Leo N. Tolstoi
Glück der Ehe
Leo N. Tolstoi

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IX. Kapitel

Das so lange ungeheizt und leer gebliebene Haus zu Nikolski belebte sich wieder. Doch was einst in ihm gewohnt hatte, stand nicht wieder auf. Die Mama fehlte, und wir waren allein miteinander, obwohl uns die Einsamkeit nicht nur entbehrlich, sondern unbehaglich war. Der Winter ging für mich um so trauriger vorüber, als ich beständig kränkelte und mich erst nach der Geburt meines zweiten Sohnes erholte.

Mein Verhältnis zu Sergej blieb dasselbe kaltfreundliche wie zur Zeit unseres Aufenthaltes in der Stadt, nur daß mich jede Diele, jede Wand, jeder Diwan an das erinnerte, was er mir früher gewesen war und was ich verloren hatte. Es war, als ob eine ungesühnte Schuld zwischen uns stünde, als ob er mich ihretwegen strafe und sich doch dabei den Anschein gäbe, nichts davon zu wissen. Seine Verzeihung zu erbitten, war kein Grund vorhanden, um Gnade zu flehen, keine Ursache, und er bestrafte mich auch nur dadurch, daß er mir nicht wie früher seine ganze Seele hingab. Aber er gab sie auch keinem anderen Menschen, keinem Gegenstand – es war, als ob er sie selbst nicht mehr besäße.

Zuweilen kam ich auf den Gedanken, daß er sich nur so stelle, um mich zu quälen, daß aber in ihm das frühere Gefühl noch lebe, und ich suchte es hervorzulocken. Dann war es aber jedesmal, als ob er ein offenes Aussprechen zu vermeiden suchte oder mich im Verdacht habe, daß ich mich verstellte, oder als ob er jedes Zeichen von Empfindung wie etwas Lächerliches fürchte. Sein Blick und sein Ton schienen zu sagen: »Ich weiß alles, alles! Du brauchst nichts auszusprechen; alles, was du sagen willst, weiß ich – weiß aber auch, daß du das eine sagen und das andere tun wirst.« Anfangs kränkte mich dies Vermeiden jeder offenen Aussprache, aber nach und nach gewöhnte ich mich an den Gedanken, daß uns nicht sowohl die Aufrichtigkeit als das Verlangen nach Verständigung verlorengegangen war. Meine Zunge hätte sich gesträubt, wenn ich ihm auf einmal hätte sagen wollen, daß ich ihn liebe, oder ihn bitten wollen, Gebete mit mir zu lesen, oder ihn rufen wollen, damit er zuhöre, wenn ich spielte. Unser Umgang wurde durch gewisse Anstandsbedingungen geregelt, die wir beide im Gefühl hatten. Aber jeder von uns lebte auf seine eigene Weise: er mit seinen Beschäftigungen, an denen ich nicht teilzunehmen brauchte noch teilnehmen wollte, ich mit meiner Nichtstuerei, die ihn nicht mehr wie früher ärgerte und betrübte. Unsere Kinder waren noch zu klein, um uns zu vereinigen.

Aber der Frühling kam. Katja und Sonja zogen für den Sommer aufs Land. Unser Wohnhaus in Nikolski sollte umgebaut werden, und wir siedelten nach Pokrow über.

Es war das alte, bekannte Haus mit seiner Terrasse, seinem Klapptisch, seinem Klavier im hellen Saal und meinem lieben Zimmer mit den weißen Gardinen und allen hier zurückgelassenen Mädchenträumen. In diesem Zimmer standen zwei Bettchen. In dem einen, das früher das meine gewesen war, lag jetzt mein dicker Kokoscha. In dem anderen, kleineren, sah Wanis Gesichtchen aus den Kissen hervor. Oft, wenn ich sie abends bekreuzt hatte, blieb ich mitten in dem stillen Zimmerchen stehen, und plötzlich schienen aus allen Winkeln die Geister der vergangenen, vergessenen Jugendzeit hervorzutreten, und alte bekannte Stimmen fingen an, Märchenlieder zu singen. Was ist aus diesen Geistern, diesen lieben, süßen Liedern geworden? Alles, was ich kaum hoffen durfte, ist in Erfüllung gegangen; meine unklar verschwimmenden Phantasien haben sich verwirklicht, aber die Wirklichkeit ist zum schweren, freudlosen Leben geworden!

