Leo N. Tolstoi
Glück der Ehe
Leo N. Tolstoi

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VI. Kapitel

Tage, Wochen, ein paar Monate gingen in der Einsamkeit des Landlebens scheinbar ereignislos vorüber, und doch hätten die Gefühle, die Aufregungen, das Glück dieses kurzen Zeitraumes genügt, ein ganzes Menschenleben auszufüllen.

Meine und seine Träume von unserem Zusammenleben auf dem Lande gingen zwar ganz anders in Erfüllung, als wir erwartet hatten, aber die Wirklichkeit war nicht weniger schön als unsere Phantasien. Von dem strengen Fleiß, der ernsten Pflichterfüllung, der Selbstaufopferung und dem Leben für andere, wie ich es mir als Braut gedacht hatte, war nicht die Rede. Im Gegenteil, wir lebten nur unserer Liebe, hatten nur den Wunsch, geliebt zu werden, waren von einer grundlosen, stetigen Heiterkeit erfüllt und vergaßen die ganze Welt. Er verließ mich wohl zuweilen, um in seinem Kabinett zu arbeiten, oder fuhr in Geschäften nach der Stadt oder hatte mit der Verwaltung des Gutes zu tun; aber ich sah, welche Mühe es ihn kostete, sich von mir loszureißen. Und er selbst gestand mir immer wieder, daß ihm alles, was sich nicht auf mich bezog, nichtig erscheine und daß er eigentlich nicht begreife, wie er sich überhaupt damit abzugeben vermöge. Mir ging es ebenso: ich las, beschäftigte mich mit Musik, mit der Mama, mit der Schule, aber das alles nur, weil jede dieser Beschäftigungen mit ihm im Zusammenhang stand und ihm Freude machte. Bei allem, was sich nicht auf ihn bezog, sanken mir die Hände nieder, und es schien mir lächerlich zu denken, daß außer ihm noch etwas in der Welt bestehe.

Das war vielleicht ein verwerfliches, selbstsüchtiges Gefühl, aber es machte mich glücklich und erhob mich über das gewöhnliche Leben.

Nur er war für mich da, ich hielt ihn für unfehlbar, für den besten Menschen auf Erden, nur für ihn konnte ich leben, und mein einziges Bestreben war, ihm zu genügen.

Ich wußte, daß er wiederum mich für die schönste und beste aller Frauen hielt, mich mit allen möglichen Tugenden begabt dachte, und ich gab mir Mühe, in den Augen des besten und vortrefflichsten Mannes der Welt diese Vorstellung zu bewahren.

Eines Tages kam er zu mir in mein Zimmer, als ich gerade vor den Heiligenbildern kniete. Ich sah mich nach ihm um und fuhr fort zu beten, während er sich an den Tisch setzte, um mich nicht zu stören, und ein Buch aufschlug. Aber ich glaubte seinen Blick zu fühlen und mußte mich wieder nach ihm umsehen. Er lächelte, ich lachte ebenfalls und konnte nicht weiterbeten.

»Hast du deine Andacht schon verrichtet?« fragte ich.

»Ja, laß dich nicht stören – ich gehe wieder.«

»Du betest doch hoffentlich auch?«

Er wollte hinausgehen, ohne zu antworten, aber ich hielt ihn zurück.

»Bitte, mein Herz, um meinetwillen lies die Gebete mit mir!«

Er stellte sich neben mich, ließ die Arme ungeschickt hängen, fing mit ernstem Gesicht zu lesen an, stockte hin und wieder, sah sich nach mir um und schien in meinen Augen Zustimmung und Hilfe zu suchen.

Als er zu Ende gekommen war, lachte ich und umarmte ihn.

»O du, du! Als ob ich wieder zehn Jahre alt wäre!« sagte er errötend, beugte sich nieder und küßte meine Hände.

