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Ich will!

Jürgen und Erna richteten Dutzende von Fragen an die Großmutter, wie es nun werden würde, wenn sie Dr. Kirschner zum Vater bekämen. Erna meinte, sie freue sich darauf, in die hübsche Villa ziehen zu können, denn der Garten sei viel schöner und es gäbe darin viele Bäume zum hineinklettern. Außerdem hätte man so viele Geschwister und könnte allerlei Spiele spielen, die bisher unmöglich gewesen wären, weil Hermann und Jürgen nicht mittäten.

Jürgen wollte weiter wissen, ob sein neuer Vater ein Recht hätte, ihn zu prügeln, wenn er unartig wäre. Aber der neue Vater habe sich bisher von der besten Seite gezeigt und schöne Spielsachen gebracht. Er habe anscheinend viel Geld. Nun brauche sich die Mutti nicht mehr um das tägliche Brot zu sorgen.

Die Hauptsache für die beiden Kinder war, daß die liebe Mutti von nun an nicht mehr den ganzen Tag über im Atelier stehen müsse. Sie würde, wenn sie den neuen Vater heirate, wieder nur für die Kinder da sein und nicht mehr fremde Leute photographieren müssen.

Frau Wagner gab sich die größte Mühe, ihren beiden Enkelkindern alle Vorteile, die von den Kleinen erfaßt wurden, sichtbar zu machen. Sie wünschte nichts sehnlicher, als daß die Kinder dem neuen Vater mit Liebe und Vertrauen entgegenkämen, in ihm nicht ihren Stiefvater, sondern ihren Beschützer und Erzieher sähen.

»Wenn du meinst, Großmutter«, sagte Jürgen, »daß es unsere Mutti dann leichter und besser hat, wenn sie den Doktor heiratet, sind wir zufrieden. Ich würde auch immer das wählen, wovon ich mehr habe. Die Mutti hat sich eben gesagt, jetzt brauche ich nicht mehr für fremde Leute zu arbeiten, jetzt sitze ich den ganzen Tag wieder bei meinen Kindern. Das macht mir Spaß.«

»Der Misthaufe rückt in ein Haus zusammen«, frohlockte die kleine Erna. »Ich spiele so gern mit Fritz und Marlene. – Großmutti, wird der zweite Vater ebenso lieb zur Mutti sein, wie unser Vati?«

»Natürlich, mein Kind.«

»Na, dann braucht sie keine Angst haben, dann wollen wir den neuen Vater auch liebhaben. – Großmama, wann ziehen wir denn in das neue Haus?«

»Das wird noch ein Weilchen dauern.«

»Großmutti, ich möchte so gern, daß der Doktor bis Weihnachten unser Vater ist, dann bekommen wir viel mehr geschenkt. Oh, das wird Spaß machen, wenn das Christkind für acht Kinder mit seinem großen Sack ankommt und auspackt!«

»Großmutter, wird der Doktor Kirschner auch genug Geld haben, um dann für acht Kinder zu Weihnachten einzukaufen? Oder glaubst du auch, daß der Weihnachtsmann alles bringt?«

»Jürgen, wer wird immer gleich an Geschenke denken.«

»Ich möchte es so gerne wissen, liebe Großmutter. Ich freue mich immer so furchtbar auf Weihnachten. Und wenn ich weiß, daß uns der neue Vater sehr viel schenkt, freue ich mich noch einmal so sehr. Ach, sag doch, Großmutter, hat er soviel Geld?«

»Doktor Kirschner würde sich niemals eine zweite Frau genommen haben, wenn er sie nicht sattmachen könnte.«

»Und uns alle mit?«

»Ja, mein Junge!«

»Na, dann soll er uns haben! Und meinen Wunschzettel schreibe ich bald, damit er sich einrichten kann. Ob er auch so viele Kassen hat, wie die Mutti? Eine für die Miete, eine für Gehalt? – Jetzt muß der Doktor noch 'ne Kasse machen für die neue Frau mit den drei Kindern. Hoffentlich hat er soviel Geld, um in die Kasse was hineinzustecken.«

»Du bist und bleibst ein kleiner Geschäftsmann, Jürgen. Du wirst später mal einen prächtigen Kaufmann abgeben. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Jürgen. Die Mutti wird immer in allen Kassen Geld finden, weil euer neuer Vater genug verdient.«

Jürgen nickte befriedigt. »Großmutter, dann wollen wir recht bald in die schöne Villa ziehen. – Ich weiß, daß oben noch Zimmer sind. Wir werden alle gut Platz haben.«

Am nächsten Morgen wurde Stefan von Jürgen genau davon unterrichtet, daß die Mutti schon in den nächsten Tagen zu ihm in die Villa ziehen werde und er eine neue Mutti bekomme.

