Leo N. Tolstoi
Glück der Ehe
Leo N. Tolstoi

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IV. Kapitel

Die Fasten der Himmelfahrt Mariä hatten begonnen, und alle im Hause fanden es natürlich, daß ich mich in dieser Zeit zur Abendmahlfeier vorbereitete.

Sergej Michailowitsch kam diese ganze Woche nicht einmal zu uns, und ich wunderte mich nicht darüber, ängstigte mich nicht, zürnte ihm nicht; im Gegenteil, es freute mich, daß er nicht kam, und ich erwartete ihn erst zu meinem Geburtstag.

Die ganze Woche hindurch stand ich früh auf und ging, bis angespannt war, allein in den Garten, nahm in Gedanken alle Sünden des vergangenen Tages durch und überlegte, wie ich es anfangen könnte, um mit dem heutigen Tag zufriedener zu sein und nicht wieder zu fehlen. Damals schien es mir leicht, sich rein von Sünden zu erhalten, ich glaubte, daß man nur ernstlich zu wollen brauche.

Dann fuhr der Wagen vor; Katja oder eines der Dienstmädchen setzte sich zu mir, und wir fuhren die drei Werst weit nach der Kirche. Sobald ich in die Kirche kam, erinnerte ich mich, daß für alle gebetet wird, die »mit Gottesfurcht eintreten«, und ich gab mir ernstlich Mühe, mit dieser Empfindung die zwei mit Gras bewachsenen Stufen der Vorhalle zu überschreiten.

In der Kirche pflegten um diese Zeit nicht mehr als etwa zehn Personen anwesend zu sein: fastende Bäuerinnen und Hofleute. Ich ließ es mir angelegen sein, ihre Grüße mit freundlicher Demut zu erwidern, und ging – was mir wie eine Heldentat vorkam – an die Kerzenschublade, ließ mir von dem Küster, einem alten Soldaten, eine Kerze anzünden und stellte sie vor die Heiligenbilder. Durch die Haupttür des Allerheiligsten sah man die Altardecke, die Mama gestickt hatte. Über der Heiligenwand standen die beiden Engel mit Sternen, die mir so groß erschienen waren, als ich noch klein war, und über ihnen schwebte die Taube mit dem gelben Heiligenschein, die ich immer so sehr bewundert hatte. Hinter dem Chorgitter zeigte sich das verbogene Taufbecken, an dem ich so viele Kinder unserer Hofleute hatte taufen sehen und an dem ich selbst getauft worden war. Und dann erschien der alte Priester in der aus des Vaters Sargdecke verfertigten Stola und las die Messe mit derselben Stimme, mit der er, solange ich mich erinnern konnte, den Gottesdienst in unserem Haus gehalten, Sonja getauft und die Leichenmessen für den Vater und die Mutter gelesen hatte; und dieselbe klapperige Stimme des Psalmensängers erscholl vom Chor; und dasselbe alte Weib, das ich bei jedem Gottesdienst gesehen hatte, stand gebückt an der Wand, sah mit tränenden Augen auf das Heiligenbild über dem Chor, drückte die zusammengelegten Finger an das verschossene Kopftuch und murmelte mit zahnlosem Munde vor sich hin. Das alles war nichts Neues für mich, war mir aber nicht allein wegen der damit verknüpften Erinnerung heilig, sondern schien mir an sich voll tiefer Bedeutung zu sein. Ich lauschte auf jedes Wort der vorgelesenen Gebete, suchte andächtig zu antworten, und wenn ich etwas nicht verstand, bat ich in Gedanken, Gott möge mich erleuchten, oder ersetzte das nicht Gehörte durch eigene Worte. Wenn die Bußgebete gelesen wurden, rief ich mir meine Vergangenheit ins Gedächtnis, und diese kindlich-unschuldige Vergangenheit erschien mir so schwarz im Vergleich mit dem jetzigen lichtvollen Zustand meiner Seele, daß ich in Tränen ausbrach und vor mir selber schauderte; dabei fühlte ich aber, daß das alles vergehen würde, auch wenn ich noch schwerere Sünden auf der Seele hätte – daß meine Reue dann sogar noch süßer wäre. Zu Ende des Gottesdienstes, wenn der Priester sagte: »Gottes Segen über euch!«, hatte ich jedesmal ein körperliches Gefühl des Wohlbehagens, als ob bei diesen Worten Licht und Wärme in mein Herz drängen.

