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6
Mutti kommt!

Goldköpfchen hatte längst eingesehen, daß ihr erster Plan, die Kirschnerschen Kinder von heute auf morgen zu verlassen, undurchführbar sei. Nur ganz allmählich konnte sie sich zurückziehen. Fräulein Retting gab sich die denkbar größte Mühe, doch war sie noch ein wenig zu jung und unerfahren, um in Kinderherzen lesen zu können. Vor allem wußte sie nichts von dem Leid, die Mutter verlieren zu müssen. So stand sie mitunter ratlos da, wenn bald bei diesem, bald bei jenem Kinde urplötzlich der Jammer um die Verschiedene hervorbrach.

Noch immer kam Bärbel täglich zweimal zu Kirschners und redete den Kleinen gütig zu, wenn sie fortging. Doch das nützte wenig; immer aufs Neue empfand sie, wie sehr sie den Kindern fehlte. So schob sie ihre Reise nach Dillstadt von Tag zu Tag hinaus.

Von Hermann war ein Brief gekommen: »Du meine allerbeste Mutti! Es ist schwer immer noch zu schweigen und seine Sehnsucht nach Dir ins Herz hinunterzudrücken. Haste die Kinder von Kirschners nicht bald satt? Ach, Mutti, komme doch endlich her zu uns! Hier sind sechs niedliche kleine Kaninchen und bei Webers ist sogar ein kleines Pferdchen. Das mußt Du sehen, denn so etwas Niedliches hast Du noch nie gesehen. Es läuft genau so wacklig, wie unsere Erna, als sie noch ganz klein war. Du wirst einen furchtbaren Spaß haben. Sage doch den Kirschnerschen Kindern, die sollen Dich loslassen. Wir sind doch Deine Kinder und möchten auch was von Dir haben. Mutti, einzigste und beste Mutti der Welt, komme rasch her, denn auch Großmutti möchte Dich sehen. Den anliegenden Brief vom Jürgen gib, bitte, dem Stefan. Es küßt Dich immerfort Dein Sohn und Berater

Hermann.«

Auf dem Zettel, den Fritz an Stefan Kirschner beigelegt hatte, stand zu lesen: »Wenn Du meine Mutti nicht bald zu uns nach Dillstadt schickst, verhaue ich Dich gleich am ersten Schultage so doll, daß Du auf der Hinterfront nicht mehr sitzen kannst. Dein Dich ewig liebender Freund

Jürgen.«

Goldköpfchen beschloß, den Brief Stefan nicht zu geben; sie würde aber den Kirschnerschen Kindern sagen, daß sie nun auch Ferien brauche und ihre Kinder nach ihr genau so großes Verlangen hätten, wie diese hier. Da Dr. Kirschner am heutigen Morgen Goldköpfchen berichtete, daß er Frau Rosa Schrempf als Hausdame verpflichtet habe und die Dame bereits in wenigen Tagen ihren Posten antreten wolle, hoffte Frau Wendelin, daß sich nun endlich ihre Reise nach Dillstadt verwirklichen werde.

Noch am selben Tage sprach sie mit Stefan, Fritz und Marlene darüber.

»Wer mich lieb hat, der läßt mich zu meinen Kindern fahren. Ich bleibe ganz gewiß nicht lange und komme bald zurück. Ihr werdet euch mit Fräulein Retting bald anfreunden und mich nicht mehr vermissen.«

»Kostet die Reise viel Geld?«

»Nein, nicht sehr viel.«

»Dann komme ich mit«, sagte Stefan. »Du hast erzählt, die Apotheke ist ein großes Haus mit vielen Zimmern.«

»Ich komme auch mit«, rief Fritz.

Marlene kletterte auf Goldköpfchens Schoß, legte beide Ärmchen um ihren Hals, blickte sie vertrauensvoll an und sagte ganz leise: »Bist doch meine Mama. Eine Mama nimmt ihr Kind immer mit, wenn sie fortfährt. Ich komme auch mit.«

Während sich Goldköpfchen noch mit Marlene und Adele beschäftigte, räumten die zwei Knaben ihre Kommoden aus und packten in einen herbeigeschleppten Koffer ihre Sachen. Auf Befragen Idas sagten sie, daß sie nach Dillstadt in die große Apotheke reisten. Tante Pottchen nähme alle mit.