*

Unser Haus war eines jener alten Landhäuser, in denen eine Reihenfolge verwandter Generationen in gegenseitiger Liebe und Achtung gelebt hat. Alles war gleichsam von guten und tüchtigen Familienerinnerungen erfüllt, die – sobald ich hier aufgenommen war – auch meine Erinnerungen wurden. Die Einrichtung und Lebensweise des Hauses wurde nach altem Brauch durch Tatjana Simonowna geleitet. Daß alles schön und elegant gewesen wäre, kann ich nicht behaupten, aber von der Bedienung bis zu den Möbeln und den Mahlzeiten war alles reichlich, sauber, gut und anständig. Im Saal standen die Möbel wohlgeordnet an den mit Bildnissen geschmückten Wänden, und den Fußboden bedeckten Teppiche, die im Haus angefertigt waren. Im Diwanzimmer gab es ein altes Klavier, zwei Schränkchen, die nicht zueinander paßten, Diwane und einige mit Messing eingelegte Tischchen. In meinem Zimmer, das Tatjana Simonowna mit besonderer Sorgfalt eingerichtet hatte, standen die besten Möbel des Hauses, aber sie waren aus verschiedenen Jahrhunderten, von ganz verschiedener Art, und ich erinnere mich eines alten Pfeilerspiegels, den ich anfangs nicht ohne Besorgnis ansehen konnte, der mir aber nach und nach ein vertrauter Freund geworden ist.

Tatjana Simonowna wurde im Haus nie gehört, aber alles ging wie eine aufgezogene Uhr, obwohl eine Anzahl überflüssiger Dienstboten da war. Die Diener mußten stets weiche Stiefel ohne Absätze tragen, denn knarrendes Schuhwerk und klappernde Absätze waren meiner Schwiegermutter unerträglich. Alle diese Leute waren stolz auf ihre Stellung im Haus, zitterten vor der alten Herrin, behandelten Sergej und mich mit wohlwollender Zärtlichkeit und schienen ihre Aufgaben mit Freuden zu erfüllen. Pünktlich zum Sonnabend wurden alle Fußböden gescheuert und alle Teppiche ausgeklopft. Jeden Ersten des Monats wurde Gottesdienst gehalten, um das Wasser zu weihen. Die Namenstage meiner Schwiegermutter, meines Mannes und, von diesem Herbst an, auch der meinige wurden – wie die ganze Umgegend wußte – durch Bälle gefeiert. Alles das war unabänderlich so gewesen, solange Tatjana Simonowna denken konnte.

Mein Mann kümmerte sich nicht um das Hauswesen; er hatte nur mit der Feldwirtschaft und den Bauern zu tun und beschäftigte sich viel damit. Er stand auch im Winter sehr früh auf, so daß ich ihn nicht mehr fand, wenn ich erwachte. Aber zum Frühstück – wir tranken unseren Tee allein – kam er gewöhnlich und war dann fast immer, trotz mancherlei Sorgen und Unannehmlichkeiten in der Wirtschaft, in jener heiteren Stimmung, die wir »wildes Entzücken« zu nennen pflegten. Oft verlangte ich zu hören, was er den Morgen über getan hatte, und er erzählte mir solchen Unsinn, daß wir uns halb totlachten. Zuweilen, wenn ich ernste Berichte zu hören wünschte, bezwang er seine Lustigkeit und erzählte. Dann sah ich seine Augen an, seine sich bewegenden Lippen und verstand kein Wort. Ich freute mich nur, daß ich ihn sah und seine Stimme hörte.

»Was habe ich dir erzählt? Wiederhole!« sagte er zuweilen. Aber das konnte ich nie. Es war so komisch, daß er mir etwas erzählte, was weder ihn noch mich betraf. Als ob es nicht gleichgültig gewesen wäre, was sonst geschah! Erst viel später fing ich an, etwas zu begreifen und mich für seine Angelegenheiten zu interessieren.

