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9
Der letzte Kampf

In der Laube, in der Goldköpfchen am gestrigen Tage mit Dr. Kirschner gesessen hatte, hockten ihre drei Kinder. Sie waren eng aneinandergerückt, dämpften die Stimmen und schauten von Zeit zu Zeit sorgenvoll zu den Fenstern der Wohnung empor.

»Wenn ich nur wüßte, was wir gemacht haben«, sagte Hermann. »Die Mutter hat einen großen Kummer: sie sieht ebenso traurig aus, wie damals, als der Vati starb. Ich zerbreche mir immerfort den Kopf, ich habe doch nur den Max ein bißchen gehauen, weil er eine Katze gequält hat. Darüber kann sie doch nicht so traurig sein.«

»Und ich habe auch nichts Schlimmes gemacht«, flüsterte Jürgen, »ich habe nur den Mann mit der Waage ein ganz kleines bißchen geärgert.«

»Erzähle mal«, gebot Hermann. »Ich bin euer Erzieher und weiß, wie sehr man sich über Unarten ärgern muß. – Was hast du denn wieder getan?«

»Auf der Waage beim Kaufmann Lehmann, die vor der Tür steht, kann man sich wiegen lassen. Die anderen haben es auch gemacht. Es kostet aber zehn Pfennige, und ich habe nur fünf Pfennige gehabt. Da habe ich dem Kaufmann gesagt: ich setze mich quer, wiegen sie doch nur eine Hälfte von mir. Da hat der Herr Lehmann gelacht, hat mich gewogen, und als ich ihm nur fünf Pfennige gab, hat er geschimpft. Ich brauch' doch nur die Hälfte zu bezahlen, wo ich ihm gesagt habe, er soll nur eine Hälfte wiegen.«

»Nein, Jürgen, darüber braucht sich die Mutti nicht so zu ärgern, daß sie ganz blaß ist.«

»Vielleicht, weil sich die Marlene gestern, als sie herkam, in die Eierschüssel setzte. Sie wollte Setzeier machen.«

»Ach nein, darüber ärgert sich die Mutti auch nicht.«

»Wollen wir mal zu Frau Leuschner gehen und sie fragen?«

Dieser Ausweg fand allgemeine Billigung. Frau Leuschner wußte so oft Rat, sie würde auch jetzt berichten können, was die gute Mutti quäle.

So gingen die drei Kinder hinauf. Frau Leuschner saß, wie immer, im Kinderzimmer und stopfte Strümpfe. Sie hatte die Brille mit den dicken Gläsern auf der Nase und zog emsig Fäden durch die Löcher der Strümpfe.

»Kannst du uns nicht sagen, was wir angestellt haben? Warum ist die Mutti so traurig?«

»Ihr müßt sehr lieb zu eurer Mutti sein. Sie hat einen sehr schweren Entschluß zu fassen, über etwas nachzudenken. Die Mutti hat Sorgen und Kummer.«

»Und ich dachte schon«, erwiderte Jürgen erleichtert, »es ist wegen der Lakritze.«

»Was ist damit?« fragte Frau Leuschner, die gewohnt war, keine Bemerkung der Kinder zu übersehen, sondern ihnen stets beizustehen oder einen guten Rat zu geben.

»Brauchst nicht böse sein, Frau Leuschner«, meinte Hermann, »die Sache mit der Lakritze haben wir uns nicht selber ausgedacht. Die hat uns der Großvater in Dillstadt erzählt. So haben es kleine Buben dort gemacht. Nun haben wir es auch mal hier versucht.«

»Was habt ihr denn versucht?«

»Ein Teil vom Misthaufe ist in die Apotheke hier gegangen. Wir wissen, daß das Glas mit der Lakritze ganz oben im Fach steht. Genau so wie beim Großvater. Wenn wir uns für zehn Pfennige Lakritze holen, muß der Apotheker erst auf die Leiter steigen. Der dicke Apotheker pustet immer so sehr, wenn er hinaufklettert. Au, das macht Spaß!«

»Herr Gumpel ist doch ein alter Herr, über sechzig Jahre.«

»Da sind wir drei, ich, der Jürgen und der Stefan, hingegangen und ich habe gesagt, ich möchte für zehn Pfennige Lakritze. Er hat die Leiter geholt und sich bis oben hinaufgepustet. Dann hat er mir alles eingepackt, und dann hat der Jürgen gesagt, er möchte auch für zehn Pfennige Lakritze.«