Und doch ist augenblicklich alles wie früher: derselbe Garten ist durch das Fenster zu sehen; derselbe Pfad, dieselbe Bank unten am Hohlweg; und dieselben Nachtigallenlieder klingen vom Teich herüber; dieselben Fliederbüsche blühen; derselbe Mond steht über dem Haus, und doch ist alles so traurig, so unglaublich verändert! Alles so kalt, was so innig und warm sein könnte!

Wieder, wie in alten Zeiten, saß ich mit Katja plaudernd im Saal. Aber sie runzelte die Stirn, ihr Gesicht wurde ernst und blaß, und ihre Augen glänzten nicht mehr vor Hoffnung und Freude, sondern verrieten Kummer und Mitgefühl. Statt uns über Sergej Michailowitsch zu freuen, saßen wir über ihn zu Gericht. Und statt uns zu wundern, warum und wodurch wir so glücklich waren, und statt wie früher zu wünschen, aller Welt sagen zu können, was wir fühlten, lauschten wir wie Verschworene, ob uns auch niemand höre, und fragten uns zum hundertsten Male, warum sich alles so traurig verändert habe.

Dabei war er derselbe wie früher. Nur die Falte zwischen seinen Brauen war tiefer geworden, sein Haar war an den Schläfen mehr ergraut, und der eindringliche, aufmerksame Blick schien mir immer durch eine Wolke verschleiert. Auch ich war dieselbe wie sonst, nur daß in mir keine Liebe mehr lebte und kein Wunsch zu lieben, kein Verlangen nach Beschäftigung, keine innere Befriedigung. Und daß mir die früheren frommen Entzückungen und die frühere Liebe zu ihm und die ehemalige Lebensfülle unerreichbar fern und unmöglich schienen. Ich würde jetzt nicht mehr verstehen, was mir früher so klar und einfach schien: das Glück, für den anderen zu leben. Warum für den anderen, wenn man für sich selbst nicht mehr leben mag?

Die Musik hatte ich seit unserer Übersiedelung nach Petersburg ganz aufgegeben. Aber jetzt wurde durch das alte Klavier und die alten Noten meine frühere Lust wieder rege.

Eines Tages befand ich mich nicht wohl und blieb allein zu Hause, während Katja und Sonja mit Sergej nach Nikolski gefahren waren, um den Neubau zu sehen. Der Teetisch war gedeckt. Ich ging hinunter, und indes ich auf die Meinigen wartete, setzte ich mich ans Klavier. Ich schlug die Sonate quasi una fantasia auf und fing an, sie zu spielen. Niemand war zu sehen und zu hören. Die Fenster standen nach dem Garten offen, und die vertrauten, traurig-feierlichen Töne erklangen durch den Saal. Als ich den ersten Teil beendigt hatte, sah ich mich ganz mechanisch, nach alter Gewohnheit, nach der Ecke um, wo er zu sitzen pflegte, wenn er mir zuhörte. Aber er war nicht da! Der längst nicht mehr gebrauchte Stuhl stand leer in der Ecke. Durchs Fenster sah ich die Fliederbüsche im Licht des Sonnenunterganges stehen, und die Frische des Abends strömte ins Zimmer herein. Ich stützte mich auf das Klavier, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und versank in Nachdenken. So saß ich lange, dachte mit Schmerzen zurück an das Vergangene, Unwiederbringliche und versuchte zaghaft, Neues zu ersinnen. Aber die Zukunft war leer, als ob ich nichts mehr zu wünschen, nichts mehr zu hoffen hätte.

Ist es möglich, daß ich schon ausgelebt habe? dachte ich schaudernd, erhob den Kopf, und um nicht weiter zu denken und womöglich zu vergessen, fing ich das Andante noch einmal an.

Mein Gott, dachte ich, wenn ich schuld habe, verzeihe mir – gib mir zurück, was so schön in mir war, oder lehre mich, was ich tun, wie ich weiterleben soll.

In diesem Augenblick ließ sich Räderrollen auf dem Rasen und vor der Freitreppe hören, und gleich darauf erklangen auf der Terrasse leise, bekannte Schritte und verhallten. Der Klang dieser bekannten Schritte weckte nicht mehr das frühere Gefühl. Als ich zu spielen aufhörte, erklangen die Schritte hinter mir und legte sich eine Hand auf meine Schulter.