Tatjana Simonowna blieb den ganzen Vormittag in ihrem Zimmer, trank allein Tee und tauschte nur durch Boten einen Morgengruß mit uns aus. In unserer eigensten, unsinnig glücklichen kleinen Welt klang die Stimme, die aus ihrem ruhigen, vernünftigen, regelrechten Winkel herübertönte, so sonderbar, daß ich oft das Lachen nicht lassen konnte, wenn das Dienstmädchen mit gekreuzten Armen dastand und eintönig bestellte: »Tatjana Simonowna haben zu fragen befohlen, wie Sie nach dem gestrigen Spaziergang geruht, und lassen uns melden, der gnädigen Frau hätte die ganze Nacht das Seitchen wehe getan und im Dorfe hätte ein dummer Hund gebellt, so daß sie nicht schlafen konnten . . . Ferner ließen sie noch fragen, wie das heutige Gebäck geschmeckt, und bäten zu beachten, daß heute nicht Tarraß gebacken habe, sondern versuchsweise zum ersten Male Nikolasch, und er hätte seine Sache gut gemacht. Die Brezeln besonders fänden die gnädige Frau ausgezeichnet, nur die Zwiebäcke wären etwas zu scharf gebacken.«

Vor Tisch waren wir wenig zusammen. Ich spielte Klavier oder las für mich allein. Er schrieb oder ging aus. Aber zum Mittagessen, um vier Uhr, versammelten wir uns im Saal. Mama segelte aus ihren Zimmern hervor, und außerdem erschienen einige arme Edelleute und einige Pilgerinnen, von denen immer zwei bis drei im Hause Unterkommen hatten. Mein Mann bot, nach alter Gewohnheit, regelmäßig seiner Mutter den Arm, aber ebenso regelmäßig bestand sie darauf, daß er mir den andern reiche, und so drängten wir uns mühsam durch die Tür. Beim Essen präsidierte die Mutter, und die Unterhaltung pflegte anständig, vernünftig und etwas steif geführt zu werden. Mein unbefangenes Geplauder mit meinem Mann unterbrach angenehm die Feierlichkeit dieser Sitzungen. Auch zwischen Mutter und Sohn kam es zuweilen zu scherzhaftem Streit und Neckereien. Ich hatte diese Streitigkeiten und Neckereien sehr gern, denn gerade in diesen kleinen Reibungen drückte sich die innige Liebe, die sie verband, am stärksten aus. Nach dem Essen setzte sich Mama im Salon in einen großen Sessel und rieb Tabak oder schnitt ein neu angekommenes Buch auf, und wir lasen vor oder begaben uns ins Diwanzimmer ans Klavier. Wir haben in dieser Zeit viel zusammen gelesen, aber unser bestes, liebstes Vergnügen blieb die Musik, weil sie immer wieder neue Saiten in uns erklingen ließ und sie uns gegenseitig offenbarte.

Wenn ich seine Lieblingsstücke spielte, setzte er sich auf den entferntesten Diwan, so daß ich ihn kaum sehen konnte, und suchte aus einer gewissen Scheu den Eindruck, den die Musik auf ihn machte, zu verheimlichen. Aber oft, wenn er es gar nicht erwartete, stand ich auf, ging zu ihm und fand in seinen Zügen, in dem gesteigerten, feuchten Glanz der Augen die Spuren einer Erregung, die er umsonst zu verbergen suchte.

Auch Mama schien zuweilen den Wunsch zu haben, uns zu sehen; aber sie fürchtete, uns zu stören, und ging nur, als ob sie uns nicht beachtete, mit erheuchelt ernstem Gesicht und gleichgültigen Mienen durch das Diwanzimmer. Ich wußte aber, daß sie in ihren Zimmern nichts zu tun hatte und bald zurückkommen würde.

Den Abendtee bereitete ich im großen Saal, und alle Hausgenossen stellten sich dazu ein. Diese feierliche Sitzung um den spiegelnden Samowar und das Einschenken der Gläser und Tassen brachte mich lange in Verlegenheit. Es kam mir immer vor, als ob ich zu jung und leichtsinnig und der Ehre nicht würdig wäre, einen so großen Samowar zu überwachen, die Gläser dem Nitika auf das Teebrett zu stellen, dabei zu sagen: »Für Peter Iwanowitsch! Für Maria Minitschna!«, zu fragen: »Ist er süß genug?« und der Kinderfrau und den ausgedienten Leuten ihren Zuckeranteil zu schicken.