Nach Schluß des Gottesdienstes pflegte der Priester zu mir herauszukommen und zu fragen, ob und wann er sich bei uns einfinden solle, um die Vesper zu lesen; aber dann dankte ich ihm gerührt für die Mühe, die er sich meinetwegen geben wolle, und sagte, daß ich wieder in die Kirche käme. »Sie wollen sich selbst bemühen?« fragte er dann. Und ich wußte nicht, was ich antworten sollte, ohne mich durch Stolz zu versündigen.

Wenn mich Katja nicht begleitete, schickte ich immer vor der Messe die Pferde zurück und ging allein zu Fuß nach Hause. Demütig grüßte ich alle, die mir begegneten; ich suchte bei jeder Gelegenheit zu helfen, zu raten, ein Opfer zu bringen, einem Wagen mit aufzuhelfen, ein Kind zu wiegen, aus dem Wege zu gehen und mich dabei schmutzig zu machen.

*

Eines Abends, als unser Verwalter mit Katja über die Vorgänge im Dorfe sprach, hörte ich ihn sagen, daß der Bauer Simon gekommen sei, um Bretter für den Sarg seiner Tochter und einen Rubel für Totenmessen zu erbitten, und daß er ihm beides gegeben habe.

»Sind die Leute so arm?« fragte ich.

»Sehr arm, gnädiges Fräulein; sie haben nicht das Salz zum Brote«, antwortete der Verwalter. Mir war, als ob mir etwas das Herz zusammenschnürte, und dabei empfand ich doch eine gewisse Freude. Ich sagte Katja, daß ich spazierengehen wollte, lief hinauf, suchte mein Geld zusammen – es war nicht viel, aber alles, was ich besaß –, und nachdem ich mich bekreuzt hatte, ging ich allein über die Terrasse und durch den Garten nach dem Dorfe zu Simons Hütte. Sie lag am Rande des Dorfes. Von niemand bemerkt, näherte ich mich dem Fenster, legte Geld ins Fenster und klopfte an. Es trat jemand aus der Hütte heraus, und eine Stimme rief, wer da sei. Ich aber erschrak und lief, zitternd vor Furcht wie eine Verbrecherin, so schnell ich konnte, nach Hause zurück.

Katja fragte mich, wo ich gewesen und was mir geschehen sei; aber ich verstand kaum, was sie sagte, und gab ihr keine Antwort; alles schien mir plötzlich so nichtig und klein. Ich schloß mich in mein Zimmer ein, ging dort lange hin und her und war nicht imstande, etwas zu tun, zu denken, mir über meine eigenen Gefühle Rechenschaft zu geben.

Nachdem ich ruhiger war, dachte ich an die Freude der armen Familie, an die Dankbarkeit, mit der sie den Geber des Geldes nennen würden, und es tat mir leid, daß ich es ihnen nicht selbst gegeben hatte. Ich stellte mir auch vor, was Sergej Michailowitsch sagen würde, wenn er von dieser Handlung erfahren würde; und es kam eine so große Freudigkeit über mich, und alles – auch ich selbst – erschien mir in so mildem Lichte, daß der Gedanke an den Tod zu einem Traum des Glücks für mich wurde. Ich lächelte, betete, weinte und empfand für alle Menschen, und auch für mich selbst, eine leidenschaftliche Zuneigung.

In den Zwischenzeiten von einem Gottesdienst zum andern las ich das Evangelium; und immer verständlicher wurde mir dieses Buch, immer rührender und einfacher erschien mir die Geschichte dieses göttlichen Lebens, immer erhabener und unergründlicher die Tiefe des Gefühls und der Gedanken, die ich in Jesu Lehre fand. Wie klar und einfach stellte sich mir alles dar, wenn ich dann von diesem Buche aufstand und das Leben um mich her betrachtete! Es schien so schwer, nicht gut zu sein, und so einfach, alle zu lieben und geliebt zu werden.

Alle waren gut und sanft gegen mich; Sonja sogar, die ich weiterhin unterrichtete, war anders als sonst, sie war eifrig bemüht, mich zu verstehen, suchte mir gefällig zu sein und gab sich Mühe, mich nicht zu ärgern. Wie ich gegen die Menschen war, so waren sie gegen mich.

Als ich mich auf die zu besinnen suchte, die ich gekränkt hatte und die ich vor dem Abendmahl um Verzeihung bitten mußte, fiel mir nur eine Dame in der Nachbarschaft ein, über die ich ein Jahr vorher in Gegenwart anderer gelacht hatte und die seitdem aufgehört hatte, uns zu besuchen. Ich schrieb ihr, bekannte meine Schuld und bat um Verzeihung. Sie antwortete in einem Brief, in dem sie sich selbst anklagte und mir verzieh. Ich weinte vor Freude, als ich diese einfachen Zeilen las, in denen mir damals ein tiefes, rührendes Gefühl zu liegen schien.