»Aber Hermann«, sagte Frau Leuschner vorwurfsvoll, »ihr hättet doch gleich für zwanzig Pfennige kaufen sollen.«

»Das war ja gerade der Spaß, Frau Leuschner. Aber warte nur, es kommt noch doller. Und das alles hat uns der Großvater erzählt, das ist gar nichts Neues!«

»Der arme Apotheker hat also ein zweites mal auf die Leiter steigen müssen?«

»Ja, das hat er müssen. Beim Hinaufkriechen drehte er sich um und fragte, ob der Stefan vielleicht auch für zehn Pfennige Lakritze will. Da schrie der Stefan ganz laut: Nein, ich will nicht für zehn Pfennige Lakritze. – Und nun kletterte der Apotheker wieder runter und packt dem Jürgen alles ein. Dann fragt er den Stefan: Was willst du haben? Und der sagt: Für fünf Pfennige Lakritze.«

»Hättest mal hören sollen, Frau Leuschner, wie der dicke Apotheker gewettert hat«, warf Jürgen ein.

»Dann ist er doch wieder hinaufgekrochen, hat aber gesagt: Warte, Stefan, ich komme schon mal zu deinem Vater.«

»Das war nicht artig vom Stefan.«

»Der Stefan hat dann zum Apotheker gesagt: Sie können ruhig kommen, es kostet aber fünf Mark bei meinem Vater. Da ist der Apotheker noch böser geworden und wir sind rasch fortgelaufen. – Meinst du, Frau Leuschner, daß die Mutti deswegen böse ist? Wir haben es uns wirklich nicht selber ausgedacht; der Großvater in Dillstadt hat's erzählt.«

»Ja, er mußte auch dreimal auf die Letter steigen, aber er hat gelacht«, setzte Jürgen hinzu.

»Er ist auch nicht so dick, wie der Apotheker in Heidenau. Doch nun sage uns, Frau Leuschner, was hat die Mutti für Kummer?«

»Ihr braucht sie deswegen nicht zu fragen, denn das versteht ihr nicht.«

»Ich verstehe es schon«, meinte Hermann ein wenig gekränkt, »ich bin doch Muttis Berater.«

Die gute Alte schickte die Kinder wieder hinunter in den Garten. Es war nicht ratsam, daß Frau Wendelin jetzt von den Kindern mit Fragen gequält wurde. Sie mußte sich erst zu einem Entschluß durchringen. Gestern abend hatte sie sich der alten, treuen Kinderfrau anvertraut. Ihr heißes Gesicht an die Schulter der Getreuen gelegt, ihr mit müder Bewegung die Rose entgegenhalten, die ihr der Wind in die Hand wehte. Ein Zeichen, daß Harald nicht zürnte, wenn sie den schweren Entschluß fasse. Ein Zeichen, daß auch er ihre Aufgabe als Mutter noch lange nicht als erfüllt ansah. Daß sie auch fremden Kindern eine sonnige Jugend schaffen, ihren Weg mit Rosen bestreuen solle.

Frau Leuschner sprach ähnliche Worte wie Dr. Kirschner. Nur selten gäbe es Frauen, die soviel mütterliches Gefühl zu geben hätten, wie Bärbel, unter deren Fittichen alles geborgen sei, was hilfesuchend zu ihr flüchte; aus deren Innern so viel Liebe fließe, daß alle davon erquickt würden.

Am heutigen Tage war ein Brief nach Dillstadt abgegangen, in dem Bärbel die Mutter bat, sie möge sie in dieser schweren Zeit nicht alleinlassen, sie möge zu ihr kommen.

»Ich komme mir wie ein verirrtes Kind vor, Mutter, ich brauche Dich! Auch du wurdest die zweite Gattin meines Vaters. Komm, hilf Deinem Kinde!«

Die Kirschnerschen Kinder erschienen am Nachmittag, doch Frau Leuschner sorgte dafür, daß sie nicht zu Tante Pottchen kamen. Marlene brachte ein kleines Hündchen mit, das sie strahlend Frau Leuschner zeigte.