»Schön, sehr schön! Ganz wie eine Erwachsene!« pflegte mein Mann zu sagen, und das brachte mich noch mehr in Verwirrung. Nach dem Tee legte Mama Patience oder ließ sich von Maria Minitschna die Karten legen, dann küßte sie uns beide, bekreuzte uns, und wir begaben uns in unsere Zimmer. Gewöhnlich saßen wir dann noch bis nach Mitternacht beisammen, und das waren die besten, angenehmsten Stunden. Er erzählte mir von seiner Vergangenheit, wir machten Pläne, philosophierten und bemühten uns, leise zu sprechen, damit man uns oben nicht höre und Tatjana Simonowna nicht auf uns aufmerksam mache, die darauf bestand, daß wir früh zu Bett gehen müßten. Zuweilen wurden wir auch wieder hungrig, gingen ans Büfett, erhielten durch Nitikas Protektion ein kaltes Abendessen und verzehrten es bei einem Lichte in meinem Zimmer.

Wir lebten wie Fremde in diesem großen alten Haus, in dem ein strenger Geist des Herkommens herrschte und in Tatjana Simonowna verkörpert schien. Nicht sie allein, auch die alten Diener und Mägde, die Möbel und Bilder flößten mir Respekt und sogar Furcht ein und brachten mich zu der Erkenntnis, daß ich hier nicht an meinem Platze sei und daß wir sehr vorsichtig und aufmerksam sein müßten. Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich ein, daß vieles – diese zwingende, unabänderliche Ordnung, diese Masse nichtstuender, neugieriger Dienstboten im Haus – unbequem und lästig für uns war; aber damals dienten selbst diese Mängel nur dazu, unsere Liebe noch mehr anzufachen. Nicht ich allein, auch er unterdrückte jede Andeutung, als ob ihm etwas mißfiele; er schien sogar vor sich selber zu verbergen, was nicht in der Ordnung war.

So ging der Kammerdiener der Mama, Dmitrij Sidoroff, ein leidenschaftlicher Raucher, jeden Nachmittag, wenn wir im Diwanzimmer saßen, in das Kabinett meines Mannes, um ihm etwas Tabak aus dem Kasten zu stehlen. Dann war es interessant zu sehen, mit welcher ängstlichen Beflissenheit Sergej Michailowitsch auf den Zehenspitzen zu mir kam und mit drohendem Finger und blinzelnden Augen auf Dmitrij Sidoroff deutete, der nicht ahnte, daß man ihn sah – und wie er, wenn Dmitrij Sidoroff sich entfernte, ohne uns bemerkt zu haben, vor Freude, daß alles glücklich zu Ende gekommen war, versicherte, daß ich reizend wäre, und mich küßte – wie er bei jeder Gelegenheit zu tun pflegte.

Zuweilen ärgerte mich diese Ruhe, diese Langmut, diese scheinbare Gleichgültigkeit. Ich machte mir nicht klar, daß ich ebenso war, und hielt ihn für schwach. – Er ist wie ein Kind, das seinen Willen nicht zu zeigen wagt, dachte ich.

»Ach, mein Herz«, antwortete er, als ich ihm eines Tages sagte, daß mich seine Schwäche in Erstaunen setze, »kann man denn mit irgend etwas unzufrieden sein, wenn man so glücklich ist wie ich? Es ist auch leichter, selbst nachzugeben, als andere zu beugen, davon habe ich mich längst überzeugt, und es gibt keine Lage, in der man nicht glücklich sein kann – und uns geht es ja so gut! Ich kann mich jetzt nicht ärgern, für mich gibt es jetzt nichts Schlechtes mehr, nur Trauriges und Lächerliches – und du weißt ja auch: Le mieux c'est l'ennemi du bien! Wirst du mir glauben? Wenn ich eine Glocke höre, einen Brief bekomme, ja einfach, wenn ich erwache, graut mir, daß das Leben seinen Gang gehen und Änderungen mit sich bringen muß – denn besser als jetzt kann es nimmer werden.«

Ich glaubte ihm, aber ich verstand ihn nicht so recht. Auch mir war wohl; es schien mir jedoch, als ob alles so sein müsse und nicht anders sein könnte und daß es allen so erginge, und als ob es irgendwo noch ein anderes – zwar nicht größeres, aber doch anderes Glück geben müsse.