»Meine Mutti heiratet deinen Vater und dann sind wir eine Familie mit acht Kindern und einem kleinen Hund.«

Zehn Minuten später wußte die ganze Klasse, daß Frau Wendelin in den nächsten Tagen Dr. Kirschner heirate und in die Villa ziehe. Bereits am Mittag sprach man in ganz Heidenau davon.

Nur Hermann hielt sich zurück. Fragte man ihn, so gab er keine Antwort. Der sonst so ruhige und sanfte Knabe teilte heute manchen derben Puff aus, um die Frager loszuwerden. In ihm bohrte und wühlte noch immer ein heißer Schmerz. Er hatte große Angst vor der Zukunft und verstand nicht recht, wie es werden sollte, wenn ein anderer neben der Mutti saß, wenn man in einem anderen Hause wohnte und sieben Geschwister hatte. So war Hermanns Herz schwer, und er hoffte heimlich, daß ein Wunder geschehen möge, damit die geliebte Mutti Dr. Kirschner nicht heirate.

Bärbel erschrak sehr, als Jürgen, aus der Schule kommend, sie stürmisch umhalste und ausrief: »Alle Kinder in der Schule wissen es schon, daß wir bald in die Villa ziehen und ich einen neuen Vater bekomme! Mutti, ich habe es allen erzählt. – Mutti, nu hast du keine Sorgen mehr um das tägliche Brot, dem der neue Vater legt in alle Kassen viel Geld. Dann brauchst du nur rauszunehmen. Das wird fein sein!«

»Was hast du erzählt, Jürgen?«

»Mutti, nu' sei mal recht froh. Immer kannst du jetzt bei uns sitzen, brauchst nicht mehr ins Atelier zu gehen. Oh, Goldmuttilein, du hast mal gesagt, du möchtest am liebsten immer bei deinen Kindern sein. Nicht wahr, nun freust du dich, daß es bald so geht?«

Jürgen bedeckte das Gesicht der geliebten Mutter mit ungezählten Küssen. Ein Weilchen sah Erna neidvoll zu, dann zerrte sie den stürmischen Bruder fort und überschüttete die Mutti mit den gleichen Liebkosungen.

So waren die Würfel gefallen, denn Goldköpfchen mußte sich sagen, daß die Neuigkeit wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort gehen werde.

Die Folge war, daß sich am späten Nachmittag Dr. Kirschner bei Frau Wendelin melden ließ. Auch ihm hatte sein ältester Sohn die freudige Botschaft aus der Schule heimgebracht, daß Tante Pottchen in den nächsten Tagen seine Mutter werden würde.

»Woher weißt du das?«

»Der Jürgen hat es in der Schule erzählt. Seine Mutti wird es ihm wohl gesagt haben. Jürgen meinte, es wird gut so sein. Dann braucht seine Mutti nicht mehr fürs trockene Brot zu sorgen. Vater, kommt Tante Pottchen bald zu uns?«

Darauf war Dr. Kirschner zu Goldköpfchen gegangen und stand nun vor ihr. Bärbel wußte, sie konnte der letzten Frage nicht länger ausweichen. Sie war ja auch entschlossen, dem Arzt ihr Jawort zu geben, nachdem sie sich innerlich klar geworden war, daß sie dem toten Gatten dadurch kein Unrecht zufüge, es ihre heilige Pflicht sei, hier zu helfen.

Trotzdem erbebte sie, als sie Dr. Kirschner vor sich sah.

