Leo N. Tolstoi
Glück der Ehe
Leo N. Tolstoi

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VIII. Kapitel

Seit diesem Tage ging in unserem Leben und unseren Beziehungen eine vollständige Wandlung vor. Es war uns nicht mehr so angenehm wie sonst, allein zu sein. Es gab Fragen, die wir umgingen, und wir konnten oft besser miteinander verkehren, wenn ein Dritter zugegen war, als unter vier Augen. Sobald die Rede auf das Landleben kam oder auf den Ball, war es uns unbehaglich, uns anzusehen, als ob wir beide fühlten, wo die Kluft lag, die uns trennte, und fürchteten, uns ihr zu nähern. Ich hatte die Überzeugung gewonnen, daß er stolz und heftig sei und daß man vorsichtig mit ihm umgehen müsse, um seine schwache Seite nicht anzutasten. Er glaubte, daß ich es ohne Gesellschaften nicht aushalten könne, daß das Landleben nicht nach meinem Geschmack sei und daß er sich meiner unglückseligen Neigung fügen müsse. Wir vermieden beide sorgfältig, über diese Gegenstände zu sprechen, und beide beurteilten wir uns falsch. Längst schon hatten wir aufgehört, füreinander die vollkommensten Menschen der Welt zu sein: wir stellten Vergleiche mit anderen an, und im stillen verurteilten wir uns gegenseitig.

Kurz vor dem zur Abreise bestimmten Tag wurde ich krank, und statt auf unser Gut zu gehen, zogen wir in ein Landhaus bei Petersburg, von wo aus Sergej allein nach Nikolski zu seiner Mutter fuhr. Als er abreiste, war ich so weit hergestellt, daß ich sehr gut hätte mitreisen können. Aber er überredete mich zu bleiben, unter dem Vorwand, daß er für meine Gesundheit fürchte. Ich fühlte jedoch, daß dies nicht sein eigentlicher Grund war, sondern daß er sich scheute, mit mir allein auf dem Lande zu sein. Ich bestand auch nicht auf meinem Vorschlag, sondern blieb zurück.

Meine Tage erschienen mir leer und einsam ohne ihn. Als er aber zurückkam, fühlte ich, daß er mir nicht mehr gab, was er früher in mein Leben hineingetragen hatte. Das frühere Verhältnis zwischen uns – als es mir wie ein Verbrechen erschien, ihm nur einen meiner Gedanken, einen meiner Eindrücke vorzuenthalten, als jedes seiner Worte, jede seiner Handlungen mir ein Muster der Vollkommenheit zu sein schien und wir vor Freude lachten, wenn wir uns ansahen – diese Zustände gingen so unbemerkt in andere über, daß wir nicht wußten, wann und wie sie verschwanden. Jeder von uns hatte jetzt seine besonderen Interessen und Sorgen, die wir nicht miteinander zu teilen versuchten. Es schmerzte uns nicht mehr, daß jedes von uns seine eigene, dem andern fremde Welt hatte. Wir gewöhnten uns daran, und nach einem Jahr hörten die Augen auf, sich zu erhellen, wenn wir uns ansahen. Seine Anfälle von kindischer Heiterkeit verschwanden und ebenso die Duldsamkeit und Gleichgültigkeit, die mich früher an ihm geärgert hatten. Seine Augen hatten nicht mehr jenen tiefeindringenden Blick, der mich früher zugleich in Verwirrung gebracht und erfreut hatte. Die gemeinschaftlichen Gebete und Kunstgenüsse hatten aufgehört. Wir sahen uns sogar nur noch selten, denn er war fast immer auf Reisen und fürchtete nicht und bedauerte nicht, mich allein zu lassen. Ich war ja immer in der Gesellschaft, wo ich ihn nicht brauchte.

Szenen und Zwistigkeiten kamen zwischen uns nicht mehr vor. Ich suchte, seinen Wünschen entgegenzukommen, wenn er da war, und er erfüllte alle meine Wünsche, als ob wir uns liebten.