*

Zwei Monate gingen in dieser Weise vorüber, dann kam der Winter mit seiner Kälte und seinen Schneestürmen, und obwohl Sergej bei mir war, fing ich an, mich einsam zu fühlen, fing an zu erkennen, daß unsere Lebensweise immer dieselbe war und daß weder in ihm noch in mir selbst etwas Neues vorging, daß wir im Gegenteil immer wieder zu dem Alten zurückkehrten. Er fing an, sich mehr als bisher mit der Wirtschaft, überhaupt ohne mich, zu beschäftigen, und wieder schien mir, als ob in seiner Seele eine besondere Welt wäre, in die er mich nicht einlassen wollte. Seine immerwährende Ruhe reizte mich. Ich liebte ihn nicht weniger als früher, war nicht weniger beglückt durch seine Liebe, aber meine Liebe stand still, sie wuchs nicht mehr, und neben ihr begann ein neues, unruhiges Gefühl sich in meiner Seele einzunisten. Das Glück, Sergej zu lieben, genügte mir nicht mehr; ich brauchte Bewegung, nicht das ruhige Hinfließen der Tage; ich sehnte mich nach Aufregung, Gefahren, Aufopferung; es war ein Überschuß von Kraft in mir, der in unserem stillen Leben keine Verwendung fand. Es kamen Schwermutsanfälle über mich, die ich wie ein Unrecht vor meinem Manne zu verbergen suchte, und dann wieder Anfälle einer tollen Zärtlichkeit oder Heiterkeit, die ihn erschreckten.

Er hatte meinen Zustand noch früher erkannt als ich selbst und schlug mir vor, in die Stadt zu ziehen. Aber ich bat ihn, das nicht zu tun, unsere Lebensweise nicht zu ändern, unser Glück nicht zu stören. Ich war wirklich glücklich; es quälte mich nur, daß dieses Glück mir keine Mühe verursachte, mich kein Opfer kostete, während ein Drang nach Mühen und Opfern mich peinigte. Ich liebte Sergej und sah, daß ich für ihn alles war; aber ich hätte gewünscht, daß alle, die unsere Liebe sahen, sich bemüht hätten, sie zu stören und uns zu trennen, so daß ich Widerstände zu überwinden gehabt hätte. Mein Verstand und mein Herz waren beschäftigt, aber es gab noch ein Gefühl der Jugend, ein Bedürfnis nach Bewegtheit, das in unserem stillen Leben keine Befriedigung fand. Warum sagte er mir, daß wir in die Stadt ziehen könnten, sobald ich wollte? Hätte er das nicht gesagt, so wäre ich vielleicht zu der Einsicht gekommen, daß die Unruhe, die mich quälte, eine gefährliche Torheit, ein Unrecht und daß das Opfer, nach dem ich suchte, in der Unterdrückung meiner unverständlichen Sehnsucht zu finden war. Nun aber beschlich mich unwillkürlich der Gedanke, daß ich meine Schwermut nur durch die Übersiedlung in die Stadt loswerden könnte; ich schämte mich jedoch, ihn von allem, was ihm behagte, meinetwegen loszureißen.

Die Zeit verging. Der Schnee häufte sich höher und höher um die Mauern des Hauses, und wir waren immer allein und waren immer dieselben, während draußen, irgendwo, in Glanz und Geräusch sich Scharen von Menschen regten, litten und sich freuten, ohne an uns und an unser ruhig hinfließendes Dasein zu denken. Am schlimmsten war, daß ich fühlte, wie uns mit jedem Tag die Gewohnheit fester in eine bestimmte Lebensform einschmiedete, wie unser Gefühl nicht frei wurde, sondern sich dem gleichmäßigen, leidenschaftslosen Gang der Zeit anbequemte. Morgens waren wir heiter, mittags höflich, abends zärtlich. – Gutes tun! sagte ich zu mir selber. Ja, das ist schön! Aber dazu hatten wir noch immer Zeit, während es etwas gab, wozu ich nur jetzt Lust und Kraft besaß. Ich hatte das Bedürfnis nach etwas anderem, ich brauchte Kampf und wünschte, daß unser Leben vom Gefühl bestimmt würde, nicht unser Gefühl vom Leben. Ich hätte mit Sergej an einem Abgrund stehen und zu ihm sagen mögen: »Sieh, noch ein Schritt, und ich stürze hinein, noch eine Bewegung, und ich bin verloren!« – nur damit er erbleichte, mich in seine starken Arme nähme, in den Abgrund hinuntersehen ließe und mich, während mein Herz vor Furcht erstarrte, forttrüge, wohin es ihm gefiel.