Mit welchem Vertrauen hatte sie sich bisher an den Arzt gewandt, wenn es galt, den Kindern beizustehen. Wie gern sah sie ihn kommen, wie nett konnte sie sich mit ihm unterhalten! Sein Heim war von Goldköpfchen gern aufgesucht worden. Jetzt, da sie in sein Haus einziehen sollte, da sie sich noch enger an den gütigen und geschätzten Mann binden sollte, bebte ihr Herz.

»Von meinem Sohne Stefan hörte ich, daß Sie Ihren Entschluß gefaßt haben, Frau Wendelin. Ich nehme an, daß Sie mit Ihren Kindern bereits darüber sprachen. So stehe ich vor Ihnen und wiederhole meine Bitte. Bringen Sie Sonne in mein Haus, werden Sie die Mutter meiner verwaisten Kinder.«

Goldköpfchen nickte schweigend.

»Ich weiß, was dieser Schritt für Sie bedeutet, Bärbel. Ich kann ermessen, was Sie durchkämpften. Es ist ein großer Entschluß, ein schwerer Entschluß. Und doch hoffe ich, daß Sie ihn niemals bereuen werden. In dieser ernsten Stunde, da Sie mir Ihr Jawort geben, verspreche ich Ihnen erneut, daß ich Ihre Trauer um den Mann, der Ihr Herz ausfüllt, allezeit heilig halten werde. Ich kenne Ihre große Pflichttreue, ich weiß, mit welchem Ernst Sie an die neue Aufgabe herantreten, dadurch wird es friedlich und still in meinem Innern. Meine Kinder sind nicht mehr allein, meine Kinder haben ihren Schutzengel, und der sind Sie, Frau Bärbel. – Doch nun sehen Sie mich einmal an, Sie liebe, tapfere Frau. Reichen Sie mir Ihre Hand und sagen Sie mir ganz frohgemut das Wort: Ich will deinen Kindern eine Mutter sein.«

Goldköpfchen hob den Blick. Sie sah in ein ernstes, gütiges Männergesicht, sah, daß auch in den Augen des Arztes noch die stille Trauer um eine Tote stand. Sie streckte die Hand aus.

»Willst du es mit mir versuchen, Bärbel? – Willst du?«

»Ich will«, sagte sie leise.

Da nahm er ihre Hand in die seine und hielt sie fest. »Mit Gottes Hilfe wird es gehen, liebes Bärbel. Oder – darf ich dich auch Goldköpfchen nennen?«

Ein leises Zittern umspielte ihre Lippen.

»Es ist der Kosename, den dir dein Gatte gab. Ich will ihn nicht aussprechen, wenn du es nicht magst. Tut es weh, wird er niemals über meine Lippen kommen.«

Bärbel zwang sich zu einem schwermütigen Lächeln. »Der Name, den ich seit meiner frühesten Kindheit trug, den Harald nur übernahm, hat keine Berechtigung mehr. Mein Haar beginnt bereits grau zu werden.«

Er strich ihr sanft mit der Hand über den goldigen Scheitel. »Ein heller Glanz umleuchtet dich, Bärbel. Er ist wie ein Heiligenschein. Und wie eine Heilige dünkst du mir auch. Nicht an dich hast du gedacht in diesen schweren Tagen. Alle deine Gefühle hast du zurückgestellt, du dachtest nur an die Kinder. Immer wieder muß ich dir dafür danken, Bärbel!«

»Habe Geduld mit mir. Es werden Stunden kommen, in denen ich hinlaufen muß zu einem Hügel, um mir Kraft zu holen.«

»Sagte ich dir nicht schon, daß ich in deinem Innern zu lesen vermag? Auch dein Leid soll mir heilig sein, Bärbel.«

»Hab' Dank.«

»Und Hermann? Es ist eine große Sorge in mir, wenn ich an deinen Ältesten denke.«

»Ich habe es ihm gesagt, er trägt schwer daran.«

»So möchte ich mit ihm sprechen.«

Wieder schaute Goldköpfchen in das ernste Männerantlitz. Nochmals reichte sie Dr. Kirschner die Hand. »Ja, tue es, doch rühre mit sanfter Hand an diese zarte Seele. Du kennst Hermann nicht so genau, wie ich ihn kenne. Zürne ihm nicht, wenn er in der ersten Zeit vor dir zurückweicht. Dem Arzt brachte er Zuneigung und Vertrauen entgegen – dem neuen Vater verschließt er noch sein Herz.«