»Wie gut, daß du diese Sonate gespielt hast!« sagte Sergej Michailowitsch.

Ich schwieg.

»Du hast noch nicht Tee getrunken?«

Verneinend schüttelte ich den Kopf und sah mich nicht nach ihm um; ich wollte ihm die Spuren der Aufregung auf meinem Gesicht verbergen.

»Katja und Sonja kommen gleich«, fuhr er fort. »Das Pferd scheute, darum sind sie ausgestiegen und wollten gehen.«

»Wir wollen auf sie warten«, antwortete ich und ging auf die Terrasse. Ich hoffte, daß er mir nachkommen würde. Aber er fragte nach den Kindern und ging zu ihnen.

Seine Gegenwart, seine gute, freundliche Stimme ließen mich wieder bezweifeln, daß ich durch meine Schuld etwas verloren haben könnte.

Was habe ich noch zu wünschen? fragte ich mich. Er ist sanft, freundlich, ein guter Mann, ein guter Vater, ich weiß nicht, was mir noch fehlt!

Ich setzte mich unter das Leinwanddach auf dieselbe Bank, auf der ich am Tag unserer Verlobung gesessen hatte. Die Sonne war untergegangen, es dämmerte schon, und eine Frühlingswolke hing dunkel über Haus und Garten. Nur hinter den Bäumen schimmerten ein heller Streifen des erlöschenden Abendrots und der eben aufblitzende Abendstern. Über dem allem aber stand der Schatten der leichten Wolke, und alles schien auf einen stillen Frühlingsregen zu warten. Der Wind erstarb, kein Blatt, kein Gräschen regte sich; der Geruch des Flieders und des Faulbaums war so stark, als ob die ganze Luft in Blüte stände und mit bald stärkerer, bald schwächerer Strömung den Garten überflute. Man hätte Augen und Ohren schließen mögen, um nichts zu sehen, nichts zu hören, sich ganz zu versenken in diesen süßen Duft. Die Georginen und Rosenbüsche, die noch keine Blüten trugen, streckten sich auf den umgegrabenen schwarzen Rabatten, als ob sie langsam an ihren weißen Stäben emporwüchsen, die Frösche quakten aus Leibeskräften, als wollten sie sich vor dem Regen, der sie ins Wasser zu treiben drohte, noch einmal so laut wie möglich hören lassen; ein sanftes, gleichmäßiges Wasserrauschen klang durch ihr Geschrei, und die Nachtigallen antworteten sich von allen Seiten. Auch in diesem Frühling nistete eine von ihnen in dem Gebüsch unter den Fenstern. Als ich hinaustrat, flog sie in die Allee hinüber, ließ einen Augenblick ihre Stimme hören, wurde dann still und wartete.

Vergebens suchte ich mich zu beruhigen und wartete und war traurig.

Er kam von oben zurück und setzte sich neben mich.

»Unsere Damen werden naß werden, glaube ich«, sagte er. »Es scheint so«, antwortete ich. Dann schwiegen wir eine Weile.

Inzwischen senkte sich die von keinem Windhauch bewegte Wolke tiefer und tiefer, wurde immer schwerer, unbeweglicher, und plötzlich fiel ein Tropfen auf die Markise der Terrasse, ein anderer schlug auf die Steine des Weges, und dann klatschte es auf die Kletten nieder, und immer dichter fielen die großen, frischen Tropfen des immer stärker werdenden Regens.

Die Nachtigallen und Frösche wurden still. Nur das sanfte Wasserrauschen erfüllte die Luft, obwohl es sich wegen des Regens entfernter anhörte, und ein Vogel, der sich wahrscheinlich unter die trockenen Büsche am Haus geduckt hatte, wiederholte seine zwei immer gleichen Noten.

Sergej stand auf und wollte gehen.

»Wohin?« fragte ich ihn und hielt ihn zurück. »Hier ist's so angenehm!«

»Ich will den beiden Schirme und Überschuhe entgegenschicken«, antwortete er.

»Das ist nicht nötig; es geht gleich vorüber.«

Er gab mir recht, und wir blieben nebeneinander am Geländer der Terrasse stehen. Ich stützte mich mit der Hand auf die nasse Brüstung und beugte mich vor, so daß mir der frische Regen Haar und Hals bespritzte.