Wenn wir einmal allein blieben, was selten vorkam, fühlte ich ihm gegenüber weder Freude noch Aufregung noch Verwirrung, ebenso wenig, als ob ich mit mir allein gewesen wäre. Er war mein Mann, keine neue interessante Erscheinung, aber ein guter Mensch, mein Mann, den ich kannte wie mich selbst. Ich war überzeugt, immer vorher zu wissen, was er tun und wie er urteilen würde, und wenn das anders war, als ich erwartete, hatte ich das Gefühl, als ob er hier im Unrecht wäre. Ich hoffte nichts von ihm, wünschte nichts, mit einem Wort: er war mein Mann, weiter nichts. Es schien mir, als ob es so sein müsse, als ob es keine andere Art von Ehe geben könne und als ob auch in der unsrigen niemals andere Beziehungen bestanden hätten.

Wenn er verreiste, hatte ich zwar, die erste Zeit besonders, ein Gefühl der Einsamkeit und Beängstigung und erkannte, welche Stütze er mir war. Kam er zurück, so fiel ich ihm voller Freude um den Hals; aber schon nach ein paar Stunden hatte ich diese Freude vergessen und wußte nichts mehr mit ihm zu sprechen. Nur in den Augenblicken stiller, gemäßigter Zärtlichkeit, die dann und wann eintraten, schien mir, als ob etwas nicht so wäre wie sonst. Es tat mir etwas im Herzen wehe, und in seinen Augen glaubte ich dasselbe zu lesen. Ich fühlte eine Grenze der Zärtlichkeit, die er nicht überschreiten wollte und ich nicht überschreiten konnte. Zuweilen machte mich dies traurig; aber ich hatte nicht Zeit, mich zu grämen, und suchte die Wehmut, das unklare Gefühl eines Verlustes in den Vergnügungen, die für mich erreichbar waren, zu betäuben.

Das Gesellschaftsleben, das mich anfangs mit seinem Glanz und seiner Schmeichelei berauschte, beherrschte bald alle meine Neigungen, wurde mir zur Gewohnheit, legte mir seine Fesseln an und nahm in meiner Seele die Stelle des Gefühlslebens ein. Mit mir allein sein mochte ich nicht, denn ich fürchtete, mich in die Betrachtung meiner Lage zu versenken. Alle meine Stunden, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, waren besetzt und gehörten nicht mir, auch wenn ich nicht ausging. Dieses Hinleben war mir weder unterhaltend noch langweilig. Ich glaubte einfach, daß es so und nicht anders sein müsse.

*

In dieser Weise vergingen drei Jahre, in deren Verlauf unser Verhältnis sich so gleich blieb, als ob es stille stände, einfröre und weder besser noch schlechter würde. In unserem Familienleben traten während dieser Zeit zwei wichtige Ereignisse ein, die meine Lebensweise aber nicht veränderten: die Geburt meines ersten Kindes und der Tod meiner Schwiegermutter.

In der ersten Zeit umfing mich das Muttergefühl mit solcher Kraft und rief ein so unverhofftes Entzücken in mir hervor, daß ich glaubte, es müsse ein neues Leben für mich beginnen. Aber nach zwei Monaten, als ich wieder anfing auszugehen, wurde dies Gefühl schwächer und schwächer und ging bald in Gewohnheit und kalte Pflichterfüllung über. Sergej dagegen war seit der Geburt unseres ersten Sohnes wieder der ruhige, sanfte, häusliche Mann von früher geworden, der seine Zärtlichkeit und Heiterkeit dem Kinde widmete. Oft, wenn ich im Ballkleid in die Kinderstube trat, um dem Kleinen gute Nacht zu sagen und ihn zu bekreuzen, fand ich Sergej dort. Dann bemerkte ich wohl etwas Strenges, Vorwurfsvolles in seinen auf mich gerichteten Blicken und schämte mich. Mir graute plötzlich vor meiner Gleichgültigkeit gegen das Kind, und ich fragte mich: Bin ich denn schlechter als andere Frauen? Aber was konnte ich tun? Ich liebte meinen Sohn. Ganze Tage bei ihm zu sitzen, war mir jedoch unmöglich – es langweilte mich, und verstellen wollte ich mich nicht.