»So mag die Zeit das ihre tun, damit er es mir öffnet. Aber ich glaube, mein Bärbel, daß es mir gelingen wird, die Worte zu finden, die ihm in dieser schweren Stunde wohltun werden.«

Die Frage, wann Goldköpfchen an die Eheschließung denken wolle, wurde von Dr. Kirschner heute noch nicht gestellt. Als er aber draußen Jürgen und Erna lärmen hörte, öffnete er schnell die Zimmertür und rief die beiden herein. Jürgen plapperte sogleich los.

»Kommste schon uns zu holen? Wir ziehen jetzt alle in dein Haus, Onkel Kirschner.«

»Freut es dich, kleiner Jürgen?«

»Ja! Weil sich die Mutti nu' nicht um das tägliche Brot quälen braucht und immer bei uns sein kann. – Ätsch, Onkel Kirschner, der ganze Misthaufe sind jetzt deine Kinder! Haste auch soviel Geld, um uns alle satt zu machen?«

»Das habe ich.«

»Und wenn ich zu dir ziehe, darfst du nicht Linsen mit Speck kochen lassen. Die mag ich nicht. Dürfen wir durch dein ganzes Haus tollen?«

»Ja, mein Junge. – Willst du den neuen Vater aber auch ein wenig lieb haben?«

»O ja, das will ich schon!«

»Und du auch, kleines Mädchen?«

»Erst habe ich meinen ersten Vati lieb, und dann habe ich dich auch lieb.«

Mit diesen beiden Kindern ging wohl alles glatt. Auch seine eigenen würden keine Schwierigkeiten machen, da alle sehnsüchtig nach Tante Pottchen verlangten. Fritz und Marlene wollten sogar schon einen Willkommenkranz winden. Sie würden die Zeit kaum erwarten können, bis Tante Pottchen ihren Einzug hielt.

»Ich werde Gelegenheit suchen, mit Hermann zu sprechen«, sagte der Arzt. »Heute bitte ich dich, in den nächsten Tagen öfters nach meinen Kindern zu sehen. Kann ich dir behilflich sein im Ordnen deiner eigenen Angelegenheiten?«

»Es wird alles sehr leicht gehen.«

»Ich stehe immer zu deiner Verfügung, Bärbel.«

»Herr Rotmühl wird das Atelier gewiß gern weiterführen. Er dürfte auch die Wohnung übernehmen, denn mein Atelier ist eine gute Existenz. Wenn – du mir noch einige Monate Zeit läßt – –«

»Ich werde dich nicht drängen, Bärbel. Nur denke daran, daß meinen Kindern die Mutter sehr fehlt, daß jeder Monat, der vergeht, ohne daß sie treue Pflege genießen, schädlich für sie ist. Trotzdem sollst du selbst bestimmen, wann du die Meine wirst.«

»Ich werde es dir sagen. Heute kann ich darauf noch keine Antwort geben.«

Dr. Kirschner drückte keinen Kuß auf Bärbels Lippen. Ehrfurchtsvoll führte er ihre beiden Hände an seine Lippen.

»Diese Hände sollen neues Glück in mein verödetes Haus bringen; sie werden meinen Kindern die Wege ebnen. – Und nun lebe wohl, mein Bärbel, ich muß fort, denn auch mich ruft die Pflicht. Aber ich gehe beglückt an meine Arbeit, weiß ich doch, das Dunkel hat ein Ende.«

Auch mit Frau Leuschner sprach Bärbel eingehend.