Das Wölkchen wurde heller und dünner, während es seinen Inhalt über uns ergoß; das gleichmäßige Rauschen des Regens wurde matter, und endlich fielen nur noch einzelne Tropfen vom Himmel und von den Bäumen nieder. Die Frösche fingen wieder an zu quaken, die Nachtigallen regten sich, fingen an, sich von allen Seiten aus den nassen Gebüschen zu antworten, und es wurde ringsum hell.

»Wie angenehm!« sagte er, indem er sich auf das Geländer setzte und mit der Hand über mein nasses Haar strich.

Diese einfache Liebkosung wirkte auf mich wie ein Vorwurf. Ich war dem Weinen nahe.

»Was braucht der Mensch noch mehr?« fuhr er fort. »Ich bin jetzt so zufrieden, daß ich nichts weiter wünsche. Ich bin ganz glücklich.«

So hast du früher nicht von deinem Glück gesprochen! dachte ich. Wie groß es auch war, du sagtest immer, daß du noch etwas zu wünschen hättest! Und jetzt bist du ruhig und zufrieden, während mir unausgesprochene Reue und unausgeweinte Tränen das Herz belasten.

»Auch mir ist wohl zumute«, sagte ich, »aber auch wehmütig, besonders weil alles um mich her so schön ist. In mir ist beständig eine Lücke, etwas nicht Ausgefülltes. Immer sehne ich mich nach irgend etwas. Hier aber ist alles so schön und ruhig. Ist es möglich, daß sich in deinen Naturgenuß keine Wehmut mischt? Daß dir nicht ist, als sehntest du dich nach etwas Vergangenem?«

Er nahm die Hand von meinem Kopf und schwieg eine Weile.

»Ja, früher war es so in mir, besonders im Frühling«, sagte er, als ob er sich besänne. »Ganze Nächte brachte ich wachend zu, in Wünsche und Hoffnungen verloren. Es waren schöne Nächte. Aber damals lag noch alles vor mir, was jetzt hinter mir liegt. Jetzt genügt mir, was ist, und es ist mir wohl dabei«, schloß er so ruhig, so nachlässig, daß ich – wie schmerzlich es mir auch war, das zu hören – von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt sein mußte.

»Du wünschst gar nichts mehr?« fragte ich.

»Nichts Unmögliches«, antwortete er, mein Gefühl erratend. »Du machst dir den Kopf naß«, fügte er hinzu, indem er mir wie einem Kinde liebkosend noch einmal über das Haar strich. »Du beneidest Blätter und Gras, weil sie vom Regen benetzt werden. Du möchtest Gras, Laub und Regen sein – ich freue mich nur über sie, wie über alles in der Welt, was schön, jung und glücklich ist.«

»Und du beklagst nichts Vergangenes?« fuhr ich fort zu fragen und fühlte, wie mir das Herz immer schwerer und schwerer wurde.

Er schwieg nachdenklich still; ich sah, daß er mir ganz aufrichtig antworten wollte.

»Nein!« antwortete er endlich.

»Wirklich? Wirklich?« fing ich an, und sah ihm in die Augen. »Du beklagst das Vergangene nicht?«

»Nein!« wiederholte er noch einmal. »Ich bin dankbar dafür, aber ich beklage es nicht.«

»Aber möchtest du nicht, daß es zurückkehre?« fragte ich.

Er drehte sich um und sah in den Garten hinunter.

»Ich wünsche das nicht – ebensowenig wie ich wünsche, daß mir Flügel wüchsen«, sagte er. »Es ist nicht möglich.«

»Und du klagst das Vergangene nicht an, machst weder dir noch mir einen Vorwurf?«

»Niemand! Alles war zum Besten.«

»Höre«, sagte ich und berührte seine Hand, damit er mich ansehen sollte. »Höre, warum hast du nie zu mir gesagt, daß ich nach deinen Wünschen leben sollte? Warum gabst du mir eine Freiheit, die ich nicht zu benutzen verstand? Warum hörtest du auf, mich zu belehren? Wenn du gewünscht hättest, mich anders geleitet hättest – nichts, nichts wäre dann geschehen!« sagte ich mit einer Stimme, in der sich Vorwurf und wachsender Unwille, aber keine Spur der alten Liebe verriet.