Dieser Seelenzustand wirkte nach und nach auf meine Gesundheit; meine Nerven fingen an zu leiden. Eines Morgens, als es mir schlechter ging als gewöhnlich, kam Sergej – was selten der Fall war – verstimmt von seinem Wirtschaftsrundgang zurück. Ich merkte das gleich und fragte, was vorgefallen wäre, aber er wollte es mir nicht sagen und antwortete nur: »Es ist nicht der Rede wert.«

Wie ich später erfuhr, hatte der Bezirksvogt, der meinem Mann feindlich gesinnt war, unsere Bauern aufgehetzt und sie unter falschen Vorspiegelungen zu Ungesetzlichkeiten zu verleiten gesucht. Sergej konnte das heute nicht gleich überwinden, nicht gleich einsehen, daß auch dies nur lächerlich und traurig war, und da er sich seiner Gereiztheit bewußt war, wollte er nicht davon sprechen.

Ich aber glaubte, daß er nur nichts sagen wollte, weil ich in seinen Augen ein Kind war, das seine Interessen nicht zu verstehen vermöchte. Ich wandte mich ab, schwieg und befahl, Maria Minitschna, die bei uns zum Besuch war, zum Tee zu rufen. Nach dem Frühstück, das ich so rasch wie möglich beendete, führte ich Maria Minitschna ins Diwanzimmer und begann, mit ihr laut und angelegentlich über irgendeine Dummheit zu sprechen, die mir ganz gleichgültig war.

Sergej ging im Zimmer hin und her und sah uns zuweilen an. Diese Blicke wirkten so auf mich ein – warum, weiß ich nicht zu sagen –, daß ich immer lebhafter sprechen und lachen mußte. Alles, was ich selbst sprach und was Maria Minitschna sprach, erschien mir so komisch. Endlich ging Sergej, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, in sein Kabinett und machte die Tür hinter sich zu, und sobald ich ihn nicht mehr hörte, war meine Heiterkeit so plötzlich zu Ende, daß es Maria Minitschna auffiel und sie mich fragte, was geschehen wäre. Ich antwortete nicht, setzte mich auf den Diwan und war dem Weinen nahe.

An was denkt er nun? fragte ich mich selbst. An irgendeinen Unsinn, der ihm wichtig scheint. Wenn er nur mit mir davon sprechen wollte, ich würde ihm beweisen, daß es Unsinn ist. Aber statt dessen glaubt er, daß ich ihn nicht verstehen kann, demütigt mich durch seine erhabene Ruhe und will mir gegenüber immer recht haben. Dafür habe ich aber auch recht, wenn ich mich langweile, wenn ich mein Dasein leer und öde finde, wenn ich leben, mich bewegen möchte, anstatt immer auf einer Stelle stehenzubleiben und zu fühlen, wie die Zeit über mich hingeht. Ich möchte vorwärtskommen, möchte mit jedem Tage, mit jeder Stunde Neues; er aber will ruhig stehenbleiben und mich zurückhalten. Und doch, wie leicht wäre ihm das! Dazu braucht er mich gar nicht in die Stadt zu bringen – er braucht nur so gegen mich zu sein, wie ich bin, sich nicht zu verstellen und zu verstecken, sondern sich einfach zu zeigen, wie er ist. Das verlangt er ja auch von mir; warum ist er denn nicht einfach und aufrichtig?

Ich fühlte, daß mir die Tränen ans Herz drangen und daß ich gereizt gegen ihn war. Ich erschrak vor diesem Zustand und ging zu ihm.