Nun war es für Goldköpfchen doppelt schwer, den Kindern die Freude zu zerschlagen. Obwohl Fräulein Retting versprach, mit den drei Kindern nach Dresden zu fahren und den Zoologischen Garten zu besuchen, obwohl Dr. Kirschner eine schöne Autofahrt in Aussicht stellte, wollte keine rechte Freude aufkommen.

»Wenn Tante Pottchen nicht dabei ist, macht es keinen Spaß.«

Zwei Tage später traf Frau Schrempf im Hause des Arztes ein. Obwohl sie nett und liebenswürdig war, merkte Goldköpfchen bald, wie wenig gern sie es sah, daß eine Fremde im Hause ein- und ausging, zumal sich Ida auch jetzt noch mit Fragen an Frau Wendelin wandte. Da kündete sie den Kindern an, daß sie nach Dillstadt fahren müsse.

»Ich bringe jedem ein hübsches Spielzeug mit. Sagt mir, was ihr haben wollt, oder schreibt es mir.«

»Ich will kein Spielzeug«, erwiderte Fritz trübe. »Ich will nur, daß du hierbleibst.«

Marlene weinte. Sie ließ sich nicht ausreden, daß die Mama überhaupt nicht wiederkomme. Damals, als die Mutter starb, war ihr auch gesagt worden, sie sei verreist. Und sie lag in der dunklen Erde. So würde es mit Mama Pottchen auch sein.

Schließlich kam doch der Tag heran, an dem Goldköpfchen den Kindern sagte, sie fahre heute nachmittag für acht Tage nach Dillstadt. In Stefans Gesicht kam ein häßliches Zucken:

»Nun brauche ich nicht mehr artig zu sein. Ich bin nur artig, wenn du hier bist.«

»Ich werde Fräulein Retting fragen, wenn ich zurückkomme. Derjenige, der am bravsten während meines Fortseins gewesen ist, wird mir der Liebste von euch sein. Sie, liebes Fräulein Gertrud, schaffen sich ein Büchlein an und machen jeden Tag Striche und Sternchen hinein. Jedes Kind, das etwas Liebes und Gutes tut, bekommt einen Stern; wenn eines aber unartig ist, gibt es einen dicken Strich. Komme ich zurück, sehe ich mir das Buch an und weiß dann genau, wer mich am liebsten hat und wer mir Freude machen wollte.«

Goldköpfchen war das Herz schwer, als sie das Haus verließ. Stumm, als habe man ihnen schweres Leid zugefügt, hatten ihr die beiden Knaben zum Abschied die Hand gereicht, sie nicht einmal angesehen. Marlene dagegen schluchzte jämmerlich, ebenso die kleine Adele. Zwar wußte sie noch nicht recht, aus welchem Grunde, aber sie weinte mit.

Bärbels letzter Weg vor der Abreise galt dem Friedhof. Auf dem Grabe des Gatten blühten die Rosen. Neben dem hohen Stein, einem Geschenk der Eltern an Goldköpfchen, standen rechts und links Hochstämme, beide überreich mit Knospen und Blüten. Lange blieb Goldköpfchen an dem geliebten Hügel sitzen, innerlich mit ihrem Harald Zwiesprache haltend. Ob er wohl zürnen würde, daß sie seine Kinder jetzt ein wenig hinter denen des Arztes zurückstellte? Ach nein! Sie kannte seinen Wahlspruch: Erst die Not anderer! Nicht an sich selbst denken.

Da Goldköpfchen nicht genau wußte, an welchem Tage sie abreisen würde, hatte sie erst heute früh ein Telegramm an die Eltern gesandt, um ihre Ankunft zu melden. Sie fürchtete noch immer, daß im letzten Augenblick etwas dazwischenkommen könne, etwas, das die Reise zu Wasser werden ließ. Nun saß sie endlich in der Eisenbahn und gab sich der Freude hin, die Eltern, Bruder Kuno und die Kinder wiedersehen zu können. Sie wollte sich die Freude des Ferienaufenthaltes nicht trüben lassen durch Befürchtungen für ihre Pfleglinge. Außer dem netten Fräulein Retting wachte die treue Frau Leuschner über die kleine Schar. Es mußte ohne sie gehen! Kehrte sie wieder nach Heidenau zurück, würden sich die Kinder an ihr neues Fräulein gewöhnt haben und Tante Pottchen nicht mehr so sehr vermissen. – –

Wieder war am Morgen in Dillstadt die Post eingelaufen, ohne daß ein Brief von Goldköpfchen eintraf. Apotheker Wagner, der alltäglich die Postsachen in Empfang nahm, erhielt sie in letzter Zeit stets durch Hermann und Jürgen, da beide Knaben jeden Morgen und jeden Nachmittag dem Postboten an der Gartentür auflauerten. War ein Brief von der Mutter dabei, so erscholl ein Freudengeheul. Es verstummte, wenn man erfuhr, daß die Mutti ihr Kommen wieder hinausschob.