»Was wäre nicht geschehen?« fragte er erstaunt, indem er sich zu mir wandte. »Auch so ist nichts geschehen. Alles ist gut. Sehr gut!« fügte er lächelnd hinzu.

Ist's möglich, daß er mich nicht versteht, oder noch schlimmer, will er mich nicht verstehen? dachte ich, und Tränen kamen mir in die Augen.

»Es wäre nicht geschehen«, sagte ich dann, »daß ich, obwohl ich durch nichts gegen dich gesündigt habe, mit deiner Gleichgültigkeit, deiner Verachtung sogar, gestraft werde. Es wäre nicht geschehen, daß du, ohne jede Schuld von meiner Seite, mir plötzlich alles entzogst, was mir teuer war.«

»Was hast du, mein Herz?« fragte er, als ob er mich nicht verstände.

»Nein, laß mich ausreden! Du hast mir dein Vertrauen, deine Liebe, deine Achtung sogar, genommen. Ich kann nicht glauben, daß du mich jetzt liebst, wenn ich mich an das erinnere, was früher gewesen ist. Nein, ich muß einmal aussprechen, was mich so lange schon quält!« fuhr ich hastig fort, als er einfallen wollte. »War es meine Schuld, daß ich das Leben nicht kannte? Warum ließest du mich allein den Weg suchen? Oder ist es meine Schuld, daß du jetzt, nachdem ich erkannt habe, was not tut, und mich seit nun beinahe einem Jahre abquäle, zu dir zurückzukehren, mich abweisest, als ob du nicht verständest, was ich will? Du tust das in einer Weise, daß man dir keinen Vorwurf machen kann, daß ich schuldig erscheine und unglücklich bin. Du willst mich auch jetzt wieder in das Leben zurückstoßen, das dein und mein Unglück werden kann.«

»Womit habe ich dir das bewiesen?« fragte er verwundert und sichtlich erschrocken.

»Hast du nicht gestern erst gesagt und sagst schon lange, daß ich hier nicht bleiben würde und daß wir nach Petersburg gehen müßten – nach Petersburg, das ich hasse!« antwortete ich. »Und anstatt mich zu stützen, vermeidest du jede Aussprache, jedes aufrichtige, warme Wort mit mir. Und später, wenn ich ganz zu Boden sinke, wirst du mir einen Vorwurf daraus machen und über meinen Fall triumphieren.«

»Halt! Halt!« sagte er ernst und kalt. »Was du da sagst, ist nicht gut. Es beweist nur, daß du schlecht gegen mich gestimmt bist, daß du mich nicht . . .«

»Daß ich dich nicht liebe? Sag es nur, sag es nur!« fiel ich ihm ins Wort. Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich setzte mich auf die Bank und verhüllte das Gesicht mit dem Taschentuch.

So also hat er mich verstanden! dachte ich, indem ich das Schluchzen, das mich fast erstickte, zu unterdrücken suchte. »Zu Ende ist unsere Liebe, zu Ende!« sagte eine Stimme in meinem Herzen. »Er ist mir nicht entgegengekommen, hat mich nicht getröstet. Nur gekränkt hat ihn, was ich sagte. Seine Stimme blieb kalt und ruhig!«

»Ich weiß nicht, was du mir zum Vorwurf machst«, fing er wieder an. »Ist es das, daß ich dich nicht mehr so liebe wie früher . . .«

»Nicht mehr so liebe«, wiederholte ich in mein Tuch hinein, und meine bitteren Tränen flossen noch reichlicher darauf nieder.

». . . so ist daran die Zeit schuld und wir selbst«, fuhr er fort. »Jede Zeit hat ihre besondere Art von Liebe.«

Er schwieg eine Weile. Dann sprach er weiter: »Ich will dir die ganze Wahrheit sagen, da du Aufrichtigkeit verlangst. In jenem Jahr, als ich dich kennenlernte, brachte ich die Nächte schlaflos zu und dachte an dich und gab selbst meiner Liebe immer neue Nahrung, und diese Liebe wuchs und wuchs in meinem Herzen, aber auch in Petersburg und im Ausland schlief ich nicht, und dies waren schreckliche Nächte, in denen ich diese Liebe, die mich peinigte, zu zerbrechen, zu vernichten suchte. Ich habe sie nicht vernichtet. Nur was mich gequält hat, habe ich von mir geworfen, habe mich beruhigt und liebe dich noch immer, nur mit einer anderen Liebe.«

»Liebe nennst du das? Es ist nur Pein!« sagte ich »Warum hast du mir erlaubt, in der Welt zu leben, wenn sie dir so verderblich für mich erscheint, daß du ihretwegen aufhörst, mich zu lieben?«

»Nicht die Welt, kleine Närrin«, unterbrach er mich.

