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XI

Einige Minuten konnte man gar nichts herausbringen in der allgemeinen Bestürzung. Volk lief in Haufen herbei, alle schrien, alle sprachen durcheinander, Kinder und alte Frauen weinten. Akulina lag ohne Bewußtsein. Endlich gingen Männer, der Tischler und der herbeigeeilte Verwalter, nach oben, und die Tischlersfrau erzählte zum zwanzigsten Male, wie sie, an gar nichts denkend, hinaufgegangen sei wegen ihres Kleides und geschaut habe auf solche Weise: »Ich sehe – ein Mensch steht da; ich sah genauer hin: daneben liegt eine umgedrehte Mütze. Ich sehe hin, aber die Füße bewegen sich. So hat es mich auch mit Kälte umfangen. Ist es eine Kleinigkeit! Ein Mensch erhängte sich, und ich mußte das sehen! Wie ich nach unten polterte, weiß ich selber nicht. Auch ist es ein Wunder, wie mich Gott rettete. Wirklich hat mich Gott gerettet! Ist es eine Kleinigkeit! Und die steile Leiter, und eine solche Höhe! So hätte ich mich auch totschlagen können!«

Die Leute, die nach oben gegangen waren, erzählten dasselbe. Iljitsch hing am Dachbalken, nur in Hemd und Unterhosen, an ganz derselben Schnur, die er von der Wiege abgenommen hatte. Seine umgedrehte Mütze lag am Boden. Rock und Pelz waren ausgezogen und ordentlich daneben gelegt. Die Füße erreichten den Boden, aber Lebenszeichen gab er schon nicht mehr. Akulina war zu sich gekommen; sie wollte sich losreißen und wieder zur Leiter stürzen, man ließ sie aber nicht.

»Mütterchen, Sjemka hat sich verschluckt,« sprach plötzlich das lispelnde Mädchen aus dem Winkel. Akulina riß sich wiederum los und lief in den Winkel. Das Kindchen lag unbeweglich mit dem Gesicht nach unten in dem Waschfaß, und seine Füßchen rührten sich nicht. Akulina ergriff es, aber das Kindchen atmete nicht und bewegte sich nicht. Akulina warf es aufs Bett, stützte sich auf die Arme und brach in ein so lautes, schallendes und furchtbares Lachen aus, daß Maschka, die anfangs ebenfalls zu lachen begonnen hatte, sich die Ohren zuhielt und heulend in den Vorraum lies.