Vor wenigen Tagen war von Hermann ein Brief an die Mutter abgegangen, eine Anfrage, ob sie nicht bald käme. Hier wäre ein junges Pferdchen zu sehen. Jürgen hatte einen Brief an Fritz Kirschner beigelegt, mit der Drohung, ihn mächtig zu verhauen, wenn er die Mutti nicht endlich reisen lasse. Beide Knaben waren der festen Überzeugung, daß die Ersehnte daraufhin sogleich eintreffen werde. Doch vorgestern warteten sie vergeblich; auch gestern war nur eine Karte gekommen, mit der Nachricht, daß die Mutti bald eintreffen werde.

»Bald ist heute«, meinte Erna, und lief stundenlang im Garten umher, immer auf die Mutti wartend.

»Bald ist gar nicht bald«, sagte Jürgen grimmig. »Bald ist noch lange nicht. Wenn die Mutti bald schreibt, wird es vielleicht gar nichts werden. Aber den Stefan verhaue ich doch.«

Auch heute mit der Post war wieder keine Anmeldung der Mutti gekommen.

»Schlimm, sehr schlimm!« murmelte Hermann. Dann ging er zur Großmutter und wollte wissen, ob seine Mutti bei den fünf Kirschnerschen Kindern bleiben müsse.

»Sie wird schon kommen«, tröstete Frau Wagner, »ihr müßt nur Geduld haben.«

»Ich habe schon so viel Geduld gehabt, Großmama, daß ich jetzt wirklich keine mehr haben kann.«

Dann spielten die drei, wie immer, des Vormittags im Garten des Apothekers. Da stand das Leinenzelt, mit bunten Fähnchen geschmückt, da ließ sich Großpapa Wagner mit der dicken Wäscheleine ganz hinten im Obstgarten an den Baum binden, um später von Lederstrumpf befreit zu werden. Man hatte ihn im hintersten Winkel des großen Obstgartens festgebunden. Dort mußte der gute Großpapa in der heißen Sonne braten.

»Nicht lange«, flüsterte ihm Hermann zu. »Ich gehe gleich zum Angriff über. Ich hole nur ganz fix meine Waffen.«

Er kam zurück ins Zelt. Dort war Erna gerade dabei, mit einer alten Gardine ihr Gesicht zu verschleiern, weil auch sie die Befreiung des Weißen mit vornehmen wollte.

»Eine echte Indianerin muß ihr Gesicht verschleiert haben«, sagte Jürgen. »So – nun können wir losgehen. Ich bin die Nachhut und passe auf, daß uns von rückwärts kein Angriff droht.«

Als die drei im Gänsemarsch das Zelt verließen, hörten sie die Gartentür quietschen. Das war der Briefträger.

»Ein Telegramm, es wird wohl von eurer Mutter sein.«

Die Waffen flogen zur Erde, desgleichen der Schleier. Die drei Kinder rissen dem freundlichen Briefträger das Telegramm aus der Hand und stürzten damit in die Apotheke zu Onkel Kuno.

»Mach fix auf, Onkel Kuno, sonst kommt die Mutti und wir sind nicht auf dem Bahnhof.«

»Ja, die Mutti kommt heute abend.«

»Unsere Goldmutti kommt endlich! Unsere allerbeste Mutti der Welt kommt heute abend!«

Die Apotheke wurde von dem lauten Rufen der drei Kinder erfüllt. Frau Wagner wurde fast umgerissen.