»Warum hast du nicht Gewalt gebraucht?« fuhr ich fort. »Warum mich nicht gebunden, nicht getötet? Das wäre besser für mich, als alles zu verlieren, was mein Glück war. Mir wäre wohl – ich hätte mich nicht zu schämen.«

Ich schluchzte wieder und verhüllte das Gesicht.

In diesem Augenblick kamen Katja und Sonja heiter und durchnäßt unter Plaudern und Lachen auf die Terrasse. Als sie uns erblickten, verstummten sie und gingen schnell wieder fort. Wir schwiegen beide, als sie gegangen waren. Ich hatte mich ausgeweint, und mir wurde leichter zumute.

Ich sah ihn an. Er erhob den Kopf, den er auf die Hand gestützt hatte, und wollte mir etwas auf meinen Blick antworten. Aber er atmete nur schwer auf und ließ den Kopf wieder sinken.

Ich trat neben ihn und faßte seine Hand. Sein Blick wandte sich mir nachdenklich zu.

»Ja«, sagte er, als ob er einen Gedanken weiterverfolge. »Wir alle – besonders ihr Frauen – müssen erst die ganze Torheit des Lebens durchmachen, um uns in das eigentliche Leben zurückzufinden. Einem anderen zu glauben, sind wir nicht imstande. Du hattest damals jene reizende und geliebte Torheit, die ich an dir bewunderte, noch längst nicht ausgelebt. Ich überließ es dir, sie auszukosten, und fühlte, daß ich kein Recht hatte, dich zu fesseln, weil für mich die Zeit der Torheit längst vorüber war.«

»Aber wie konntest du, wenn du mich liebtest, mit mir zusammen sein und mir erlauben, in dieser Torheit zu leben?« fragte ich.

»Weil du nicht imstande gewesen wärest, mir zu glauben, auch wenn du gewollt hättest. Du mußtest selbst Erfahrungen sammeln – das hast du getan.«

»Und du hast nachgedacht, viel nachgedacht und wenig geliebt«, sagte ich.

Wir schwiegen wieder.

»Was du eben gesagt hast, ist grausam, aber es ist wahr«, antwortete er dann, indem er aufstand und auf der Terrasse hin und her ging. »Ja, es ist wahr. Ich bin schuld!« fügte er hinzu und blieb vor mir stehen. »Entweder mußte ich mir gar nicht erlauben, dich zu lieben, oder einfacher lieben – ja!«

»Laß uns das alles vergessen«, sagte ich schüchtern.

»Nein, was vergangen ist, kommt nicht wieder – kommt niemals wieder!« Seine Stimme wurde weicher bei diesen Worten.

»Es ist schon wiedergekommen«, sagte ich und legte die Hand auf seine Schulter.

Er ergriff meine Hand und drückte sie.

»Nein, ich habe nicht die Wahrheit gesagt, als ich behauptete, daß ich das Vergangene nicht beklage. Nein! Ich beklage jene vergangene Liebe, die nicht mehr ist und nicht mehr sein kann, und weine um sie, daß sie nicht mehr ist! Wer die Schuld trägt, weiß ich nicht. Es ist uns eine Liebe geblieben, aber nicht dieselbe. Ihre Stelle ist geblieben, sie aber siecht in Krankheit dahin. Sie besitzt nicht mehr die Kraft und Frische von ehemals. Erinnerung ist geblieben, Dankbarkeit, aber . . .«

»Sprich nicht so«, unterbrach ich ihn. »Laß alles wieder sein wie früher. Es kann ja sein, nicht wahr?« fragte ich und sah ihm in die Augen. Aber seine Augen waren klar und blickten ruhig ohne jede Zurückhaltung in die meinigen.

