie die schöne Ferienreise nicht mitmachen konnte.

Goldköpfchen brachte die Kinder zur Bahn. Das Herz war ihr nicht leicht; trotzdem lächelte sie liebevoll und winkte den Fortfahrenden noch lange nach. Sorgen um glückliche Ankunft brauchte sie sich nicht zu machen. In der Obhut Frau Leuschners waren die drei gut aufgehoben.

Nun noch ein kurzer Besuch bei Karla Schilling, um ihr von der Veränderung Mitteilung zu machen.

»Obwohl ich in Heidenau verbleibe, liebes Fräulein Karla, werde ich mich um das Atelier nicht kümmern. Ich habe das Versprechen gegeben, tagsüber die mutterlosen Kinder zu betreuen, und dieses Versprechen will ich halten.«

Im Kirschnerschen Hause war man voll freudiger Erwartung. Stefan und Fritz standen im Vorgarten. Sie stürzten Goldköpfchen jubelnd entgegen.

»Tante Pottchen ist da! – Tante Pottchen bleibt nun bei uns!«

Zunächst fragte Goldköpfchen in der Klinik an, wie die Operation verlaufen sei. Sie erhielt zufriedenstellende Nachricht, Dr. Kirschner werde schon in neun Tagen wieder nach Heidenau zurückkehren können.

»Neun Tage bleibst du hier?« rief Stefan. »Bleibe doch noch länger hier, Tante Pottchen – bleibe doch immer hier!«

»Damit würden meine Kinder nicht einverstanden sein, mein Junge.«

»Deine Kinder können doch zu uns kommen.«

»Ihr fünf seid gerade genug.«

»Fünf und drei macht acht. Laß sie ruhig kommen, Tante Pottchen. Hier ist Platz genug, und Bettstellen zum Schlafen kauft der Vater, wenn er wiederkommt.«

»Du sollst hierbleiben«, rief auch Marlene, »immer, immer! Der Vater kann wegbleiben, aber du mußt hierbleiben.«

»Ja, du mußt hierbleiben«, rief auch Fritz, »denn du bist genau so gut wie unsere Mutter. Dann haben wir wieder eine Mutter wie andere Kinder.«

»Ich bleibe eure liebe Tante Pottchen, und ihr kommt mich später häufig besuchen.«

»Nein, du mußt immer hierbleiben«, klang es zurück.

Goldköpfchen hielt es für richtig, das Gespräch nicht fortzusetzen. Sie freute sich, daß ihr die Kinder gleich von der ersten Stunde an soviel Liebe und Herzlichkeit entgegenbrachten. Wie leicht würde es sein, die kleine Schar zu leiten, denn mit Liebe ließ sich alles machen. Zeigte es sich doch schon am ersten Tage, daß der wilde, ungebärdige Stefan von seinen häßlichen Streichen abließ, wenn ihm Goldköpfchen ein warnendes Wort zurief.

»Du bist gut, Tante Pottchen, du darfst mir was sagen. Bist ja unsere liebe Tante Pottchen!«

Mit großer Gewissenhaftigkeit übernahm Goldköpfchen ihre Pflichten, doch bald erkannte sie, daß sie sich eine schwere Aufgabe gestellt hatte. Obwohl die Kinder auf ihre Worte hörten, waren sie doch so ganz anders als Hermann und Jürgen. Da wurde ganz heimlich mancher dumme Streich ausgeführt; es kam Stefan auch nicht darauf an, eine Unwahrheit zu sagen. Verstohlen versetzte er seinen Geschwistern Püffe und Schläge, vernaschte Geld, das ihm Ida zum Einkaufen gab, und manch anderes mehr. Überall zeigte sich schon jetzt bei ihm leichte Verwahrlosung. Die Mutter fehlte eben! Goldköpfchen hütete sich, mit heftigem Tadel die Kinderseelen zu erschrecken oder gar zu verhärten. Sie wollte alles mit Güte erreichen, doch galt es viel schlimmes Unkraut aus den jungen Herzen zu entfernen. Hinzu kam, daß auch die Kleidung der Kinder vernachlässigt war. So hatte Goldköpfchen alle Hände voll zu tun. Am schlimmsten war es freilich, wenn wieder die Sehnsucht nach der Mutter durchbrach. Da mußten viele Tränen getrocknet werden, denn wenn eines der Kinder anfing zu schluchzen, weinten die anderen gleich mit. Sorgenvoll dachte Frau Wendelin daran, wie sich das Leben in diesem Hause gestalten würde, nachdem sie es wieder verlassen haben werde. Sie mußte energische Schritte einleiten, um einen Menschen zu finden, der die schwere Aufgabe der Erziehung der fünf mutterlosen Kinder zu meistern verstand. Es gab gewiß viele Frauen, die gern dazu bereit waren, die es auch konnten. Doch wo fand man sie?

Die Nachrichten aus dem Krankenhaus lauteten zufriedenstellend. Da Dr. Kirschner wußte, daß sein Haus in guten Händen war, trug das mit zur rascheren Genesung bei. Heißer Dank wallte in seinem Herzen auf für die Frau, die ihm in so selbstloser Weise in der Not beistand. Wie konnte er ihr das jemals vergelten? Er wußte, daß Goldköpfchen mit ihren Kindern zu den Eltern fahren wollte. Klaglos hatte sie auf diese Freude verzichtet.

Am dritten Tage traf Frau Leuschner ein. Sie berichtete Frau Wendelin, daß Wagners in Dillstadt recht betrübt gewesen wären, die Tochter nicht wiederzusehen, doch könne man ihr Handeln vollauf verstehen. Sie brachte Goldköpfchen Briefe von den Eltern. Beide schrieben: »Wir kennen Dich, Goldköpfchen, wir wissen, daß Dich Dein Herz dazu trieb, zu helfen. Wer sollte Dir deswegen Vorwürfe machen?«

Von Frau Leuschner wollten die Kinder anfangs wenig wissen. Für sie kam nur Tante Pottchen in Betracht. Sie umringten sie in der Küche, bei allen häuslichen Arbeiten, sie wollten mit der geliebten Tante Einkäufe machen, jeder wollte beim Essen neben Tante Pottchen sitzen. So gab es manche Rauferei, die von Goldköpfchen geschlichtet werden mußte.

Aber schon am zweiten Tage, nachdem Frau Leuschner im Kirschnerschen Hause weilte, hatte sie das Vertrauen der kleinen Adele gewonnen. Bald wagte sich auch Marlene an die gute Alte heran. Erleichtert sah Goldköpfchen, daß ihr dadurch viel Arbeit abgenommen wurde. So hoffte sie, daß sie ihre Pflichten bis zum Ende getreulich würde erfüllen können.


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