Er saß in seinem Kabinett und schrieb. Als er meine Schritte hörte, sah er sich einen Augenblick ruhig um. Dann schrieb er weiter. Dieser Blick gefiel mir nicht. Statt gleich zu sprechen, blieb ich vor dem Schreibtisch stehen, schlug ein Buch auf und sah hinein.

Noch einmal riß er sich von seinem Schreiben los und sah mich an.

»Mascha, du bist verstimmt!« sagte er.

Ich antwortete mit einem kalten Blick, der ihm sagen sollte: »Du brauchst nicht zu fragen – brauchst nicht liebenswürdig gegen mich zu sein!«

Er schüttelte den Kopf und lächelte sanft. Aber zum ersten Male antwortete mein Lächeln nicht auf das seinige.

»Was hattest du heute?« fragte ich. »Warum hast du es mir nicht sagen wollen?«

»Dummheiten, kleine Verdrießlichkeiten!« antwortete er. »Aber ich kann es dir erzählen. Zwei Bauern sind in der Stadt . . .«

Ich ließ ihm nicht Zeit, weiterzusprechen.

»Warum hast du das nicht erzählt, als ich dich vor dem Tee darum bat?«

»Ich hätte dir etwas Albernes gesagt; ich war gereizt!«

»Aber ich wollte es gerade vorhin wissen.«

»Warum denn?«

»Warum? Du glaubst also, daß ich dir niemals etwas nützen kann?«

»Wie sollte ich das wohl glauben?« fragte er, indem er die Feder wegwarf. »Ich glaube, daß ich ohne dich nicht leben kann, niemals, nirgends! Du hilfst mir nicht nur, du bist mein Alles! Was fällt dir denn ein?« fuhr er lachend fort. »Ich lebe nur in dir, finde das Leben nur darum schön und gut, weil ich dich habe, weil du . . .«

»Jaja, das weiß ich, ich bin ein gutes Kind, das man zufrieden sprechen muß!« fiel ich in einem so gereizten Ton ein, daß er mich verwundert ansah wie etwas, das man zum erstenmal erblickt. »Ich will keine Ruhe, die hast du genug, übergenug!« fügte ich hinzu.

»Nun, so höre!« unterbrach er mich schnell, als ob er fürchtete, daß ich zuviel sagen könnte. »Wie würdest du die Sache beurteilen?«

»Jetzt will ich nicht!« antwortete ich, obwohl ich dringend wünschte, die Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Aber es war so angenehm, ihn aus seiner Ruhe zu bringen. »Ich will nicht leben spielen – nein, ich will leben, so wie du«, fuhr ich fort.

In seinem Gesicht, in dem sich alles rasch und lebhaft abspiegelte, drückten sich Schmerz und gesteigerte Aufmerksamkeit aus.

»Ich will mit dir leben, gleichberechtigt mit dir . . .«

Ich konnte nicht weitersprechen; ein zu tiefes Weh drückte sich in seinen Zügen aus. Er schwieg eine Weile.

»Inwiefern wärst du denn nicht gleichberechtigt mit mir?« fragte er endlich. »Doch nicht etwa, weil ich mich mit dem Bezirksvogt und den betrunkenen Bauern plage, statt deiner?«

»Nicht allein darum«, antwortete ich.

»Um Gottes willen, mein Herz, verstehe mich«, fuhr er fort. »Ich weiß, daß jede Unruhe Schmerzen macht, weiß das aus Erfahrung, und da ich dich liebe, muß ich doch wünschen, dich vor jeder Unruhe zu bewahren. Darin liegt die Aufgabe meines Lebens: in der Liebe zu dir! Mache es mir nicht unmöglich, sie zu erfüllen!«

»Du hast immer recht!« sagte ich, ohne ihn anzusehen. Es verdroß mich, daß in ihm wieder Klarheit und Ruhe waren, während in mir Schmerz und ein der Reue verwandtes Gefühl sich regten.