»Eine Girlande müssen wir an die Tür machen, Großmutter!«

»Und ich male einen Zettel mit Willkommen!«

»Großmutter«, rief Erna, »komm, wir gehen gleich Blumen pflücken!«

»Großmutter, dürfen wir in den Wald laufen und Grün holen?«

»Jetzt nicht, es gibt in zehn Minuten Mittagessen.«

»Zehn Minuten sind furchtbar lang, Großmutter. Bis dahin haben wir alles besorgt. – Großmutter, wir kaufen auch Schokolade für die Mutti.«

»Großmutter, laß mich rasch mal zum kleinen Pferdchen gehen, es muß ein Blumenbüschel an den Schwanz bekommen, denn die Mutti wird es doch gleich sehen wollen.«

»Und um den Karnickelstall mache ich auch eine Girlande!«

Die beiden Knaben liefen davon. Auch Erna hörte nicht auf das Rufen der Großmutter und eilte hinterher.

Nun standen die Kinder alle drei im Stall und betrachteten entzückt das kleine Pferdchen. Vergessen war das Mittagessen, vergessen der gute Großvater, der schon mehrmals laut nach Hermann gerufen hatte. Niemand hörte ihn, der Obstgarten war viel zu groß.

»Na, mein Lederstrumpf wird doch endlich kommen. Es muß doch längst Mittagszeit sein.«

Herr Wagner versuchte vergeblich sich von seinen Fesseln zu befreien, die Knaben hatten die vierzig Meter lange Wäscheleine um ihn geschnürt und fest verknotet. In seiner grenzenlosen Gutmütigkeit hatte er sich noch obendrein die Hände zusammenbinden lassen, so daß es ihm unmöglich war sich zu befreien.

Im Hause wartete Frau Wagner. Die Kinder waren manchmal nicht pünktlich, heute jedoch schienen sie in ihrer Freude alles zu vergessen. In Goldköpfchens Haus herrschte zwar peinliche Ordnung, doch in Dillstadt führten die Großeltern während der Enkelbesuche kein so strenges Regiment. Sie drückten gern ein Auge zu, wenn die Kinder ihre Streiche trieben. Deswegen war es auch so wunderschön in der Apotheke.

Der Hausdiener wurde beauftragt, im Keller nach den Kindern zu suchen. Dort versteckten sie sich oftmals. Unverrichteter Sache kam er zurück, so mußte das Essen warmgestellt werden.

»Auch mein Mann kommt heute nicht«, sagte Frau Wagner. »Vielleicht ist er rasch noch einmal mit den Kindern fortgegangen, um etwas für den Empfang unseres Goldköpfchens zu besorgen.«

Mit fünfzig Minuten Verspätung stellten sich endlich die kleinen Missetäter ein, atemlos vom schnellen Laufen. Hermann und Jürgen hatten die kleine Erna in ihre Mitte genommen und im Galopp mitgeschleift.

»Es ist ein bißchen später geworden, Großmutter. Aber wenn du das niedliche Pferdchen gesehen hättest – Großmutter, wir essen auch kalte Kartoffeln furchtbar gern.«

»Wartet nur, Kinder, ich werde eurer Mutti sagen, daß ihr heute unpünktlich gewesen seid.«

Frohes Lachen brach los. »Ich glaube dir nicht, Großmutter. Du sagst es nicht, hast ja erst gestern zum Onkel Major gesagt, du hast drei prächtige Enkelkinder. Ich habe es ganz genau gehört. – So, Großmutter, nun essen wir und ich erzähle vom kleinen Pferdchen.« Die Kinder riefen alle durcheinander.

»So ist es hin und her gesprungen«, rief Erna und begann im Zimmer umherzuhüpfen, »und mit dem Schwanz hat es immer gewackelt. – Großmutter, genau so ein Pferdchen mußt du mir zu Weihnachten schenken.«

Die drei sprachen beständig von dem Pferdchen, dann von der Mutti, die vielleicht schon im Zuge säße.

Frau Wagner fragte die Kinder, ob sie den Großvater denn nicht gesehen hätten. Kuno meinte, ein Herr sei vorhin gekommen, doch wisse er nicht, ob der Vater mit ihm fortgegangen sei.

»Im Garten habe ich Herrn Wagner gesehen«, sagte der Hausdiener.

So beruhigte sich Frau Wagner, daß ihr Gatte mit einem Bekannten fortgegangen sei und setzte sich ohne ihn zum Essen nieder.