Der Tod der Mutter war ein großer Schmerz für Sergej Michailowitsch. Es fiel ihm schwer, wie er sagte, ohne sie in Nikolski zu leben. Ich dagegen, obwohl ich sie betrauerte und den Kummer meines Mannes mitfühlte, fand es jetzt auf unserem Gute behaglicher und angenehmer als früher. Wir hatten die drei Jahre größtenteils in der Stadt verlebt. Nur einmal war ich zwei Monate in Nikolski gewesen.

*

Im dritten Jahr gingen wir ins Ausland. Wir brachten den Sommer in Baden-Baden zu.

Ich war damals einundzwanzig Jahre alt. Unser Vermögen hielt ich für glänzend; vom Eheleben verlangte ich nicht mehr, als es mir gab. Alle, die ich kannte, schienen mich liebzuhaben; meine Gesundheit war vortrefflich. Meine Toilette gehörte zu den besten des Badeortes. Ich wußte, daß ich schön war. Das Wetter war herrlich. Ich fühlte mich vom Glanz der Schönheit und Eleganz umgeben und war sehr heiter.

Es war nicht die Fröhlichkeit, wie sie mich in Nikolski erfüllte, wenn ich fühlte, daß ich in mir selbst glücklich war, weil ich verdient hatte, es zu sein, und weil ich wußte, daß mein Glück – so groß es war – noch größer werden sollte. Ja, damals war es anders! Aber auch in diesem Sommer war mir wohl. Ich wollte nichts, hoffte nichts, fürchtete nichts. Mein Leben schien mir ausgefüllt, und mein Gewissen war ruhig.

Unter den jungen Männern dieser Saison gab es auch nicht einen, den ich in irgendeiner Weise ausgezeichnet hätte. Auch nicht einmal der alte Fürst K., unser Gesandter, der mir den Hof machte, fesselte mich. Der eine war jung, der andere alt, der eine ein blonder Engländer, der andere ein Franzose mit einem Bärtchen – das waren die einzigen Verschiedenheiten. Alle waren mir gleichgültig, aber alle waren mir unentbehrlich. Sie waren alle gleicherweise unbedeutende Persönlichkeiten, aber sie schufen die heitere Stimmung, die mich umgab.

Nur einer unter ihnen, der italienische Marquis D., erregte meine Aufmerksamkeit durch die kecke Art und Weise, in der er seine Bewunderung für mich kundgab. Er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, mit mir zusammen zu sein, mit mir zu tanzen, zu reiten, im Kasino zu plaudern und mir zu sagen, ich sei schön. Zuweilen sah ich ihn von meinem Fenster aus vor dem Hause stehen, und das Hinaufstarren seiner glänzenden Augen trieb mir das Blut in die Wangen und zwang mich, die Blicke abzuwenden. Er war jung, schön, elegant und hatte – besonders im Lächeln und in der Form der Stirn – eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Manne, war aber viel hübscher als dieser. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war mir um so merkwürdiger, als der Marquis sowohl im allgemeinen als auch in der Form des Mundes, im Blick, im Kinn statt des gütigen Ausdrucks und der idealen Ruhe meines Mannes etwas Rohes und Tierisches hatte.

Ich glaubte damals, daß er mich leidenschaftlich liebe, und dachte zuweilen mit stolzem Mitleid an ihn. Zuweilen versuchte ich auch, ihn zu beruhigen und in den Ton einer halb freundschaftlichen, stillen Zutraulichkeit hinüberzuführen. Er wies jedoch diese Versuche entschieden zurück und fuhr fort, mich mit seiner Leidenschaft, die sich nicht aussprach, aber jeden Augenblick bereit war, es zu tun, in peinliche Verlegenheit zu bringen. Obgleich ich es mir nicht gestand, fürchtete ich mich vor diesem Menschen und dachte gegen meinen Willen oft an ihn. Mein Mann war mit ihm bekannt, und zwar besser als mit unseren anderen Bekannten, für die er nur der Mann seiner Frau war und gegen die er sich kühl und hochfahrend verhielt.