Die Kinderfrau weinte, als ich sie um Verzeihung bat.

Warum sind alle Menschen so gut gegen mich? Womit habe ich soviel Liebe verdient? fragte ich mich selbst, und unwillkürlich dachte ich an Sergej Michailowitsch, und meine Gedanken blieben lange mit ihm beschäftigt.

Ich konnte nicht anders und hielt es auch nicht für Sünde, aber ich dachte jetzt anders an ihn als in jener Nacht, da ich zuerst erkannte, daß ich ihn liebte. Ich dachte an ihn wie an mich selbst und zog ihn unwillkürlich in jeden Gedanken an meine Zukunft hinein. Der drückende Einfluß, den ich bisher in seiner Gegenwart empfunden hatte, verschwand völlig in meiner Vorstellung. Ich fühlte mich ihm gleich, und auf der Höhe der heiligen Stimmung, in der ich mich jetzt befand, verstand ich ihn ganz. Alles, was mir früher in seinem Wesen seltsam erschienen war, wurde mir begreiflich. Erst jetzt verstand ich, warum er sagte, das wahre Glück bestehe nur darin, für andere zu leben, und stimmte aus tiefstem Herzen mit ihm überein. Ich war überzeugt, daß wir beide ein ruhiges, unendliches Glück ineinander finden würden. Ich dachte nicht an Reisen ins Ausland, nicht an Gesellschaften, nicht an äußeren Glanz, sondern nur an ein stilles Familienleben auf dem Lande, unablässige Selbstaufopferung, unwandelbare Liebe und dankbares Erkennen der Güte des Geschickes.

*

Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich an meinem Geburtstage zum Abendmahl und war, als ich aus der Kirche kam, von einem so tiefen Glücksgefühl erfüllt, daß ich die Rückkehr ins Leben fürchtete, weil jeder neue Eindruck mein Glück zerstören konnte. Aber kaum waren wir aus dem Wagen gestiegen, als ein bekanntes Kabriolett über die Brücke polterte und ich Sergej Michailowitsch erblickte. Er gratulierte mir, und wir gingen zusammen in den Saal.

Niemals, seit ich ihn kannte, war ich ihm gegenüber so unbefangen und selbständig gewesen wie an diesem Morgen. Ich fühlte, daß eine ganz neue Welt in mir lebte, die er nicht kannte und die über ihm stand. Ich fühlte nicht mehr die geringste Befangenheit in seiner Gegenwart. Er schien zu ahnen, woher das kam, und war besonders sanft und achtungsvoll gegen mich. Ich trat ans Klavier; aber er schloß es zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Verderben Sie Ihre Stimmung nicht«, sagte er. »Sie tragen jetzt eine Harmonie in der Seele, die besser ist als jede andere in der Welt.«

Ich war ihm dankbar für diese Worte, und doch fühlte ich ein leises Unbehagen darüber, daß er so leicht und klar durchschaute, was ich – allen verborgen – in der Seele trug.

Beim Mittagessen sagte er, daß er gekommen sei, sowohl um mir zu gratulieren als auch um Abschied zu nehmen, denn er würde morgen nach Moskau reisen. Während er das sagte, sah er Katja an, streifte aber flüchtig mein Gesicht, und ich verstand, daß er fürchtete, dem Ausdruck der Betrübnis in meinen Mienen zu begegnen. Ich wunderte mich indessen nicht über seine Mitteilung, erschrak nicht, fragte nicht einmal, auf wie lange er fort wollte, denn ich wußte, daß er dies von selbst sagen – und überhaupt nicht abreisen würde. Woher ich das wußte, kann ich nicht erklären. Aber an diesem denkwürdigen Tag schien mir, als ob ich alles wüßte, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Ich befand mich in einer Art von glückseligem Traum, wo alles noch Bevorstehende bereits geschehen zu sein scheint, so daß ich alles wußte, was kommen und auch wie es kommen würde.

Er wollte eigentlich gleich nach Tisch wieder wegfahren; aber Katja, die von der Messe ermüdet war, hatte sich etwas niedergelegt, und er mußte auf ihr Erwachen warten, um ihr Lebewohl zu sagen. Da es im Saal sonnig war, gingen wir auf die Terrasse.