Schon während ich sprach, fühlte ich, daß, was ich wünschte und von ihm erbat, unmöglich war. Er lächelte mit einem ruhigen, sanften und, wie es mir schien, greisenhaften Lächeln.

»Wie jung du noch bist – wie alt ich bin!« sagte er. »Was du suchst, ist nicht mehr in mir. Wir wollen uns nicht mehr täuschen«, fügte er hinzu und lächelte noch immer in derselben Weise.

Ich stand schweigend neben ihm, und mein Herz wurde ruhiger.

»Wir wollen nicht versuchen, das frühere Leben zu wiederholen«, fuhr er fort, »wollen uns nicht selbst belügen! Gott sei Dank, daß die alte Unruhe, die alten Aufregungen vorüber sind. Wir haben uns nicht mehr aufzuregen, haben nichts mehr zu suchen. Wir haben schon gefunden, und es ist Glück genug auf unser Teil gefallen. Jetzt müssen wir uns bestreben, diesem den Weg zu bahnen«, fügte er hinzu, indem er auf den kleinen Wanni zeigte, mit dem die Wärterin an der Terrassentür erschien. »So ist es, mein liebes Herz!« schloß er, indem er meinen Kopf an sich zog und küßte. Aber es war nicht der Kuß eines Liebenden, sondern der eines alten Freundes.

Und aus dem Garten strömte immer stärker und süßer die duftende Abendfrische herauf. Immer feierlicher wurden die Töne und das Schweigen, immer häufiger zündete sich am Himmel ein Stern nach dem anderen an. Ich blickte auf Sergej, und plötzlich wurde mir leichter zumute. Es war, als hätte man mich von jenem kranken Seelennerv befreit, der mir so viele Schmerzen verursachte. Deutlich und klar verstand ich plötzlich, daß die Empfindungen jener Zeit unwiderruflich dahin waren wie die Zeit selbst, und daß es nicht nur unmöglich war, sie jetzt zurückzurufen, sondern daß das nur noch Schmerzen und Unruhe bringen würde. Vorbei! Vorbei! Und war denn wirklich die Zeit so schön, die mir so glücklich erschien und die schon lange, lange dahingeschwunden war?

»Es ist Zeit, Tee zu trinken«, sagte er, und wir gingen zusammen ins Zimmer. In der Tür traf ich wieder die Wärterin mit Wanni. Ich nahm den Kleinen auf den Arm, deckte seine nackten roten Füßchen zu, drückte ihn an mich und küßte ihn, indem ich ihn kaum mit den Lippen berührte. Wie im Schlaf bewegte er die Händchen mit den ausgespreizten, gerunzelten Fingern, öffnete blinzelnd die Äugelchen und sah umher, als ob er etwas suche oder sich auf etwas besänne. Dann blieben diese Augen auf mir ruhen. Ein Funken des Bewußtseins blitzte in ihnen auf, die vollen Lippen zogen sich zusammen und öffneten sich zu einem Lächeln. Mein, mein, mein! dachte ich, und ein Wonneschauer durchbebte meine Glieder, indem ich ihn an mich drückte. Ich mußte mich beherrschen, um ihm nicht wehe zu tun, und fing an, seine kalten Füßchen, seinen Körper, seine Händchen, sein kaum mit Haaren bewachsenes Köpfchen zu küssen.

Mein Mann trat auf mich zu. Ich bedeckte das Gesicht des Kindes und deckte es dann schnell wieder auf.

»Iwan Sergeitsch«, sagte mein Mann, indem er das Unterkinn des Kleinen mit den Fingern berührte. Aber ich deckte Iwan Sergeitsch rasch wieder zu; niemand außer mir sollte ihn lange ansehen. Dann blickte ich zu Sergej Michailowitsch auf. Seine Augen lachten, während sie in die meinigen sahen, und zum erstenmal seit langer Zeit war es mir lieb und wohltuend, in seine Augen zu schauen.

*

Von diesem Tage an war mein Liebesroman mit meinem Manne zu Ende.

Das alte Gefühl wurde zu teueren, unwiederbringlichen Erinnerungen, und ein neues Gefühl der Liebe für meine Kinder und für den Vater meiner Kinder legte den Grund jenes anderen, ebenfalls glücklichen, aber in ganz anderer Weise glücklichen Lebens, das ich bis zu diesem Augenblicke noch nicht zu Ende gelebt habe.

 


 


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