»Sie wollen mich ins Heim stecken, liebe Frau Wendelin? Sie meinen, es sei an der Zeit, daß ich ans Ausruhen denke? Nein, noch werden Sie mich nicht los. Meine geliebte Frau Wendelin hat doch wieder zwei kleine Mädchen zu betreuen, die eine Kinderfrau nicht entbehren können. Bei mir ist es noch nicht Abend. Für die kleine Adele und Ulla reichen meine Kräfte gut aus. Und dann – – auch das weiß ich – braucht Frau Wendelin in ihrer neuen Umgebung auch mal einen Menschen, mit dem sie reden kann von früher. Nein, nein, liebes Frauchen, die alte Leuschner kommt mit! Wie lange, das wird die Zukunft lehren.«

»Sie gute, treue Seele! Es ist unverantwortlich von mir, Ihnen das alles aufzubürden.«

»Tragen Ihre Schultern nicht viel schwerer, Frau Wendelin? Oder wollen Sie mich nicht mehr haben?«

»Ich will, ich will! Tausendmal will ich Sie, Sie Liebe, Gute, ich glaube, ich könnte Sie in der ersten Zeit gar nicht missen. Die Kinder werden Sie brauchen, ich aber brauche Sie noch viel mehr. Es werden Stunden kommen, in denen ich mein Gesicht an die Brust einer Treuen bergen muß. Wo könnte ich mich besser ausweinen, als bei Ihnen?«

»Auch diese bitteren Tränen werden einmal versiegen, Frau Wendelin. Auch für Sie kommt einmal der Herbst und der Winter des Lebens. Dann blicken Sie rückwärts und sehen den Acker, der von Ihnen in emsiger Arbeit gar trefflich bestellt wurde. Sie werden im Glanz der Abendsonne stehen und dankbar die Hände falten, daß es Ihnen gelang, so Großes zu vollbringen. Nichts als Dank wird in Ihnen sein, heißes Danken, daß Sie solch einen großen Entschluß in schwerer Stunde faßten.«

Nachdem Dr. Kirschner das Haus Frau Wendelins verlassen hatte, drängte es ihn, einen kurzen Besuch auf dem Friedhof zu machen, zumal der Gottesacker dicht neben Bärbels Hause lag. Es war ihm, als müsse er seiner verstorbenen Frau die frohe Kunde bringen, daß ihre Kinder nicht mehr lange mutterlos bleiben würden.

Auf dem Wege zum Grabe seiner Frau sah er den Hügel des Oberingenieurs Wendelin, der immer reich mit Blumen geschmückt war. Auch heute prangte eine Fülle bunter Astern darauf; das Grab glich einem sorgsam gepflegten Blumenbeet.

»Wie könnte es auch anders sein«, murmelten die Lippen Kirschners, »überall da, wo Bärbel schaltet und waltet, grünt und blüht es.«

Als er noch einige Schritte näher kam, sah er, wie sich ein Knabe, der am Hügel gekniet hatte, langsam erhob. Es war Hermann. Da beschloß Dr. Kirschner, noch in dieser Stunde mit dem Knaben zu sprechen. Vielleicht war das Grab des Vaters der rechte Ort dafür. Er wartete noch ein Weilchen, als er jedoch sah, daß sich Hermann zum Fortgehen anschickte, eilte er mit raschen Schritten weiter und stand bald vor ihm.

Hermann wandte sich hastig ab.

»Hast du einen Augenblick für mich Zeit, mein Junge? Laufe nicht davon. Ich sah dich hier an dieser dir teuren Stätte knien. Ich glaube, es ist der rechte Ort, um dir das zu sagen, was ich auf dem Herzen habe.«

Hermann preßte die Lippen fest zusammen.

»Ich komme von deiner Mutter, sie hat mir soeben ihre Hand gereicht, hat mich mit ihren hellen, treuen Augen angesehen und gesagt: Ich will die deine werden. Auch von dir möchte ich nun das Wort hören: Ich will! Ich will mich vertrauensvoll unter deinen Schutz begeben, Vater.«

Hermann zog die Schultern hoch, als verspüre er körperliche Schmerzen.

»Hier unten ruht er, der dir allezeit teuer bleiben soll, Hermann. Ich komme nicht, um dir die große Liebe, die du für deinen Vater hegst, aus dem Herzen zu reißen. Er soll dir Vater bleiben, bis an das Ende deines Lebens. Aber ich komme als väterlicher Freund, mein Kind. Du bist für deine zwölf Jahre reifer als viele andere Kinder in deinem Alter. Du hast viel Leid gesehen, hast deiner Mutter nach Möglichkeit in der schweren Zeit beigestanden. Willst du ihr jetzt das Herz schwer machen? Warst du nicht immer ein braver Sohn?«

Schweigend starrte Hermann auf die Blumen nieder.