Kaum hatten wir uns gesetzt, als ich in größter Ruhe das Gespräch begann, das über das Schicksal meiner Liebe entscheiden sollte. Nicht einen Augenblick früher und nicht einen Augenblick später, als wir uns niedersetzten, begann ich. Noch war kein Wort gesprochen, noch hatte die Unterhaltung keinen Ton oder Charakter, der in das, was ich sagen wollte, hätte hineinspielen können. Ich weiß selbst nicht, woher ich diese Ruhe und die Klarheit und Entschlossenheit meiner Ausdrucksweise nahm. Es war, als ob nicht ich, sondern etwas von meinem Willen Unabhängiges in mir spräche. Er saß mir gegenüber, hatte sich auf das Geländer gestützt und einen Fliederzweig herangezogen, von dem er die Blätter abriß. Als ich zu sprechen begann, ließ er den Zweig los und stützte den Kopf in die Hand, eine Haltung, die sowohl große Ruhe wie große Aufregung andeuten konnte.

»Warum reisen Sie?« fragte ich bedeutungsvoll gedehnt und sah ihm gerade ins Gesicht.

Er antwortete nicht sogleich.

»Geschäfte«, sagte er dann, schlug dabei aber die Augen nieder. Ich begriff, wie schwer es ihm wurde, auf meine aufrichtige Frage mit einer Lüge zu antworten.

»Hören Sie«, fuhr ich fort, »Sie wissen, welch ein Tag heute für mich ist. In vieler Hinsicht ist dieser Tag höchst wichtig. Wenn ich Sie frage, so geschieht es nicht, um Neugierde auszudrücken (Sie wissen, daß ich an Sie gewöhnt bin und Sie gern habe). Ich frage, weil ich die Wahrheit wissen muß. – Warum verreisen Sie?«

»Es fällt mir sehr schwer, Ihnen die Wahrheit zu sagen«, antwortete er. »Ich habe diese Woche viel über Sie und mich nachgedacht und bin zu der Überzeugung gekommen, daß ich fort muß. Warum, verstehen Sie – und wenn Sie mich liebhaben, fragen Sie nicht weiter.«

Er rieb sich die Stirn und legte die Hand dann über die Augen.

»Es wird mir schwer – und Sie verstehen das«, fügte er hinzu.

Mein Herz fing heftig an zu klopfen.

»Nein, ich kann es nicht verstehen«, entgegnete ich, »ich kann nicht! Sagen Sie mir – um Gottes willen, um des heutigen Tages willen, sagen Sie es mir. Ich kann alles ruhig hören.«

Er veränderte seine Stellung, sah mich einen Augenblick an und faßte wieder nach dem Zweig.

»Warum nicht?« sagte er, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, indem er sich vergebens bemühte, seiner Stimme die gewöhnliche Festigkeit zu geben. »Es ist zwar albern und fast unmöglich, dergleichen mit Worten zu erklären, aber wenn es mir auch schwerfällt, ich will versuchen, mich Ihnen deutlich zu machen.«

Bei diesen Worten verzog er das Gesicht, als ob er körperlichen Schmerz empfände.

»Nun?« fragte ich.

»Denken Sie an einen Mann, einen alten, abgenutzten Gesellen, den wir A. nennen wollen, und ein junges, glückliches Mädchen, B. mit Namen, das weder die Menschen noch das Leben kennt. Besondere Familienverhältnisse haben es gefügt, daß er sie liebgewann wie eine Tochter, und es kam ihm nie in den Sinn, daß er sie jemals anders lieben könnte.«

Er schwieg, aber ich unterbrach die Pause nicht.

Nach einer Weile fuhr er schnell und entschlossen fort, ohne mich anzusehen:

»Nach und nach vergaß er, daß B. so jung und das Leben für sie ein Spiel war. Und plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß ein anderes Gefühl, schwer wie die Reue, sich in seine Seele schlich – und er erschrak – erschrak, daß ihre früheren freundschaftlichen Beziehungen zerstört werden sollten, und beschloß, sich lieber loszureißen, als diese Beziehungen aufs Spiel zu setzen.«

Während er dies sagte, hatte er abermals die Hand über die Augen gelegt; dann schwieg er und schien in Nachdenken zu versinken.