»Der Vati hat uns einen niedlichen Hund geschenkt, mir hat er ihn geschenkt. Das ist jetzt mein Hündchen.«

»Wir bekommen alle auch noch ein Hündchen«, tröstete Fritz. »Marlene braucht nicht allein ein Hündchen zu haben.«

»Wenn es dein Tierchen ist«, sagte Frau Leuschner, »mußt du es sehr gut pflegen und immer liebevoll behandeln. Du willst es doch aufziehen?«

Marlene drehte das kleine Tier in ihrem Arm behutsam und lächelte kindlich: »Ach nein, das brauche ich nicht aufzuziehen, wie meine weiße Miezekatze, ich brauch' dem Hündchen keinen Schlüssel in den Bauch zu stecken, es läuft von allein.«

»Das ist doch ein lebender Hund«, meinte Fritz und warf Frau Leuschner einen verächtlichen Blick zu.

»Ich meine ja nicht, daß du ihn mit einem Schlüssel aufziehen sollst, wie ein Spielzeug. Ich wollte damit sagen, daß Marlene das Tierchen groß ziehen soll.«

Wieder ließ Fritz ein Lachen hören. »Das ist doch ein richtiger Hund und kein Gummitier! Meinen Gummifrosch kann ich groß und lang ziehen, aber der Hund wächst von allein.«

Frau Leuschner mußte lachen. Sie ärgerte sich auch nicht, als Fritz seinem Bruder Stefan zuflüsterte: »Sie ist eben alt und weiß nichts mehr.«

Marlene fühlte sich durch das kleine Hündchen sehr beglückt. Trotzdem verlangte sie nach Mama Pottchen, um ihr das süße Tierchen zu zeigen.

»Stefan hat gesagt, ich muß es Nero nennen, dann ist der Misthaufen fertig. Und wir wollen doch ein schöner, richtiger Misthaufen sein.«

Während die Kinder noch im Garten spielten, stellte sich bei Goldköpfchen Besuch ein. Die gute Frau Leuschner wußte, daß Forstrat Schmeling und seine Frau, bei denen Frau Wendelin während ihrer glücklichen Ehe gewohnt hatte, die herzlichste Zuneigung für die junge Witwe hegten und ihr in manch schwerer Stunde Beistand geleistet hatten. Sie wußte aber auch, daß Goldköpfchen sich gern von den alten, lieben Leuten trösten ließ. So war Frau Leuschner heute mittag ganz heimlich nach der Villa gegangen, um dort zu berichten, was Goldköpfchen bedrücke. Je eher Bärbel einen Entschluß faßte, je besser war es für sie, denn die Ungewißheit lastete quälend auf ihr.

Bärbel wollte im ersten Augenblick das alte Ehepaar abweisen. Es erschien ihr unmöglich, jetzt mit Menschen über alltägliche Dinge zu reden, wo ihr Innerstes nur von der einen Frage erfüllt war: tue ich es oder tue ich es nicht.

Frau Schmeling erschrak sichtlich, als sie in das durchwachte Gesicht ihrer jungen Freundin blickte. Wortlos schlang sie beide Arme um Bärbel.

Forstrat Schmeling riß es fast das Herz entzwei, als er sein Goldköpfchen gar so verstört wiedersah.

»Frau Goldköpfchen, liebe Frau Goldköpfchen, Sie sind einst, als Sie vom schwersten Leid getroffen wurden, nicht zusammengebrochen, sondern haben sich mutig Ihr Leben neu aufgebaut. Wollen Sie heute anders handeln als damals?«

Goldköpfchen hob die Augen zu dem alten Herrn auf und schaute ihn unsicher an. »Wir kommen als Freunde« sagte Frau Schmeling schlicht, »wir wissen was Sie bedrückt.«

Ein leiser Schauer durchlief Bärbel.

»Wir wollen Ihnen liebe Worte sagen, kleine Freundin. Worte, die Ihnen nicht wehtun, die Sie in Ihrem Herzen verarbeiten sollen. Deswegen sind wir gekommen. Sie müssen uns für ein Weilchen dulden, uns erlauben, daß wir an eine Wunde rühren. Sie wird sich dann um so schneller schließen.«

Mit müder Bewegung wies Frau Wendelin auf das Sofa. Müde legte sie den Kopf mit dem reichen Blondhaar gegen die Polster.