»Mascha! Was hast du?« fragte er. »Es ist nicht die Rede davon, ob ich im Recht bin oder du, sondern von ganz anderen Dingen. Was hast du gegen mich? Übereile dich nicht mit deiner Antwort; besinne dich erst, und dann sage mir alles, was du denkst. Du bist unzufrieden mit mir und hast wahrscheinlich Ursache dazu. Bitte, laß mich hören, was meine Schuld gegen dich ist.«

Was sollte ich ihm sagen? Wie konnte ich ihm meine Seele enthüllen? Daß er mich so leicht verstand, daß ich jetzt wieder wie ein Kind vor ihm erschien und nichts tun oder denken konnte, was er nicht durchschaut oder vorausgesehen hätte, reizte mich noch mehr.

»Ich habe nichts gegen dich«, gab ich zur Antwort. »Ich langweile mich nur und möchte, daß es anders wäre. Du sagst aber, es muß sein, und hast wieder recht.«

Während ich das sagte, sah ich ihn an. Mein Zweck war erreicht: seine Ruhe war dahin, Schmerz und Schrecken sprachen aus seinen Zügen.

»Mascha«, fing er mit leiser, tiefbewegter Stimme an, »was wir hier sprechen, ist kein Scherz – es entscheidet über unser Schicksal! Ich bitte dich, mir nicht gleich zu antworten und mich anzuhören. Warum willst du mich quälen?«

Aber ich unterbrach ihn.

»Ich weiß schon, du wirst wieder recht haben! Sprich lieber nicht, du hast recht!« sagte ich kalt. Und es war, als ob nicht ich selbst, sondern ein böser Geist in mir gesprochen hätte.

»Wenn du wüßtest, was du tust!« antwortete er mit zitternder Stimme.

Ich fing an zu weinen, und mir wurde leichter ums Herz.

Er setzte sich neben mich und schwieg. Ich bedauerte ihn, schämte mich und bereute, was ich getan hatte. Ihn anzusehen, wagte ich nicht, denn ich glaubte, daß seine Augen in diesem Augenblick nur Zorn oder Erstaunen ausdrücken könnten. Endlich wandte ich mich doch zu ihm. Ein sanfter, ruhiger Blick, der um Verzeihung zu bitten schien, war auf mich gerichtet. Ich faßte seine Hand und sagte:

»Verzeih mir! Ich weiß nicht, was ich gesagt habe.«

»Ja, aber ich weiß, was du gesagt hast – es ist die Wahrheit.«

»Was?« fragte ich.

»Daß wir nach Petersburg reisen müssen«, antwortete er. »Wir haben hier jetzt nichts zu tun.«

»Wie du willst«, sagte ich.

Er umarmte mich und küßte mich.

»Verzeihe mir!« sagte er dann. »Ich habe eine Schuld gegen dich begangen.«

Am Abend dieses Tages spielte ich lange Klavier, und er ging leise murmelnd im Zimmer hin und her. Er hatte überhaupt die Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, und ich fragte ihn oft, was er gesagt hätte. Dann besann er sich und wiederholte es mir. Zuweilen waren es Verse, zuweilen war es Unsinn – aber ein Unsinn, aus dem ich die Stimmung seiner Seele erkannte.

»Was sprachst du eben?« fragte ich nun.

Er blieb stehen, besann sich und wiederholte mir lächelnd die Lermontoffschen Verse:

». . . Er aber, der Tor, verlangt nach Sturm,
Als ob in dem Sturme der Friede sei, . . .«

Er ist mehr als ein Mensch! Er weiß alles. Wie war's möglich, ihn nicht zu lieben! dachte ich. Dann stand ich auf, nahm seinen Arm und begann, mit ihm hin und her zu gehen, indem ich Schritt zu halten suchte.

»Ist es so?« fragte er und sah mich lächelnd an.

»Ja!« antwortete ich leise; eine heitere Stimmung kam über uns beide, unsere Augen lachten, wir machten immer größere Schritte und erhoben uns dabei auf den Zehen. Und mit diesem Schritt gingen wir zum Verdrusse Grigorijs und zum Erstaunen der Mama, die im Saale Patience legte, durch alle Zimmer, blieben im Speisezimmer stehen, sahen uns an und lachten.

Vierzehn Tage später, noch vor den Feiertagen, waren wir in Petersburg.


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