Zu Ende der Saison erkrankte ich und konnte vierzehn Tage das Zimmer nicht verlassen. Als ich zum erstenmal wieder abends ins Konzert ging, hörte ich, daß die durch ihre Schönheit bekannte Lady S. während meiner Abwesenheit angekommen sei. Um mich hatte sich ein Kreis gebildet, der mir einen freudigen Empfang bereitete, aber ein noch größerer Kreis entstand um den neuen Liebling der Gesellschaft. Alle um mich her sprachen nur von ihr und ihrer Schönheit. Man zeigte sie mir; sie war wirklich reizend, bis auf einen Zug hochmütiger Selbstgefälligkeit, der mich – wie ich offen aussprach – unangenehm berührte.

Alles, was bisher so heiter gewesen war, erschien mir heute langweilig. Am folgenden Tag hatte Lady S. eine Partie nach dem Schlosse veranstaltet, an der ich jedoch nicht teilnehmen mochte. Es blieb fast niemand bei mir zurück, und alles veränderte sich in meinen Augen. Alles und alle kamen mir albern und langweilig vor, ich hätte weinen mögen und beschloß, meine Kur schneller zu beendigen und nach Rußland zurückzukehren. Ein häßliches Gefühl war in meiner Seele erwacht, aber ich gestand es mir noch nicht. Ich glaubte, daß ich von meinem Unwohlsein angegriffen wäre, und hörte auf, mich in der Gesellschaft zu zeigen. Nur morgens ging ich dann und wann an den Brunnen oder fuhr nachmittags mit L. M., einer russischen Bekannten, in der Umgegend spazieren. Mein Mann war damals in Heidelberg, wo er das Ende meiner Kur und unsere Rückkehr nach Rußland abwarten wollte, und kam nur dann und wann zum Besuch nach Baden-Baden.

Eines Tages hatte Lady S. die ganze Gesellschaft zu einer Jagdpartie vereinigt, und ich fuhr nachmittags mit L. M. nach dem Schlosse. Während unser Wagen langsam aufwärts fuhr und wir zwischen den hundertjährigen Kastanien, die die Chaussee beschatten, immer weitere Ausblicke in die reizende Umgebung Baden-Badens gewannen, die jetzt von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet war, fingen wir an, von ernsteren Dingen zu sprechen, als wir sonst zu tun pflegten. L. M., die ich schon lange kannte, erschien mir jetzt zum erstenmal als eine gute, kluge Frau, mit der man alles besprechen konnte und deren Freundschaft ein Gewinn war. Wir sprachen von unseren Familien, von den Kindern, von der Leere des hiesigen Treibens, fühlten Sehnsucht nach dem russischen Landleben, und es wurde uns dabei zugleich wohl und wehe. Unter dem Einfluß dieser Empfindung betraten wir den Schloßhof. Zwischen den Mauern war es schattig kühl, aber auf den Ruinen lagen noch die Strahlen der Sonne. In der Nähe waren Schritte und Stimmen zu hören. Durch das Tor zeigte sich, wie in einen Rahmen gefaßt, das reizende, aber für uns Russen kalte Bild der Badener Landschaft. Wir setzten uns, um auszuruhen, und blickten schweigend auf die untergehende Sonne. Die Stimmen wurden deutlicher, und ich glaubte meinen Namen zu hören. Unwillkürlich fing ich an zu lauschen und verstand jedes Wort.

Die Stimmen waren mir bekannt. Es waren die des Marquis D. und seines Freundes, eines Franzosen, den ich ebenfalls kannte. Sie sprachen von mir und Lady S. Der Franzose verglich uns miteinander und analysierte unsere Schönheit. Er sagte nichts Beleidigendes, aber doch strömte mir das Blut zum Herzen, als er meine Vorzüge und die der Lady S. einzeln aufzählte. Ich hätte schon ein Kind, Lady S. wäre aber erst neunzehn Jahre alt. Ich hätte schöneres Haar, die Lady S. dagegen eine graziösere Gestalt. »Und dann ist Lady S. eine große Dame«, fügte er hinzu, »während Ihre Schöne nur zu den kleinen russischen Fürstinnen gehört, die sich jetzt so zahlreich einstellen.« Er schloß mit der Bemerkung, daß ich sehr wohl daran täte, mich nicht auf einen Wettkampf mit Lady S. einzulassen, und daß ich für Baden-Baden tot und begraben sei. »Ich bedaure sie. Wenn sie sich nur nicht mit Ihnen trösten will!« fügte er heiter und grausam lachend hinzu.