»Ich bin ein alter Mann«, begann Forstrat Schmeling, »habe das Leben kennengelernt mit all seinem Licht und seinem Schatten. Reiche Erfahrungen liegen hinter mir. Hören Sie auf Ihren alten, treuen Freund, Frau Goldköpfchen. Lassen Sie sich von ihm sagen, daß es Pflicht ist, fest auf der Erde zu stehen, daß man sich nicht verwirren lassen soll von seinem Leid. Auch nicht von einer Sehnsucht, die uns hinüberzieht in leere Weiten. Nicht träumen von schimmernden Palästen der Vergangenheit, auch nicht von erloschenen Sternen oben am Himmel. Ihr Platz ist auf der Erde, Frau Goldköpfchen! Der Ruf, der an Sie erging, darf nicht ungehört verhallen.«

Bärbels Augen gingen hin zu der kleinen Schale, in der eine Rose ohne Stiel steckte.

»Lassen Sie mein Leben an sich vorüberziehen, Frau Goldköpfchen«, sagte Frau Schmeling liebevoll. »Nach außen hin ein stilles, glückliches Leben. Niemals habe ich mich über meinen Gatten beklagen müssen, habe vieles gehabt, was andere Frauen entbehren mußten. Doch das Beste blieb mir vorenthalten. Durch unser Haus schallte niemals frohes Kinderlachen, und doch sehnten wir uns beide mit heißen Herzen danach. Als man Ihnen Ihr Häschen nahm, hatten Sie Ihre drei Kinder. Diese Kinder hielten Sie aufrecht. Mit diesen Kindern wächst Ihr Glück. Uns aber leuchtet aus der Jugend nichts herüber ins Alter. Wir sind allein und müssen es tragen. Ihnen aber, liebe Frau Goldköpfchen, gehen neue goldene Sterne am Himmel auf. Greifen Sie danach! Sie sind eine wertvolle Mutter, eine der Besten, die ich kenne. Zögern Sie nicht länger.«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

»Sie könnten doch niemals froh werden, Frau Goldköpfchen, wenn Sie zusehen müßten, wie drüben ins Arzthaus eine andere Stiefmutter einzieht. Sie würden sich Ihr Leben lang Vorwürfe machen, wenn eines der Kinder mißraten sollte. Fünf Kinder rufen nach Ihnen! Sehnsüchtig strecken sich ihre Arme nach Ihnen aus. – Nein, Frau Goldköpfchen, Sie sind nicht die Frau, die solche Rufe ungehört verhallen läßt.«

»Ich habe an meine Mutter geschrieben.«

»Sie werden von dieser prächtigen Frau die gleiche Antwort auf Ihre Frage bekommen, die wir Ihnen heute gaben. Seien Sie tapfer, tapfer wie einst, Frau Goldköpfchen! Nehmen Sie die Bürde auf sich, sehen Sie darin eine gütige Vorsehung. Man trägt nur soviel, wie man tragen kann, das hat unser Vater im Himmel weise eingerichtet. In Ihnen ist so viel Reichtum, daß andere davon etwas abhaben müssen. Lassen Sie die Mutterliebe, die noch in Ihnen schlummert, nicht verkümmern. Spenden Sie, spenden Sie mit übervollen Händen.«

Bärbel hatte die Augen geschlossen. Sie hörte liebe beruhigende Worte; trotzdem fand sie den ersehnten Frieden nicht. Freilich, die Kirschnerschen Kinder liebten sie. Wahrscheinlich würde es ihr auch gelingen, das volle Vertrauen der Kleinen zu gewinnen. Sie würde sich bemühen, aus allen acht gute Menschen zu machen. Ein jeder sagte, sie sei mit einer besonderen Gabe ausgestattet, es läge in ihrer Macht, acht Kindern Mutterliebe zu geben. Keines würde sich benachteiligt fühlen.

»Treue bis über das Grab hinaus«, murmelte sie.

»Wenn Ihr Häschen in diesem Augenblick vor Ihnen stände, Frau Goldköpfchen, er würde Ihre Hand nehmen und in die des erbarmungswürdigen Vaters legen. Hat er nicht sein Leben hergegeben, um vielen Kindern die Mütter zu erhalten? Er wußte in jener Unglücksstunde, daß er sein Leben aufs Spiel setzte und hat doch nicht gezögert. Seien Sie seiner würdig, Frau Goldköpfchen! Fünf Kinder rufen nach einer Mutter!«

Nach einstündigem Besuch ging das alte Ehepaar wieder davon. Sie erwarteten keine Antwort der jungen Frau, sie fragten auch nicht, ob sich die Verstörte zu einem Entschluß durchgerungen habe. Frau Schmeling hatte abschiednehmend Goldköpfchen nur an sich gezogen und geflüstert:

»Je mehr Sie jetzt säen, um so mehr werden Sie später ernten.«

Und wieder blieb Goldköpfchen in dumpfem Brüten zurück. Wieder nahm sie die rote Rose in die Hand. Da wurde es langsam ruhiger in ihr.