Das Volk stürzte in den Winkel mit Heulen und Weinen. Man trug das Kindchen hinaus, man begann, es zu reiben; aber alles war vergeblich. Akulina wälzte sich auf dem Bette und lachte, lachte so, daß es allen furchtbar ward, die nur dies Lachen hörten. Jetzt erst, wenn man diesen ganzen Haufen von Männern und Frauen sah und von Greisen und Kindern, die sich da im Vorraum drängten, bekam man eine Vorstellung davon, wieviel Volk im Hofflügel wohnte. Alle liefen hin und her, alle sprachen, viele weinten, und niemand tat irgend etwas. Die Tischlersfrau fand immer noch Leute, die ihre Geschichte noch nicht gehört hatten, und erzählte immer von neuem, wie ihre zärtlichen Gefühle erschüttert worden waren durch jenen unerwarteten Anblick, und wie Gott sie errettete von dem Sturz von der Leiter. Das alte Männchen von Büfettdiener, in einer Frauenjacke, erzählte, wie bei Lebzeiten des verstorbenen Herrn eine Frau sich im Teiche ertränkt habe. Der Verwalter schickte Boten zur Polizei und zum Geistlichen und bestimmte eine Wache. Das obere Mädchen Aksjutka schaute mit aus dem Kopfe getretenen Augen immer auf das Loch auf dem Dachboden, und obgleich sie dort gar nichts sah, vermochte sie sich nicht loszureißen und zur Herrin zu gehen. Agaphja Michailowna, die bei der alten Herrin Dienstmädchen gewesen war, bat um Tee zur Beruhigung ihrer Nerven und weinte. Großmutter Anna legte mit ihren praktischen, fetten und von Baumöl triefenden Händen den kleinen Toten auf das Tischchen. Die Weiber standen bei Akulina und blickten schweigend auf sie hin. Die Kinder schauten, sich in die Ecke drückend, auf ihre Mutter und begannen erst zu heulen, dann verstummten sie, schauten wiederum hin und stießen sich dicht aneinander. Knaben und Männer stießen sich bei der Eingangstreppe, schauten mit erschreckten Gesichtern in Türen und Fenster, ohne etwas zu sehen und zu verstehen, und fragten einander, was denn los sei. Einer erzählte, der Tischler habe seiner Frau mit der Axt ein Bein abgehauen. Ein zweiter erzählte, die Wäscherin habe Drillinge geboren. Ein dritter erzählte, die Katze sei toll geworden und habe das Volk gebissen. Die Wahrheit verbreitete sich indes allmählich und erreichte endlich die Ohren der Gnädigen. Und es scheint, man verstand es nicht einmal, sie vorzubereiten. Der rohe Jegor berichtete es ihr direkt und erregte derart ihre Nerven, daß sie sich noch lange darauf nicht erholen konnte. Die Menge begann bereits sich zu beruhigen; die Frau des Tischlers stellte den Samowar auf und kochte Tee, wobei die Anwesenden, da sie keine Einladung erhielten, es unanständig fanden, länger in ihrem Winkel zu bleiben. Die Knaben begannen, sich an der Eingangstreppe zu balgen. Alle wußten bereits, worum es sich handle, und begannen, sich bekreuzigend, auseinanderzugehen, als man plötzlich hörte: »Die Gnädige, die Gnädige!« und sich alle wiederum drängten und preßten, um ihr Platz zu machen; aber alle wollten auch sehen, was sie tun werde. Die Herrin trat bleich, mit verweinten Augen, in den Vorraum über die Schwelle, in den Winkel der Akulina. Dutzende von Köpfen drängten sich bei der Türe und schauten zu. Ein schwangeres Weib drückte man dabei so, daß sie kreischte, aber sogleich schon diesen Umstand nutzend, ergatterte sie sich einen Platz ganz vorne. Und wie hätte man denn auch nicht auf die Gnädige im Winkel der Akulina schauen sollen! Das war für die Hofleibeigenen ganz das gleiche wie das bengalische Licht am Schluß einer Vorstellung. Es gilt schon für schön, – wenn man bengalisches Licht anzündet, und es gilt auch schon für schön, wenn die Gnädige in Seide, ja, in Spitzen zur Akulina in den Winkel tritt. Die Gnädige schritt zur Akulina heran und faßte sie an der Hand. Akulina entriß sie ihr aber. Die alten Hofdiener schüttelten tadelnd den Kopf.

»Akulina!« sprach die Herrin, »du hast Kinder, habe doch Mitleid mit dir!«

Akulina lachte und erhob sich.

»Bei mir sind die Kinder ganz aus Silber, ganz aus Silber ... Ich halte nicht die Papierchen,« murmelte sie in raschem Geflüster. »Ich habe dem Iljitsch gesagt, nimm nicht die Papierchen; da haben sie dich denn auch eingerieben, eingerieben mit Teer. Mit Teer und Seife, Herrin. Was da auch für Krätze war, sogleich wird sie abspringen.« Und wiederum lachte sie noch lauter.

Die Gnädige drehte sich um und verlangte den Feldscher mit Senfpflaster. »Gib kaltes Wasser!« Und sie selber begann Wasser zu suchen; als sie aber das tote Kindchen erblickte, vor dem Großmutter Anna stand, drehte sich die Herrin weg, und alle sahen, wie sie sich das Taschentuch vors Gesicht nahm und zu weinen anfing. Großmütterchen Anna aber (schade, daß das die Herrin nicht sah: sie hätte es gewürdigt – für sie war ja auch alles dies gemacht) bedeckte das Kindchen mit einem Stückchen Leinwand, rückte ihm die Händchen zurecht mit ihrer fetten, geschickten Hand und schüttelte so mit dem Kopfe, streckte so die Lippen aus, kniff so gefühlvoll die Augen zusammen und seufzte so, daß jeder ihr gutes Herz sehen konnte. Die Herrin sah das aber nicht, ja, und sie konnte ja auch gar nichts sehen. Sie schluchzte auf, sie bekam einen hysterischen Anfall; man führte sie unter dem Arm in den Vorraum und führte sie unter dem Arm nach Hause. Das hat man nur von ihr gehabt, dachten alle und begannen auseinanderzugehen. Akulina lachte immerfort und schwatzte Unsinn. Man führte sie in ein anderes Zimmer, ließ ihr zur Ader, legte ihr Senfpflaster auf und Eis auf den Kopf; sie aber verstand immer noch gar nichts, sie weinte nicht, lachte vielmehr und sprach und tat solche Dinge, daß die guten Leute, die um sie besorgt waren, nicht an sich halten konnten und gleichfalls lachten.


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