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Der Blinddarm

Als der König sich in der Zwischenpause der Galaoper erhob, fühlte er wieder einen furchtbaren Schmerz in der rechten Beckengegend, als ob ein Messer in seine Eingeweide fahre. Kaum daß er seine Mienen in der Gewalt behielt, um sich nicht zu verraten.

Der Hofarzt war in der Nähe. Und da der Schmerz nicht wich, sondern periodisch wiederkehrte, und er all die Tage mit den geladenen Gästen sprechen mußte, und auch für morgen ein großer Empfang bevorstand, ließ er dem Leibmedikus sagen, er möge sich nach Schluß der Vorstellung in einer wichtigen Angelegenheit im Palais einfinden.

Vielleicht ging es vorüber. Denn auch schon gestern hatte er an derselben Stelle einen gelinden Druck verspürt, und in der Nacht war er zweimal erwacht. Aber er schob es auf die Galatafel, die am Abend stattgehabt hatte, wo er mehr zu sich genommen hatte als gewöhnlich. Das bekam ihm öfters schlecht.

Nun saß er wieder in der großen Königsloge, beugte sich ein wenig vor und tastete mit der rechten Hand an die Stelle, wo es ihn schmerzte im gleichen Augenblick, als das Haus dunkel ward und der Vorhang sich hob.

Ihm fiel ein, ob es der Blinddarm sein könne. Aber er war nicht sicher, ob der auf der rechten oder linken Seite des Unterleibs saß. Er wußte nur, daß jeder Mensch solch ein überflüssiges Anhängsel besaß, und viele Leute ihn sich herausschneiden ließen, wonach sie wieder ganz gesund wurden, während sie früher meist ohne Operation daran glauben mußten.

Er wollte der Königin gern sagen, wie es um ihn stand, daß er am liebsten aufbrechen oder doch hinausgehen möchte. Es konnten ja wichtige Staatsdepeschen angekommen sein; aber da hätte er erst den Intendanten verständigen müssen, damit der die kleine Komödie aufführte. Der aber war schon wieder verschwunden und saß auf seinem Posten unten in der Proszeniumsloge, und kam erst im Zwischenakte wieder herauf.

Es ging nicht. Er mußte bis dahin aushalten. Herrgott, das mußte doch zu ertragen sein! – Allein der Schmerz war so intensiv, daß er am liebsten recht aus Herzensgrunde gestöhnt hätte. Jedoch das durfte ein König nicht; und dann war es auch gerade bei der lyrischsten Stelle der ganzen Oper, – und all die tausend Menschen hielten vor Entzücken den Atem an; und erst, als sich die Spannung in lautem Applaus löste, getraute er sich, einen schwachen Seufzer in das Getöse des Beifalls auszustoßen. Da war ihm wohler. Inzwischen ging das Spiel weiter, und schien kein Ende zu nehmen. Aber endlich kam doch die Pause, und er konnte aufstehen, und sich erst mal in den Hintergrund der großen Loge begeben. Da war der Schmerz plötzlich wie weggeblasen.

Das war doch zu merkwürdig! Das Stechen hatte aufgehört. Er legte die Finger an die rechte Seite, da tat es noch etwas weh, wenn er drückte; sonst aber ging es ganz gut.

Nun hatte er Angst, sich wieder zu setzen; aber auch das ging. Und erst als die Oper zum Schlusse kam, begann es wieder. Als er dann geklatscht und sich vor dem Publikum rasch ein klein wenig verneigt hatte, und nun langsam die Treppe hinabstieg, faßte er nach dem Arm des Intendanten und fragte, ob auch der Exzellenzarzt beordert sei.

Erst im Wagen drunten konnte er sich gehen lassen, legte sich in eine Ecke, unbekümmert um die Neugierigen, die von den Schutzleuten kaum in Bann gehalten, die Hüte in der Hand in den Wagen starrten, und dann bei der Abfahrt in brausende Hochrufe ausbrachen. Ach, was ging ihn das jetzt an.