»Häschen, – du hast schon mit mir gesprochen. – Ich werde es wohl tun.«

Am Abend bemühte sich Goldköpfchen, ihren Kindern wieder eine fröhliche Miene zu zeigen, doch sogar die kleine Erna merkte, daß die Mutti anders war als bisher. Die Zärtlichkeiten, die ihr von den Kindern heute mehr denn je erwiesen wurden, taten ihr wohl. Trotzdem fürchtete sie sich vor dem Augenblick, da sie den dreien sagen würde: ihr bekommt einen zweiten Vater. – Wie würden sich die Kinder zu Dr. Kirschner stellen? Er bemühte sich in letzter Zeit, die drei ein wenig an sich zu ziehen, er ließ ihnen manches Geschenk zukommen, doch Hermann würde durch derartige Dinge nicht dahin zu bringen sein, in dem zweiten Vater einen Ersatz für den ersten zu sehen. So ruhte auf ihr die doppelt schwere Aufgabe, nicht nur allen acht Kindern gleichmäßig Mutter zu sein, sondern ihre drei dahin zu bringen, zu Dr. Kirschner mit liebevollem Vertrauen aufzusehen. – Wie würde sich Hermann dazu stellen? Das war es, was sie quälte.

»Willst du nicht Vertrauen zu mir haben, Goldmutti?« forschte Hermann am Abend. »Ich habe dir doch schon oft geholfen. – Was hast du für Kummer?«

»Ich werde es dir sagen, Hermann. Ich muß es dir ja einmal sagen.«

»So sag' es gleich! Immer hast du uns gelehrt, es sei am besten, wenn man sich den Kummer recht schnell vom Herzen spricht. – Mutti, sage es mir?«

»Noch in dieser Woche, mein lieber Junge.«

»Bis dahin willst du dich allein mit den schlimmen Gedanken abquälen?«

»Vielleicht kommt die Großmutti in Kürze zu uns.«

Hermann umschlang angstvoll den Hals der Mutter. »Ich habe solche Sorge, es muß wohl etwas sehr Schlimmes sein. – Haste vielleicht auch Schulden, wie der Kaufmann unten? Die Leute sagen, er kann vor Sorgen nicht aus den Augen sehen. – Mutti, ich bin doch schon groß, vielleicht kann ich schon was verdienen. Ich lasse mir dafür Geld geben und wir bezahlen die Schulden ganz langsam ab.«

»Mein guter Junge, quäle dich nicht mit solchen Gedanken. Die Mutti wird dir bald alles sagen. Sie ist heute schon ein wenig ruhiger als gestern.«

Am nächsten Tage kam ein Telegramm von Frau Wagner aus Dillstadt, sie reise heute noch ab und sei am späten Abend in Heidenau.

Goldköpfchen legte das heiße Gesicht auf das Blatt. »Nun mag es sich entscheiden. Wenn auch sie, die Beste aller Mütter, mir zu diesem Schritt rät, will ich ihn tun.«

Die Kinder lagen längst zu Bett, als Frau Wagner in Heidenau eintraf. Ihre Sorge vergrößerte sich beim Anblick der Tochter.

Mit müder Stimme berichtete Bärbel der Mutter von dem Antrag des Arztes. »Du hast es kommen sehen«, schloß sie ihren Bericht. »Ich habe es nicht geglaubt, sonst hätte ich vielleicht von Anfang an anders gehandelt. Doch nun ist es zu spät, nun kann ich nicht mehr zurück, ohne daß ich schwere Schuld auf meine Seele lade. – Hilf mir, ach, hilf mir!«

»Als ich deinen Brief bekam, mein liebes Goldköpfchen, wußte ich, um was es sich handelt. Ich habe es kommen sehen, Bärbel, und lange darüber nachgedacht. Ich habe auch mit deinem Vater eingehend gesprochen. Ich weiß, mein geliebtes Kind, was es dich kostet. Ich kann mich in dein Inneres hineindenken.«