»Wenn sie abreist, reise ich ihr nach«, antwortete die andere Stimme mit dem italienischen Akzent.

»Glücklicher Sterblicher: er kann noch lieben!« lachte der Franzose.

»Lieben?« wiederholte die andere Stimme und verstummte. »Ja! Ich kann ohne Liebe nicht bestehen. Ohne sie ist kein Leben! Einen Roman aus dem Dasein machen, ist das einzig Gute. Und meine Romane blieben nie in der Mitte stehen. Auch diesen werde ich zu Ende bringen.«

»Bonne chance, mon ami!« sagte der Franzose. Weiter hörte ich nichts, weil sie um die Ecke bogen.

Bald darauf erklangen ihre Schritte von der anderen Seite. Sie kamen die Treppe herunter, traten einige Minuten später aus einer Seitentür und wunderten sich sehr, uns hier zu finden. Ich errötete, als sich der Marquis D. mir näherte, und es war mir im höchsten Grade peinlich, daß er, als wir aufbrachen und das Schloß verließen, mir den Arm bot. Abweisen konnte ich ihn jedoch nicht, und so gingen wir hinter L. M. und seinem Freunde unserem Wagen zu. Ich fühlte mich durch das Urteil des Franzosen über mich verletzt, obwohl ich mir in der Stille eingestehen mußte, daß er nur meine eigene Empfindung ausgesprochen hatte. Noch mehr aber war ich über die rohen Äußerungen des Marquis empört. Der Gedanke, daß er vielleicht ahnte, ich hätte ihn gehört, und daß er sich doch nicht vor mir scheute, war mir peinlich, und geradezu widerwärtig war es mir, ihn in meiner Nähe zu fühlen. Ohne ihn anzusehen und ohne ihm zu antworten, ging ich rasch hinter L. M. her und suchte meine Hand so zu halten, daß sie seinen Arm nicht berührte.

Der Marquis sagte etwas über die reizende Aussicht, über das unverhoffte Glück, mich getroffen zu haben, und noch einiges, was ich nicht hörte. Ich dachte in diesem Augenblick an meinen Mann, an meinen Sohn, an Rußland. Ich schämte mich wegen irgend etwas, bereute, wollte – was, wußte ich selbst nicht – und sehnte mich, nach Hause zu kommen, in mein einsames Zimmer im Hotel de Bade, um in Ruhe überlegen zu können, was in meiner Seele vorging. Aber L. M. ging langsam, unser Wagen war noch weit, und mein Kavalier schien hartnäckig den Schritt zu mäßigen, als ob er mit mir zurückbleiben wollte. – Es kann nicht sein! dachte ich und ging rascher; aber nun hielt er mich wirklich zurück, drückte sogar meine Hand. L. M. bog um die Ecke des Weges, und wir waren allein. Mir wurde bange.