Die Königin erschrak und fragte ihn, was er habe. Er krümmte sich ja, als ob er vergiftet sei.

Anfangs konnte er ihr nicht antworten, dann erklärte er ihr genau was er hatte. Aber auch sie war ungewiß, ob auf der rechten oder der linken Seite der gefürchtete Blinddarm saß. –

Ganz vorsichtig stieg er die Treppe hinauf, bei jedem Schritt tat es ihm weh. Oben riß er sich den Waffenrock ab, ehe der Diener ihm noch helfen konnte, warf eine Litewka um und zog sich zurück; aber da wurde es ganz schlimm.

Er kam zurück, und legte sich lang auf die Chaiselongue, preßte die Hand auf die Stelle, wo der Schmerz bald unerträglich war, bald wieder etwas nachließ, und stöhnte trotz der Anwesenheit des Kammerdieners nach Herzenslust, bis endlich der Generalstabsarzt und Leibmedikus kam, und seine Untersuchung vornahm.

Aber schon nach der ersten tastenden Prüfung erklärte er, da scheine ihm Gefahr im Verzuge. Da mußte man eine Autorität rufen. Das übernahm er nicht allein. Dazu gehörte ein Chirurg, und er empfahl Professor Limburg, der täglich seine zehn bis zwölf Operationen machte, und der allein entscheiden konnte, was geschehen sollte.

Auch die Königin kam, und war ganz entsetzt über das, was sie hörte. Die Herren vom Dienst wurden zitiert, und auf Veranlassung des Leibarztes wurden die Minister herbeigerufen; denn wenn es zu einer Operation kam, mußten sie zuvor gehört werden. Vielleicht mußte eine Regentschaft eingesetzt, oder sonstige Anordnungen getroffen werden.

Automobile waren ausgeschickt, den Professor zu holen und noch einen anderen berühmten Arzt, der gleichfalls Spezialist für Blinddarm war, – und eine Stunde später war alles versammelt.

Professor Limburg hielt eine Operation für dringend erforderlich. Es war Gefahr vorhanden. Auch die andere Autorität war der Meinung, daß man einen Eingriff nicht verschieben dürfe. Bis zum Morgen konnte man nicht warten. Jetzt war noch die Möglichkeit eines guten Ausgangs; sechs oder sieben Stunden später konnte die Eiterung so weit sein, daß es ans Leben ging.

Seinem Assistenten, einem jungen Manne mit blassem bartlosen Gesicht, hatte der Professor gesagt:

– Bitte, Herr Kollege, überzeugen Sie sich, genau wie die beiden letzten Fälle von heute nachmittag.

Das war eine ihm geläufige Redensart, bei der er sich nicht viel dachte.

Einen Augenblick zögerte der junge Doktor Robert, dann legte er die zitternden Finger auf den gestrammten Bauch des Königs, der hilflos und wie in alles ergeben mit entblößtem Unterkörper da inmitten all der fremden Männer lag, die sich in lateinischen Formeln über ihn so rasch unterhielten, daß dem König sein einst so gerühmter Besuch des Gymnasiums nicht viel zum Verständnis nützte. Er war eben ganz in den Händen der Ärzte.

Er blickte hoch und gerade in das Gesicht des jungen blassen Assistenzarztes. Ihm war so, als hätte er den schon irgendwo einmal gesehen; aber es konnte auch ein Irrtum sein. Die Augen des jungen Doktors blickten ihn so seltsam an, als wollten sie ihm die Gedanken von der Stirn ablesen, aber er hatte in diesem Augenblicke nicht einen klaren Gedanken; alles tanzte um ihn; und vergebens stellte er sich vor, was mit ihm geschehen würde. Es war ihm alles gleich; Schlimmeres konnte es nicht geben als die Schmerzen, die ihn in der Oper und nachher gepeinigt hatten.