»Ich will, hat deine gute Mutter gesagt. Glaubst du, daß ihr dieser Schritt leicht wurde? Doch ihr großes, edles Herz trieb sie dazu. Ich sehe in deiner Mutter eine seltene, eine heilige Frau, Hermann. Eine Frau, die den Weg nach Golgatha ging. Willst du ihr Steine in diesen Weg legen? Soll sie unter der Last des Kreuzes, das sie tragen muß, zusammenbrechen?«

Durch Hermanns Körper flog ein Schütteln.

»Sie wird nicht zusammenbrechen, Hermann, denn es sind zwei Menschen da, die ihr tragen helfen. Der eine bin ich – der andere sollst du sein. Nicht als Vater spreche ich zu dir, in dieser Stunde komme ich als dein Freund, Hermann, als dein Verbündeter. – Soll ich weitersprechen, Hermann?«

Er nickte.

»Ich sah den Gram in den Zügen deiner geliebten Mutter. Ich weiß, das Herz zittert ihr im Gedanken an die Zukunft. Sie braucht Freunde, sie braucht Helfer. Meine Hand wird sich ihr entgegenstrecken. – Und die deine, mein junger Freund, darf nicht fehlen. Du fühlst dich verantwortlich, du sagtest einst, du müßtest den kleineren Geschwistern den Vater ersetzen, du müßtest der Mutter Berater sein. Reich mir deine Hand. Ich allein vermag nicht, in den bitteren Kelch ihres Leides Freuden zu gießen, aber gemeinsam mit dir wird es gehen. Wenn sie hört, daß auch du ihren Schritt billigst, daß du dich nicht abwendest bei dem Gedanken, von nun an im Hause des väterlichen Freundes zu leben, werden ihre Augen heller werden. – Wollen wir ein Bündnis schließen, Hermann? Wollen wir gemeinsam versuchen, ihr das schwere Los zu erleichtern?«

Im Gesicht des Knaben zuckte es.

»Du wirst in mein Haus kommen, Hermann, ein verständiger, zwölfjähriger Knabe. Du wirst bereits erwachsen sein, wenn deine jüngste Schwester zum erstenmal ihren Fuß in die Schule setzt. Auch ich brauche dich, Hermann. Du hast bisher ein scharfes Auge auf deine um wenige Jahre jüngeren Geschwister gehabt. Heute bitte ich dich, nimm dich von nun an auch deiner Stiefgeschwister an. Hilf mir, mein lieber Junge, hilf mir, vor allem aber, gib deiner Mutter den Frieden der Seele zurück.«

Hermann hatte die Hand über die Augen gelegt. Er wollte nicht, daß Dr. Kirschner die Tränen sah, die aus seinen Augen strömten.

»Dein Vater hört, um was ich dich bitte, Hermann. Schon vernimmst du seine Stimme in deinem Innern. Er ruft dir zu: Steh der Mutter bei! So frage ich dich erneut, Hermann: Willst du mein treuer Verbündeter sein? Wollen wir deiner Mutter das Leben heller und hoffnungsfroher gestalten? – Willst du?«

Über das Grab hin streckte Dr. Kirschner seine Hand aus. Und es war wie vorhin im Zimmer Bärbels. Der Knabe hob die Augen zu ihm auf, schaute ihn sekundenlang forschend an, dann lagen zwei Hände fest ineinander.

