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Nachwort des Übersetzers.

»Polikuschka« ward im Jahre 1861 auf der Rückreise aus England in Brüssel geschrieben, wo Tolstoi einen vierzehntägigen Aufenthalt nahm, um den Sozialisten Proud'hon zu besuchen, an den ihn Herzen in London empfohlen hatte. Die Veranlassung zu dieser Novelle liegt indes viel tiefer: Tolstoi hatte eben erst, in London, die Nachricht von der Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten und gleichzeitig von seiner Ernennung – für seinen Bezirk – zum »friedlichen Vermittler« in der Regelung der Beziehungen zwischen den ehemaligen Seelenbesitzern und den ehemaligen Leibeigenen. Es scheint nun, als wolle Tolstoi in »Polikuschka« noch einmal das ganze empörende Unrecht der Leibeigenschaft wachrufen, in seiner alle menschlichen Beziehungen vergiftenden Wirkung. Er weist hier nach, daß gerade die beabsichtigte Wohltat, und zwar eine solche, die menschlich richtig und dem russischen Volke gegenüber besonders am Platze ist: die sittliche Aufrichtung durch erwiesenes Vertrauen, daß gerade eine solche Wohltat bei den Beziehungen von Seelenbesitzern und Leibeigenen zum Verderben ausschlagen muß – und zwar trotzdem sie im wesentlichen gelang – wenn nur ein ganz kleiner, dummer Zufall hinzutritt. Es ist wohl nie gewagt worden, eine solche Fülle richtig gehörter sozialer Falschtöne in einem Buche zu geben, wie das hier geschieht, und so nahe an das zu schreiten, dem wir sonst überall ängstlich aus dem Wege gehen: an das Herzzerreißende.

Zudem ist der Ton des Ganzen für Tolstoi völlig ungewohnt und kehrt auch in seinem ganzen Werke niemals wieder. Es ist eine böse, witzelnde Ironie über dem Ganzen ausgebreitet. Soweit es sich dabei, im ersten Teile der Novelle, um die Schilderung des Leibeigenenelendes handelt, wirkt das nur erschütternd: man erlebt, wie der Dichter blutet unter der Not seines Volkes und darüber selbst sein künstlerisches Maßhalten einbüßt. Aber später, nach geschehenem Unglück, werden einzelne der Leibeigenen, zweifellos aus persönlicher Erfahrung, derart erbärmlich hingestellt, in ihrer sklavischen Liebedienerei und in ihrem herzlosen Eigennutz, daß man hier schon nicht mehr den Eindruck hat, als wolle der Dichter ausschließlich die Korruption durch das System der Leibeigenschaft zum Ausdruck bringen. Es liegt hier zweifellos Lieblosigkeit vor. Tolstois Künstlertum blieb davon unberührt: alles, was er da schildert, kann so sein, ja, ist so bei einer gewissen Einstellung des Auges. Wir waren aber an eine tiefere Einstellung auf die Menschen bei diesem Dichter gewöhnt: bis dahin, wo alle Schuld sich in Leid auflöst, und die nackte Not der Liebe die Arme entgegenstreckt! Hier findet Tolstoi diese Einstellung nicht. Der Mensch im Dichter ist noch zu zerrissen: denn was hier an Volksnot geboten wird, empfindet er selber als rein persönliche Schuld. Auch er war Seelenbesitzer, auch er lebte damals noch von der Not seiner Leibeigenen, auch bei ihm erlebten sie namenloses Elend, und er hatte sie nicht freigegeben bis zur gesetzlich befohlenen Freilassung – trotzdem er damals schon aus tiefster Überzeugung Proud'hon beistimmen konnte in der Verdammung aller Besitzer!

Hier erkennen wir so recht als typisches Merkmal Tolstoischen Schaffens und vielleicht als das Moment, das sein Künstlertum aufs höchste emporpeitschte, den Zwiespalt, der in ihm lebte zwischen intuitiver Erkenntnis und praktischer Weltanschauung. Nur in ersterer fand er den Ausgleich für die letzten Bedürfnisse seiner Seele, und er fand sie nur in der Dichtung. Andererseits ließ ihn gerade der Umstand, daß er nur dichtend sehend ward, diesem seinem Sehen mißtrauen. Später suchte er dann diesen Ausgleich auch im Leben herbeizuführen – und das geschah wiederum auf Kosten seiner intuitiven Erkenntnis. Der spätere Sozialprophet ist rein geistig genommen ein unendlicher Rückschritt gegen den Dichter von »Krieg und Frieden« und »Anne Karenina«.

Tolstois eigentliches Schicksal – und überhaupt das Schicksal des geistigen Rußlands – war aber gerade die Leibeigenschaft. Hier erlebte er sich persönlich mit dem Schicksal seines ganzen Volkes verflochten und gerade durch das für vornehme Seelen machtvollste Medium: das Bewußtsein der Schuld. Früh schon ahnte er sie. Um ihr ins Auge sehen zu können, hätte er aber alle die, die er liebte und verehrte, mitschuldig finden müssen. Das konnte er nicht. So entfloh er seiner Schuld in den Kaukasus, zur Armee, nach Sewastopol Vergleiche mein Nachwort zu »Der Morgen eines Gutsbesitzers«. Inselbücherei Nr. 136.. Aber die Schuld ging mit ihm und ward schwerer und schwerer, je tiefer er – gerade im russischen Soldaten – die Würde derer erkannte, vor denen er sich schuldig wußte. Rein dichterische Versuche, diese Schuld zu begleichen, Tolstois erste Bauernschule vor seiner Heirat, gaben nur noch tiefere Einblicke in das Wesen dieser Schuld. Das erleben wir in der erschütternden Hilflosigkeit des Dichters in dem »Journal von Jasnaja Poljana«. Er will da seinem Volke Heilung bringen und erkennt dabei erst, daß das Übel, das er heilen will, eigentlich ohne Ende ist. Und so kommt er denn zu dem grotesk tragischen Paradox: in einem Buch, das der Volksbildung dienen soll, diese an sich für völlig wertlos und das Streben nach ihr für schmähliche Heuchelei zu erklären!