»Ja, Mutter, du verstehst mich.«

»Ich habe mir in den langen Jahren meines Lebens Rechenschaft darüber abgelegt, ob ich Joachim immer eine gute Stiefmutter und euch eine rechte Mutter war. Ich habe die mir übertragene Aufgabe mit Ernst angefaßt. Daß es mir nicht gelang, aus euch allen wertvolle Menschen zu machen, ist vielleicht meine Schuld. Martin ist mir entglitten, doch Joachim, Kuno und du, mein Goldköpfchen, ihr entschädigt mich reichlich für diesen Schmerz. Ich schaute in dein Heim, ich sah deine glückliche Ehe, sah dein tiefes Leid und bewunderte dich, als du dir aus eigener Kraft eine Existenz schufst, um deine Kinder durchzubringen.«

»Ich hätte so gern dieses Leben weitergeführt«, sagte Bärbel leise.

»Es gibt Millionen Mütter, die ihre Pflichten treulich erfüllen, die in ihren Kindern aufgehen und ihr Heim zu einer Stätte des Friedens machen. Es sind darunter aber nur sehr wenige Auserwählte, denen die Gabe eigen ist, auch fremde Kinder beglücken zu können, die nur ins Haus zu kommen brauchen, um dort Freude und Wärme zu verbreiten. Solch eine Mutter bist du, mein Goldköpfchen. Vielleicht hat dir das Schicksal soviel herbes Leid geschickt, weil es dir eine größere Aufgabe zudiktieren wollte. Zögere nicht länger, nimm diese neue Last auf deine starken Schultern und dein Entschluß wird gesegnet sein.

»Auch du – auch du – –«

»Es wird unter deinen Händen ein neues Geschlecht heranwachsen; du wirst einmal viele Enkelkinder haben und alle werden dir danken für den großen Entschluß, den du in diesen Tagen fassen sollst. Denke an deine hohe Aufgabe, mein geliebtes Kind. Und wenn du meinst, daß dein Entschluß ein großes Opfer ist, bringe es mit ganzem Herzen.«

Wortlos griff Bärbel nach der Hand der Mutter und hielt sie lange, sehr lange fest. –

Im Traum erschien ihr Harald und nickte ihr freundlich zu. –

Dr. Kirschner zeigte sich in all diesen Tagen nicht. Er wußte, daß Frau Wendelin Zeit brauchte, um mit sich ins Klare zu kommen. Er verstand, daß sie zu kämpfen hatte. Lebte doch in ihm selber die große Liebe zu seiner verstorbenen Frau! So stand auch er oft am Grabe der Entschlafenen und stellte dieselbe Frage wie Goldköpfchen: »Tue ich recht? Es gibt keine Bessere als Bärbel Wendelin, keine, die deine würdige Nachfolgerin werden könnte.« Welchen Jubel würde es bei den Kindern auslösen, wenn er ihnen sagte, daß Tante Pottchen noch Ende des Jahres in sein Haus übersiedeln werde, daß es wieder sein würde, wie einst, als noch die Mutter hier schaltete. Er wollte der tapferen Frau täglich dafür danken, er würde niemals mit unzartem Wort an die große Wunde ihres Herzens rühren. In ihrem Innern sollte Harald der einzige bleiben. Und doch hoffte er auf den Tag, an dem sie ihm die Hand drücken und aus sich selbst heraus sagen würde: es war gut so.

Frau Wagner erbot sich, ihrer Tochter die Unterredung mit Hermann abzunehmen.

»Vielleicht ist es besser, mein Kind, wenn ich mit ihm spreche. Die beiden anderen werden sich schneller damit abfinden, doch Hermann wird im ersten Augenblick verwirrt sein. Ich will mit ihm reden.«

Bärbel schüttelte den Kopf. »Ich danke dir herzlich, Mutter, aber laß mich lieber mit ihm selbst sprechen, mit meinem Freund und Berater. Es würde ihn schmerzen, wenn er von meinem schweren Entschluß durch andere hörte.«

»So will ich es Jürgen und Erna sagen. Ich hoffe, es wird mir gelingen, in den beiden Kleinen eine freudige Stimmung hervorzurufen. Ich will ihnen sagen, daß du wieder viel mehr Zeit für sie haben wirst, nicht mehr im Atelier sein mußt, von nun ab wieder nur Mutti bist. – Willst du das Atelier auflösen?«