Immer wieder tönten die Stimmen der Kinder durcheinander: »Wann kommt die Mutti? Wo mag sie jetzt sein?«

»Der Großvater ist noch unpünktlicher als wir«, rief Jürgen plötzlich. »Siehst du, Großmutter, wir waren nicht die letzten.«

»Der Großvater hat sicherlich etwas Wichtiges vor.«

Jäh ließ Hermann den Löffel sinken. »Wo ist denn der Großvater? War er vorhin hier?«

»Nein.«

»Hast du ihn auch nirgends gesehen, Großmutter?«

»Nein, Hermann, er hat doch mit euch im Garten gespielt.«

»Oh – – oh – – Großmutter. Ich muß mal raus!«

»Du bleibst hier, Hermann!«

»Großmutter – – Großmutter – –« Hermann ließ sich nicht zurückhalten. Er überhörte das zweite Verbot, lief wie ein Wilder durch den Garten, hin zu dem letzten Birnbaum. Dort stand der arme Großvater festgebunden und an den Händen gefesselt, dicke Schweißtropfen im Gesicht, in das die pralle Sonne schien.

»Ach, Großvater – –«

»Ist das eine Art und Weise, mich hier so lange stehenzulassen«, zürnte der Apotheker.

Hermann fühlte sich tief beschämt. »Großvater, ich bin ein schlechter Kerl. Aber die Mutti kommt heute. Ein Telegramm wurde gebracht, da hab' ich nicht mehr an dich gedacht. Sei nicht böse, lieber Großvater! Denke doch, die Mutti kommt, heute schon. Großvater, wenn sie wieder fort ist, kannst du mich einsperren. Ach, es tut mir so leid.«

Als der Großvater das bekümmerte Gesicht seines ältesten Enkels sah, brach sein Groll zusammen. Freilich, wenn Goldköpfchen eintraf, vergaßen die Kinder darüber alles, sogar den an den Baum gebundenen Großvater.

Wagner rieb sich die schmerzenden Arme. Auch die Handgelenke wiesen rote Striemen auf, denn er hatte oft an den Fesseln gerissen, um sich zu befreien. Hermann sah es und strich liebevoll darüber hin.

»Ich sehe es ein, lieber Großvater, ich bin noch kein Mann, der alles reiflich überlegt. Ich bin noch ein dummer Junge und nicht wert, Muttis Berater und Miterzieher zu sein.«

Frau Wagner machte erstaunte Augen, als Hermann mit dem Großvater ankam. Jürgen stieß einen Schrei aus. »Biste bis jetzt am Baum gewesen, Großvater?«

Nun klärte sich alles auf. Frau Wagner machte den Kindern ernstliche Vorwürfe, doch der Großvater beschwichtigte schon wieder.

»Da heute die Mutti kommt, haben sie alles vergessen.«

Ganz heimlich strich Hermann dem Großvater unter dem Tisch über die Hand. »Ich weiß es, lieber Großvater, du bist ein edler Charakter.«

Die guten Sonntagsanzüge wurden angelegt, Erna bekam das weiße Kleidchen mit der hellblauen Schärpe an. An der Haustür prangte eine Girlande, die der gutmütige Herr Wagner gewunden hatte. Im Fremdenzimmer standen neun Blumensträuße. Alle Vasen aus dem Hause waren von den Kindern zusammengetragen worden. Die schönste wurde dabei zerschlagen. Auf die Zimmerschwelle hatte Erna Rosenblätter gestreut und auf das Bett eine rote Rose gelegt. So glaubten die Kinder alles getan zu haben, um die Mutti würdig zu empfangen.

»Brauchst nicht mit auf den Bahnhof zu kommen, Großmutter«, sagte Jürgen. »Wenn die Mutti uns dreie hat, hat sie genug. Nachher fragst du immerfort und wenn Große reden, müssen wir stille sein. Das macht aber keinen Spaß, Großmutter. – Bitte, bleibe doch daheim, wir drei wollen unsere liebe Mutti allein abholen.«

»Der Großvater wollte auch mitkommen.«

»Ach nein, der Großvater ist heute leidend, ihm tun die Arme von den Stricken noch weh. Er soll sie mit einer Salbe aus der Apotheke beschmieren. – Liebe, silberne Großmutter, bleib doch daheim.«

So beschlossen Wagners, die drei Kinder allein zum Bahnhof gehen zu lassen.

»Wollt ihr denn jetzt schon gehen«, fragte Herr Wagner, als die drei schon eine Stunde vor Ankunft des Zuges fix und fertig im Garten standen.