»Entschuldigen Sie!« sagte ich kalt und wollte ihm die Hand entziehen, aber die Spitzen meines Ärmels blieben an seinen Knöpfen hängen. Er neigte sich zu mir, fing an, sie loszumachen, und seine handschuhlosen Finger berührten meinen Arm. Ein mir fremdes Gefühl, halb Furcht, halb Freude, überrieselte mich wie ein Frostschauer. Ich sah ihn an, wollte mit einem kalten Blick die ganze Verachtung ausdrücken, die ich gegen ihn fühlte. Aber es gelang mir nicht: er drückte Schrecken aus und Aufregung. Seine glühenden, feuchten Augen blickten aus nächster Nähe leidenschaftlich auf mich nieder, auf meinen Hals, meine Brust; seine beiden Hände berührten meinen Arm über dem Handgelenk; seine geöffneten Lippen fingen an zu flüstern, sagten, daß er mich liebe, daß ich sein Alles sei, und dabei näherten sich mir diese Lippen, und seine Hände drückten die meinigen mit sengender Glut. Wie Feuer durchlief es meine Adern. Es wurde dunkel vor meinen Augen. Ich zitterte, und die Worte, mit denen ich ihn zurückweisen wollte, erstarben auf meinen Lippen. Plötzlich fühlte ich seinen Kuß auf meiner Wange. Zitternd, erstarrend blieb ich stehen und sah ihn an. Unfähig, zu sprechen oder mich zu bewegen, wartete ich schaudernd auf ein unbestimmtes Etwas und sehnte mich zugleich danach. Alles das währte nur einen Augenblick. Aber dieser Augenblick war schrecklich! Ich sah den Marquis ganz deutlich, bemerkte jede Einzelheit in seinem Gesicht, die steile niedrige Stirn, die unter dem Strohhut sichtbar wurde und der Stirn meines Mannes glich, die schöne gerade Nase mit den weit geöffneten Nüstern, den langen, spitzigen, pomadisierten Schnurrbart, das Kinnbärtchen; die glattrasierten Wangen und den gebräunten Hals. Ich haßte diesen Menschen, fürchtete ihn, er war mir fremd, und doch weckten seine Aufregung und Leidenschaft in diesem Augenblick einen so starken Widerhall in meiner Seele, daß ich mich von einer unüberwindlichen Macht getrieben fühlte, mich den Küssen dieses schönen, rohen Mundes, den Umklammerungen dieser weißen Hände mit den feinen Adern und den blitzenden Ringen hinzugeben. Unwiderstehlich riß es mich zu ihm hin und zu dem lockenden Abgrunde verbotener Genüsse, der sich plötzlich vor mir öffnete.

Ich bin so unglücklich! dachte ich. Möge sich denn noch mehr und immer mehr Unheil auf meinem Haupte anhäufen!

Er umfaßte mich mit einem Arm und beugte sich dicht über mein Gesicht.

Mögen sich mehr und mehr Schande und Sünde auf meinem Haupte sammeln! dachte ich wieder.

»Je vous aime!« flüsterte er mit einer Stimme, die der meines Mannes ähnlich war. Sergej und mein Kind traten vor mein Gedächtnis wie längst verstorbene teure Wesen, zu denen ich keine Beziehungen mehr hatte. Aber plötzlich ertönte von der Biegung des Weges die Stimme der L. M., die meinen Namen rief.

Ich kam zu mir selbst, riß meine Hand los und eilte, ohne den Marquis anzusehen, auf L. M. zu. Wir setzten uns in den Wagen, und erst jetzt sah ich ihn an. Er nahm den Hut ab und richtete lächelnd eine Frage an mich. Den unaussprechlichen Widerwillen, den ich in diesem Augenblick gegen ihn empfand, ahnte er nicht.

Mein Leben schien dem Unglück verfallen, die Zukunft hoffnungslos, die Vergangenheit dunkel. L. M. sprach mit mir, aber ich verstand ihre Worte nicht. Mir war, als ob sie nur aus Mitleid mit mir spräche und um die Verachtung zu verbergen, die ich ihr einflößte. In jedem Wort, jedem Blick schien mir diese Verachtung, dies beleidigende Mitleid zu liegen. Den Kuß des Marquis fühlte ich wie ein Brandmal der Schande auf meiner Wange, und der Gedanke an Mann und Kind war mir unerträglich.

Als ich endlich allein in meinem Zimmer war, suchte ich meine Lage zu überdenken, aber mir wurde unheimlich in dieser Einsamkeit. Ich konnte den Tee, den man mir brachte, nicht fertig trinken, und ohne zu wissen warum, fing ich an, mit fieberhafter Eile einzupacken, um mit dem Abendzug nach Heidelberg zu meinem Mann zu fahren.