»Ich will!«

»Mein Junge, mein Freund, mein treuer Helfer!«

»Ja, ich will«, wiederholte Hermann noch einmal. »Die Mutti darf nicht leiden.«

»Nein, wir wollen der Mutti den Weg ins Glück bereiten. Hab' Dank, Hermann.«

Dr. Kirschner hielt es nicht für richtig, noch weitere Worte an den Knaben zu richten. Mochte er, der so tief empfand, das weitere mit dem geliebten Vater ausmachen, der in der Erde ruhte. –

In Hermanns Innerem wurde es langsam ein wenig ruhiger. Die Mutti war bereit, den schweren Weg zu gehen, sie tat es, damit fünf Kinder wieder treue Pflege und Ordnung bekamen. Die Mutti dachte nie an sich. Wenn es galt, anderen beizustehen, irgendwo zu helfen, war sie immer eine der ersten gewesen, die eingriff. Auch Hermann hatte oft seinen Vater sagen hören, daß das eigene Ich gegenüber der Not der Mitmenschen nichts bedeute. Oft genug war er selbst in die Lage gekommen, dieses Wort zu beherzigen. Erst im vorigen Winter rettete er, ohne an sich zu denken, den Feind der Mutter, den Photographen Hampel und dessen Tochter. Seit diesem Tage kränkte Hampel die Mutter nicht mehr, im Gegenteil, die beiden sprachen freundlich miteinander, wenn sie sich trafen. Seine Tat trug Früchte, sie erleichterte der geliebten Mutter das Leben.

Nun rief ihn Dr. Kirschner dazu auf, er möge wiederum der Mutter helfen die übernommene Last zu tragen, die sie auf ihre schwachen Schultern nahm.

»Ich will!« sagte er nochmals laut und bestimmt, »Vati, ich will! Die Mutti hat dich nicht mehr, ich bin ihr Beschützer. Über mich soll sie nicht weinen. Sie soll auch nicht mehr traurig sein, weil ich darüber weine, daß wir einen anderen Vater bekommen. Er will nur mein Freund sein. – Mutti, wenn du gewollt hast, muß ich auch wollen.«

Daheim angekommen, suchte Hermann seine Mutter. Sie war im Atelier und fragte gerade Herrn Rotmühl, ob er bereit sei, ihr Atelier für immer zu übernehmen. Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie sagte, sie werde wahrscheinlich schon im Dezember in die Kirschnersche Villa übersiedeln.

Rotmühl nahm ihr Angebot mit Freuden entgegen. Er hatte in den Wochen seines Hierseins erkannt, daß das Atelier eine Goldgrube werden konnte und erklärte sich sogleich bereit, die von Frau Wendelin geforderte Abfindung in mehreren Raten zu zahlen. So erledigte sich auch das überraschend glatt, und ein wenig erleichtert kehrte Frau Wendelin in ihr Heim zurück.

Dort fand sie Hermann.

Ob Dr. Kirschner wohl schon mit ihm gesprochen hatte?

Auch jetzt war das Gesicht des Knaben verweint, doch in den Augen lag ein heller Schein.

»Mutti«, begann Hermann mit seltenem Ernst in der Stimme, »ich habe eben mit – mit – unserem neuen Vater gesprochen. Er will nur mein Freund sein, er läßt mir den Vati. Er sagte, du hast ihm die Hand gereicht und gesagt, daß du seine Frau werden willst. Er hat zu mir gesagt, ich solle dir helfen auf dem schweren Wege, den du gehst, denn er ist schwer. Er dankt dir dafür. – Mutti, wenn du mal gar zu traurig bist, wenn du meinst, das Kreuz, das du trägst, drückt dich nieder, dann greife nach meiner Hand. Ich will dir tragen helfen, ich und der neue Vater.«

»Hermann – –«

»Ja, Mutti, gemeinsam wollen wir dafür sorgen, daß dir dein neues Leben Freuden bringt. – Mutti, ich will dir keine Sorgen machen. Du hast den neuen Vater gewollt – darum will ich ihn auch. – Bist du nun zufrieden mit deinem Hermann?«

»Mein Kind, mein kleiner, geliebter Freund! Mein wackerer Helfer!«

In Hermanns Augen leuchtete es hell auf. »Macht es dich froh, Mutti?«

»Du nimmst mir eine große Last von der Seele, mein geliebtes Kind!«

»Dann will ich helfen, Mutti, die neuen kleinen Geschwister zu erziehen. Dann will ich sehr artig zu ihm sein – wenn er wirklich mein väterlicher Freund ist. Das verspreche ich dir.«

»Ich danke dir«, hauchte Goldköpfchen und drückte in überströmender Mutterliebe ihren Ältesten an die Brust.


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