»Ich glaube, Herr Rotmühl würde es gern übernehmen. Vor wenigen Tagen sagte er zu mir, daß er am liebsten in der Nähe seiner Eltern bliebe.«

»Du siehst, mein Kind, auch diese Sache scheint sich glatt erledigen zu wollen. Außerdem wird es bei uns bald eine Verlobung geben. Kuno und Fräulein Schilling dürften sich einig sein.«

»Ich wünsche ihr von Herzen das Beste, denn auch hinter ihr liegen trübe Zeiten. Möge sie an Kunos Seite recht glücklich werden.«

»Nun sieh mir nochmals ins Auge, mein Goldköpfchen. Soll ich zu deinen beiden Jüngsten gehen und ihnen sagen, daß sie einen zweiten Vater bekommen?«

Sekundenlang preßte Bärbel die Lippen fest aufeinander. Dann nickte sie.

Frau Wagner beschloß nicht lange zu zögern. Ein Schwanken war nicht gut. Hatte sie den Kindern erst alles gesagt, dann gab es kein Zurück mehr. Hoffentlich fand sich auch Hermann bald damit ab. –

Den ganzen Nachmittag über verbrachte Frau Wagner mit den Kindern. Erna zeigte ihr die neue Puppe, die sie von Onkel Kirschner bekommen hatte und Fritz brachte stolz einen Roller an.

»Und du, Hermann, was hast du bekommen?«

»Ein Buch, Großmama. – Warum schenkt er uns jetzt soviel? Er will uns wohl eine Freude machen, weil die Mutti seinen Kindern soviel hilft?«

»Er hat euch eben sehr lieb. Er ist ein guter, lieber Herr.«

»Das sagt der Stefan auch.«

»Er hat auch eure Mutti sehr lieb und ist ihr dankbar dafür, daß sie an seinen Kindern Mutterstelle vertritt.«

»Es wäre aber besser«, sagte Hermann nachdenklich, »wenn die Kinder wieder eine Mutter hätten. Dann brauchte unsere Mutti nicht noch alle die Sorgen von den Kindern zu tragen. – Großmutter, sie ist seit einigen Tagen so traurig. Vielleicht hat sie über die vielen Kinder gar zuviel nachzudenken.«

»Das macht deiner Mutti Freude.«

»Seit zwei Tagen macht ihr gar nichts Freude. Aber sie wird mir schon sagen, was sie quält.«

»So laufe einmal hinauf und frage sie, Hermann.«

»Ich habe sie schon gefragt. Ich soll aber noch etwas warten, bis sie es mir sagt.«

»Komm erst mal zu mir, mein lieber Junge. – So, gib mir deine Hand. – Und dann geh zu deiner lieben Mutti und sage ihr folgendes: Ich bin dein großer, verständiger Sohn, ich bin mit allem einverstanden, was du tust, denn ich weiß, du denkst nur daran, daß wir es gut haben sollen. Und wenn du mal etwas machst, was ich nicht verstehe, glaube ich, daß es auch zu unserem Besten ist. Willst du das der Mutti sagen, Hermann?«

Die Lippen des Knaben zitterten leicht. »Großmutter, was will die Mutti tun?«

»Lauf hinauf und frage sie. Doch vergiß nicht das zu sagen, was ich dir soeben riet.«

Hermann fühlte eine seltsame Schwere in seinem Innern, als er das Zimmer der Mutter betrat. Goldköpfchen stand tatenlos am Fenster und schaute hinüber zum Friedhof.

»Mutti!«

Jäher Schreck durchzuckte Bärbel. Jetzt war die Stunde gekommen, in der sie sprechen mußte. Vielleicht fügte sie ihrem Ältesten einen tiefen Schmerz zu. Hermann hing an dem verstorbenen Vater, er hatte ihn, obwohl er nun schon anderthalb Jahre unter der Erde lag, nicht vergessen. Sein Bild war nicht einmal leicht verblaßt.