»Wir gehen nicht gleich zum Bahnhof, Großvater. Wir gehen über die Mühlenteichwiese; dort pflückt jeder noch einen Strauß Feldblumen. Damit empfangen wir die Mutti.«

»Nehmt lieber aus dem Garten Blumen mit und bleibt hier bis es Zeit ist.«

»Sie hat doch Wiesenblumen so gern, Großvater. Für unsere Goldmutti ist das schönste gerade gut genug. Laß uns doch über die Mühlenteichwiese gehen.«

»Meinetwegen, doch paßt gut auf.«

So liefen die Kinder davon. Um den Mühlenteich standen die schönsten Blumen. Als jedes der Kinder einen großen Strauß gepflückt hatte, beschlossen sie, den Weg zum Bahnhof einzuschlagen.

»Nun rasch noch die große rote Blume«, rief Erna, »sie wird die Mutti ganz besonders freuen.«

»Die laß nur stehen«, sagte Hermann, »sie wächst zu dicht am Wasser.«

Doch Erna wollte durchaus die Blume haben, bückte sich, glitt aus und sank bis an die Hüften in den Morast ein.

»Ich ertrinke, ich ertrinke!«

Hermann besann sich keinen Augenblick. Er eilte der kleinen Schwester kurz entschlossen nach und holte Klein-Erna heraus. Schuh und Strümpfe waren schwarz, von der hellblauen Seidenschärpe tropfte der Schlamm und auch Hermann war fürchterlich anzusehen.

»Wärst du nicht so schmutzig, ich würde dich mächtig hauen. Ich bin doch euer Erzieher. – Was machen wir nun?«

Erna weinte, Jürgen betrachtete kritisch die Geschwister. »Nein, so könnt ihr nicht auf den Bahnhof gehen. Ich gehe allein.«

Es folgte längeres Beraten auf der Wiese. Mit Hilfe von Gras und Blättern versuchte Jürgen Erna zu reinigen. Hermann wälzte sich in dem weichen Wiesengras herum, damit wenigstens der größte Schmutz von den Schuhen und Strümpfen abging, doch blieb den Kindern nichts anderes übrig, als wieder heimzugehen.

»Nun wird die Großmutter doch mitkommen«, sagte Jürgen.

Frau Wagner stieß einen Ruf des Entsetzens aus, als sie die beiden unsauberen Enkelkinder ankommen sah. Dann gab es ernsthafte Vorwürfe.

»Ihr holt die Mutti nicht ab, das ist eure Strafe. Ich gehe mit Jürgen zum Bahnhof.«

Hermann und Erna wurden umgezogen. Nun standen sie im Garten und warteten auf Goldköpfchen.

»Du bist schuld daran«, grollte Hermann und puffte die Schwester in die Seite. »Deinetwegen muß ich auf mein großes Glück verzichten. – Ach, es ist doch schwer, ein Erzieher zu sein.«

Endlich war es soweit. Goldköpfchen kam die Straße daher. Da stürmten Hermann und Erna auf sie zu. Unzählige Liebkosungen mußte die Mutter über sich ergehen lassen. Die Kinder drängten sich an die Ankommende.

»Viele, viele hundert Stunden habe ich meine liebe Mutti nicht mehr gesehen. Doch nun bist du endlich da. Jetzt erst wird es in Dillstadt ganz schön sein.«

Hermann hatte ein schlechtes Gewissen. Er wartete darauf, daß die Großmutter von dem Morast, der Großvater von dem Birnbaum erzählen würde. Doch keiner von beiden berichtete darüber. Trotzdem bedrückte es den Knaben. Am Abend zog er die geliebte Mutti in den Erker.

»Mutti, jetzt möchten wir endlich mal was besprechen. Goldmutti, es ist manches Wichtige vorgefallen.«

»So, Hermann? Erzähle.«

Da berichtete er wahrheitsgetreu von seiner großen Pflichtenverletzung, von dem Großvater, der gewiß jetzt noch rote Striemen an den Armen habe und beinahe vom Sonnenstich befallen worden wäre. Vom Mühlenteich, von den Püffen, mit denen er die Schwester bedacht hatte und von vielen anderen kleinen Erlebnissen.

»Bist du sehr böse, Mutti? Ach, ich wollte doch alles immer recht gut machen.«

»Nein, ich bin nicht böse, mein lieber, lieber Junge! Ich bin sehr glücklich, daß ich euch alle frisch und gesund wiederhabe.«

»Und morgen mache ich dir eine besondere Freude. Morgen gehen wir zum Pferdchen und zu den Kaninchen.«


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