*

Erst als ich mit dem Dienstmädchen in das leere Abteil stieg, der Zug sich in Bewegung setzte und die frische Luft ins Fenster wehte, fing ich an, mich zu besinnen und mir Vergangenheit und Zukunft deutlich vorzustellen. Mein ganzes Eheleben seit unserer Übersiedelung nach Petersburg stellte sich mir plötzlich in neuem Licht dar und legte sich wie ein Vorwurf auf meine Seele. Zum erstenmal erinnerte ich mich lebhaft an unser Leben auf dem Lande, an unsere ehemaligen Zukunftspläne. Zum erstenmal drängte sich mir die Frage auf, welche Art von Glück mein Mann seitdem gefunden habe, und ich fühlte mich schuldig gegen ihn. Aber warum hatte er mich nicht zurückgehalten, warum war er nicht offen gegen mich, warum hat er jede Erklärung gemieden, warum hat er mich gekränkt? fragte ich mich selbst. Warum machte er nicht Gebrauch von der Gewalt der Liebe, oder hat er mich nicht geliebt? Aber wieviel Schuld er auch haben mochte, der Kuß eines fremden Mannes lag auf meiner Wange, und ich fühlte ihn.

Je näher ich Heidelberg kam, um so deutlicher stellte ich mir Sergej vor, und um so schrecklicher wurde mir das bevorstehende Wiedersehen.

Alles, alles werde ich ihm sagen, werde alles in Tränen der Reue ausweinen, dachte ich, und er wird mir verzeihen! Aber ich wußte selbst nicht, was »alles« ich ihm sagen sollte, und glaubte nicht, daß er mir verzeihen könnte.

Als ich jedoch zu Sergej ins Zimmer trat und sein ruhiges, wenn auch etwas verwundertes Gesicht sah, fühlte ich plötzlich, daß ich ihm nichts zu sagen, nichts zu bekennen und ihn nicht um Verzeihung zu bitten hatte. Kummer und Reue mußten unausgesprochen in meiner Seele bleiben.

»Wie bist du auf diesen Einfall gekommen?« fragte er. »Morgen wollte ich dich besuchen.« Dann aber sah er mir näher ins Gesicht und schien zu erschrecken. »Was ist dir? Was hast du?« fragte er.

»Nichts!« antwortete ich, war aber kaum imstande, die Tränen zu unterdrücken. »Ich bin für immer von Baden-Baden abgereist, und wenn es dir recht ist, kehren wir morgen nach Rußland zurück.«

Er sah mich lange schweigend und aufmerksam an.

»Erzähle mir – was ist dir widerfahren?« sagte er.

Ich errötete und schlug unwillkürlich die Augen nieder. In den seinigen blitzten Zorn und beleidigtes Ehrgefühl auf. Die Angst vor dem Mißtrauen, das möglicherweise in ihm erwachen konnte, gab mir eine Kraft der Verstellung, die ich mir nicht zugetraut hätte.

»Nichts ist mir widerfahren«, gab ich zur Antwort. »Es wurde mir einfach zu langweilig und unbehaglich, allein zu sein, und ich habe viel über unser Leben und über dich nachgedacht. Wie lange schon bin ich im Unrecht gegen dich! Warum gehst du meinetwegen an Orte, die dir nicht angenehm sind? Wie lange schon bin ich im Unrecht gegen dich!« wiederholte ich, und wieder kamen mir die Tränen in die Augen. »Laß uns aufs Land gehen, auf immer!«

»Ach, mein Herz, erspare mir solche gefühlvollen Szenen!« sagte er kalt. »Daß du aufs Land gehen willst, ist sehr erfreulich, denn wir haben beinahe kein Geld mehr. Aber das auf immer ist eine Phantasie. Ich weiß, daß du dort nicht leben kannst. Jetzt aber trinke eine Tasse Tee, das wird das Beste für dich sein«, schloß er, indem er sich erhob und dem Kellner klingelte.

Alles, was er jetzt vielleicht von mir denken mochte, fiel mir schwer aufs Herz, und als ich seinen forschenden und wie von Beschämung erfüllten Blick auf mich gerichtet sah, fühlte ich mich von dem Mißtrauen, das ich ihm zuschrieb, tief verletzt.

Nein, er will und kann mich nicht verstehen! Ich sagte zu ihm, daß ich nach dem Kinde sehen wolle, und verließ das Zimmer. Ich mußte allein sein und weinen, weinen, weinen.


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