»Mutti – ich soll dir sagen, daß alles, was du tust, sehr gut ist. Und wenn ich mal was nicht verstehe, soll ich immer daran denken, daß du es nur tust, weil du uns – – und weil du den Vati so lieb hast. – Mutti, sag doch, was willst du tun?«

»Ich möchte dich an den Tag erinnern, Hermann, an dem du, kurz nach des Vaters Tode zu mir kamst. Da hast du mir gesagt, ich solle nicht mehr weinen, ich solle mich wieder freuen. Du wolltest mich froh machen, wolltest immer brav sein und mir helfen.«

»Ja, Mutti, das weiß ich und daran denke ich immer. Darum möchte ich dir auch jetzt helfen und dich wieder froh machen.«

»Mein Junge, mein lieber, lieber Junge – wie soll ich es dir sagen!«

Mit erschrockenen Augen blickte Hermann auf die Bebende. »Sag es ruhig, Mutti. Wenn es auch ganz schlimm ist, liebe Mutti, ich halte still. – Komm, Mutti, setz dich hier auf das Sofa. – Weißt du, so hat der Vati neben dir gesessen, wie ich jetzt neben dir sitze. Ich weiß das alles noch genau. Und dann hat er seinen Arm um dich gelegt und gesagt: Du, mein liebes Goldköpfchen, du hast mir das größte Glück geschenkt, das die Erde zu geben vermag – –«

Hermann verstummte. Goldköpfchen hatte laut aufgeschluchzt.

»Mutti, weine nicht, wenn ich dich durch meine Worte traurig machte, sei nicht böse. Ich hatte dir versprochen, dich immer froh zu machen. Nun aber sage endlich, was es ist. Ich werde zu allem froh sein.«

»Nein, Hermann, das wirst du nicht, das kannst du nicht. – Mein lieber Junge, du weißt, was es heißt den Vater zu verlieren. Aber noch viel trauriger ist es, die Mutter zu verlieren. Sieh dir die Kirschnerschen Kinder an. Sie müssen wieder eine Mutter haben. Es soll jemand da sein, der für sie sorgt. – Wie oft hat Marlene gesagt, ich bin ihre Mutti. Ich werde in Zukunft nicht drei Kinder haben – sondern acht. Ich werde auch den Kirschnerschen Kinder Mutter sein.«

»Na, ja«, sagte Hermann ruhig, »sie ziehen eben in unser Haus und dann kocht die Grete für alle.«

»Nein, mein Junge, wir werden in die Kirschnersche Villa ziehen. Deine Mutti gibt das Atelier auf und – heiratet Onkel Kirschner. Sie wird seine Frau und hat dann acht Kinder.«

Sekundenlang blieb es still im Zimmer, dann klang es im Flüstertone: »Du heiratest Doktor Kirschner – dann wird Doktor Kirschner doch unser – – neuer Vater.«

»Ja, mein lieber Junge.«

»Mutti!« rief Hermann mit erstickter Stimme.

Sie zog ihn fest an sich. »Wir vergessen den Vati nicht, Hermann. Vati bleibt unser ganzes Glück. Aber der liebe Gott meinte, daß deine Mutti in ihrem Leben noch viele Aufgaben zu erfüllen hat, ihr die Pflicht zufällt, für fünf mutterlose Kinder zu sorgen. Und Doktor Kirschner duldet es, daß der Vati auch weiterhin in unseren Herzen der Erste bleibt. Du sollst in ihm nur einen guten väterlichen Freund sehen, du brauchst den Vater nicht zu vergessen. – Hermann, mein geliebter Junge, mache mir den Entschluß nicht noch schwerer. Er ist ohnehin für mich kaum zu ertragen.«

»Mutti, mach's nicht, mach's nicht!«

»Du kannst heute noch nicht verstehen, mein Kind, daß es eine Macht gibt, die dieses große Opfer von mir verlangt. Dazu mußt du erst viel älter werden. Doch das eine sollst du heute schon wissen: Uns bleibt der Vati so lieb, so teuer, wie er uns bisher war. Sein Bild wird niemals verdunkeln und auch der Vati hat mit mir gesprochen und geraten, ich solle es tun. So will ich mich nicht länger dagegen auflehnen. – Und nun, mein lieber, verständiger Junge, mußt du auch weiter mein Freund bleiben, denn – ich brauche dich.«

Da legte der Knabe beide Arme auf den Tisch, drückte das Gesicht hinein und weinte. Goldköpfchen ließ ihn gewähren. Von Zeit zu Zeit strich sie ihm leise über das Haar.


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