So stand es um Tolstoi, als die Leibeigenschaft gesetzlich aufgehoben ward (worüber er sich bekanntlich gar nicht gefreut hat). Für ihn war sie natürlich damit auch gar nicht aufgehoben. Er hatte viel zu tief hinter ihre Kulissen geblickt. Sie war und blieb ihm das Menschenunglück, das Symbol aller Menschennot. Und in dieser Anschauung bestärkt ihn unverkennbar ein letztes Sträuben in seiner Seele, seiner ganzen persönlichen Schuld im Rahmen der Leibeigenschaft ins Auge zu sehen. Wir verstehen eigentlich erst, wenn wir den »Morgen eines Gutsbesitzers« und »Polikuschka« lesen, weshalb der spätere Prophet Tolstoi durchaus nicht in der Leibeigenschaft eine ganz besonders unerträgliche Form menschlicher Versklavung sehen wollte, ja sich sogar zu der Behauptung versteigt, jeder der Geld ausgibt, handle schlimmer als der Seelenbesitzer, weil er sich nicht mehr persönlich kümmere um die, die er für sich arbeiten lasse!

Im Dichterwerke Tolstois nimmt die Leibeigenschaft rein räumlich genommen einen viel geringeren Platz ein als in dem Werke irgendeines der großen russischen Dichter, deren Jugendzeit noch vor die Reform fiel. Tolstoi hat die Leibeigenschaft überhaupt nur in den erwähnten zwei Novellen behandelt; sogar in »Krieg und Frieden«, dessen Handlung dabei um die Blütezeit der Leibeigenschaft vor sich geht, spielt sie kaum als Hintergrund eine Rolle. Freilich in diesen beiden Novellen ist die Leibeigenschaft mit einer Tiefe und Intensität erlebt, wie nirgendswo sonst in der Weltliteratur irgendein menschliches Sklaventum. Die Bedeutung dieser Novellen geht denn auch weit über das rein Literarische hinaus: das sind Ansätze zur Ausfüllung einer Erkenntnislücke, die uns heute noch zu langwierigen Kulturumwegen zwingt: wir meinen unsere Unkenntnis vom Seelenleben der Sklaven.

»Polikuschka« bildet dabei insofern eine Ergänzung zum »Morgen eines Gutsbesitzers«, als uns dort ein erschöpfendes Lebensbild der Hofleibeigenen gegeben wird, während wir hier das Dasein der leibeigenen Bauern bis zum Nacherlebenmüssen deutlich erlebten. Dabei ist fast alles ins rein Menschliche gesteigert, und es finden sich vollendete Menschentypen: denken wir nur an den alten Dutloff und an Akulina, Polikeis Gattin.

Noch ein Wort über das Schicksal dieser Novelle. Sie blieb zunächst bei der rein politischen Erregung der russischen Geister in der großen Reformzeit unbemerkt und hat überhaupt nie die Bedeutung gefunden, die ihr im Lebenswerk Tolstois zukommt, wenn auch hier und da einmal angedeutet ward, daß »Polikuschka«, dem in ihm herrschenden Geiste nach, durchaus zu den Novellen der Prophetenzeit gezählt werden könnte – und zwar als einziges Werk aus der Vorbekehrungsperiode. Turgenjeff war freilich entzückt über »Polikuschka«, als die Novelle erschien. Er fand nur, daß der Tod des kleinen Kindes doch überflüssig sei, wenigstens als übertriebene Häufung erscheine. Das ist aber durchaus falsch: bei solcher häuslichen Beschränktheit, wie sie hier Tolstoi bei den Hofleibeigenen schildert, sind gerade solche Unfälle an der Tagesordnung, und heute noch spielen sie, namentlich bei dem russischen Stadtproletariat, dessen Wohnungselend beispiellos ist, eine entsetzliche Rolle. Tolstoi, der sonst absolut unempfindlich war gegen fremde Beurteilungen seiner Dichtungen, hier aber offenbar loskommen wollte von seiner Novelle, gibt Turgenjeff recht und nennt »Polikuschka« ein »dummes Geschwätz«. Polikuschka ist aber nicht nur ein Meisterwerk. Es ist ein Kulturdenkmal von unschätzbarem Werte, wie es nur ein Mensch von unendlichem Seelenreichtum zu schaffen imstande ist. Und auch bei dem verrät sich hier noch ein so intensives Mitleben mit den Leibeigenen – denn nur ein solches, das Jahrzehnte gewährt haben mußte, konnte so wörtlich genommen durch Mauern hindurch schauen daß schon dadurch allein alle sozialen Sünden dieses aufrichtigen Menschenfreundes und redlichen Gottsuchers gesühnt sein müßten.

Karl Nötzel.

 


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