»Aber warum fürchtete er zu lieben?« fragte ich, indem ich meine Aufregung bezwang, in meinem gewöhnlichen Ton; aber ihm mußte er scherzend geklungen haben, denn er antwortete mit dem Ausdruck der Kränkung:

»Sie sind jung – ich bin es nicht mehr. Sie wollen mit dem Leben spielen – ich brauche etwas anderes. Spielen Sie, aber nicht mit mir. Es würde mir, glaube ich, nicht gut sein, und Sie würden sich später ein Gewissen daraus machen. So hat A. geantwortet«, fügte er hinzu. »Das alles ist ja Unsinn! Aber Sie verstehen, warum ich reise, und wir wollen nicht mehr davon sprechen – ich bitte Sie!«

»Doch, doch, wir wollen davon sprechen!« antwortete ich, und Tränen zitterten in meiner Stimme. »Hat er sie geliebt oder nicht?«

Er gab keine Antwort.

»Und wenn er sie nicht geliebt hat«, fuhr ich fort, »warum hat er mit ihr gespielt wie mit einem Kinde?«

»Jaja, A. war der Schuldige!« fiel er mir schnell in die Rede. »Dann aber machte er ein Ende, und sie trennten sich als Freunde.«

»Das ist schrecklich! Wäre denn keine andere Lösung möglich?« fragte ich und erschrak vor meinen eigenen Worten.

»Jawohl«, antwortete er, indem er die Hand von den Augen nahm und mich gerade ansah. »Es sind zwei verschiedene Lösungen möglich. Aber um Gottes willen, unterbrechen Sie mich nicht und verstehen Sie mich recht: die einen behaupten«, fuhr er fort, indem er aufstand und schmerzlich erzwungen lächelte, »die einen behaupten, A. wäre verrückt geworden. Er hatte B. wahnsinnig geliebt und sagte ihr das. Sie aber lachte dazu, denn ihr war das alles Scherz, für ihn aber war es das Wichtigste im Leben.«

Ich zuckte zusammen, wollte ihn unterbrechen, ihm sagen, daß er sich nicht erlauben dürfe, für mich zu antworten; aber er hielt mich zurück, indem er seine Hand auf die meinige legte.

»Warten Sie!« fuhr er mit zitternder Stimme fort. »Andere sagen, sie hätte Mitleid mit ihm gehabt, hätte sich eingebildet – die Arme, die Menschen und Leben nicht kannte –, daß sie ihn wirklich lieben könne, und hätte eingewilligt, sein Weib zu werden. Und er, der Wahnsinnige, glaubte – glaubte, daß sein Leben von neuem beginnen könne! Aber nur zu bald sah sie ein, daß sie ihn und er sie getäuscht hatte. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen!« schloß er, augenscheinlich außerstande, weiterzureden, und fing schweigend an, hin und her zu gehen.

»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, hatte er gesagt; aber ich sah, daß er mit allen Kräften seiner Seele auf meine Antwort wartete. Ich wollte sprechen, aber ich konnte nicht – die Brust war mir wie zusammengeschnürt. Ich sah ihn an: er war bleich, und seine Unterlippe zitterte. Er tat mir leid. Ich machte eine Anstrengung, zerriß den Bann des Schweigens, der mich umschnürte, und fing mit einer leisen, kaum hörbaren Stimme, die jeden Augenblick zu erlöschen drohte, zu sprechen an.

»Und die dritte Lösung?« sagte ich und stockte wieder. Aber er schwieg, und ich fuhr fort: »Und die dritte Lösung – daß er sie nicht liebte, aber sie unglücklich machte, unglücklich, und meinte, er habe recht, und davonging und noch stolz darauf war. Ja, Ihnen, nicht mir war alles Scherz, ich habe Sie vom ersten Tage an geliebt! Ich habe Sie geliebt!« wiederholte ich, und bei dem Wort »geliebt« verwandelte sich meine flüsternde, verhaltene Stimme in einen wilden Schrei, der mich selbst erschreckte.

Mit bleichem Gesicht stand er mir gegenüber; seine Lippen zitterten stärker und stärker, und zwei Tränen rollten über seine Wangen.

»Das war schlecht!« schrie ich wieder. Ich fühlte mich von bitteren, nicht geweinten Tränen dem Ersticken nahe. »Warum?« sagte ich und wollte aufstehen, um fortzugehen.

Aber er ließ mich nicht gehen. Sein Kopf lag auf meinen Knien, seine Lippen küßten meine zitternden Hände, und seine Tränen fielen darauf nieder.

»Mein Gott, wenn ich gewußt hätte!« sagte er.

»Warum?« wiederholte ich immer aufs neue, und in meinem Herzen war Seligkeit, eine Seligkeit, die jetzt längst entschwunden ist und nimmer wiederkehrt.

Fünf Minuten später lief Sonja zu Katja hinauf und schrie durch das ganze Haus:

»Unsere Mascha will Sergej Michailowitsch heiraten!«


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