Der junge Doktor Robert stand noch immer da, und blickte den König an, dessen Bauch wieder zugedeckt war, auf dem er eben seine Finger gehabt hatte. –

Wenn ihm das heute nachmittag jemand gesagt hätte, würde er entsetzt gewesen sein. Er ... einen König in all seiner Blöße vor sich liegen sehen, hilflos in Schmerzen vor sich zu haben, diesen König, den er so oft hatte in großem Pomp an sich vorbeiziehen sehen, den er von Ferne kannte als eine unnahbare Majestät, als etwas so Erhabenes, vor dem alle in Ehrfurcht sich beugten, die nicht von Haus aus Königsverächter waren, – auf dessen Worte die ganze Welt hörte und sich nur zu oft danach richtete.

Eben war er noch der Mittelpunkt der Galaoper gewesen.

Und eine halbe Stunde später, als der Kronrat abgehalten und die Operation beschlossen war, – als der Wortlaut dieser Entschließung für das Volk feststand, da lag dieser stolze Herrscher vor ihm, wie irgend ein einfacher Mensch, nicht anders als der arme polnische Erdarbeiter heute früh, den er selbst allein operiert hatte; lag nackt vor ihnen, hilflos, mit einer ganz kläglichen Miene, – und warf ihm einen so eigenartig verstörten Blick zu, als er das Chloroform auf die Maske brachte und ihn die Betäubung einatmen ließ, daß ihm das Herz fast still stand.

Er war es, der den König hilflos machte, er fühlte ihm auch den Puls; aber als er ihn betäubt hatte, da gab er seine Funktion an eine der beiden Schwestern ab, die mitgekommen waren, denn der Professor war es gewöhnt, daß er ihm assistierte, während der Kollege sich darauf beschränkte, nun seinerseits den Puls abzufühlen und die Narkose mit dem Generalstabsarzt zu überwachen. –

Und Doktor Robert stand jetzt ganz wie sonst dabei, als der Professor mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit seinen Schnitt machte. Rasch legte er das Innere bloß, und ohne ein Wort hantierte er, und mechanisch half er selbst seinem Meister, wie er das gewohnt war.

Es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen. Lautlos ging das alles vor sich, und auch die Schwester war stumm, und reichte die Instrumente. Aber seine Blicke hafteten doch suchend auf den Eingeweiden des Königs, und er sah keinen Unterschied. Alles war genau so wie beim niedrigsten seiner Untertanen. Nur war die Entzündung schon sehr weit, und es war höchste Zeit gewesen, daß eingegriffen wurde.

Als die Operation vorbei war, nahm Doktor Robert das Stückchen Blinddarm in einem Glasgefäße mit; denn es sollte aufbewahrt und präpariert werden für die Nachwelt. –

Aber in der Klinik kitzelte es ihn plötzlich, dieses Fetzchen von einem Könige für sich zu behalten. Es war ein stummer Kampf mit sich; dann siegte seine schlechtere Gesinnung, und er vertauschte das Stück mit dem Blinddarm des polnischen Arbeiters, den er heute operiert hatte, und lieferte dieses untergeschobene Präparat zur ewigen Aufbewahrung ab.

Er hatte alle Ehrfurcht und Achtung vor der Majestät verloren. Es war ja ganz gleichgültig, was die da in ihrem Museum aufbewahrten. Irgend einen Unterschied gab es nicht.

Ihm aber war das Darmfetzchen eines Königs alles wert, denn diese Stunden hatten ihm, der nie an sich geglaubt, einen starken Halt gegeben, daß er das sichere Gefühl hatte, seine Hand würde nun nie mehr zittern, wen er auch je unter seinem Messer haben mochte.

Er hatte die menschliche Schwäche auch auf dem Throne gesehen.

Nun war ihm alles gleich. Er brauchte nur an den stolzen Augenblick zu denken, da er dem Professor kaltblütig geholfen hatte, den König seines Blinddarms zu berauben, der nun wohlverwahrt in der Ecke seines Schrankes stand, und den er hervorholte, wenn er einmal trüben Sinnes war, um sich ohne sonderliche Gewissensbisse seines frevelvollen Tausches herzlich zu freuen.


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