Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

29.

Die Ausführung dieses Planes bot Lewin viel Schwierigkeiten, aber er besiegte dieselben, soweit es in seinen Kräften stand, und erreichte, wenn auch nicht das, was er gewünscht hatte, so doch, daß er, ohne sich selbst zu täuschen glauben konnte, die Sache verlohne sich der Mühe nicht.

Eine der Hauptschwierigkeiten war die, daß die Wirtschaft im vollen Gange war und nicht darin gehemmt werden durfte, indem man alles von vorn anfing; man mußte die Maschine mitten im Gange verstellen.

Als er an jenem Abend noch, an welchem er nach Hause gekommen war, dem Verwalter seine Pläne mitgeteilt hatte, erklärte sich dieser mit sichtlichem Vergnügen mit demjenigen Teil der Rede Lewins einverstanden, welcher darlegte, daß alles bisher Gethane sinnlos und unersprießlich gewesen sei. Der Verwalter meinte, er habe das schon längst gesagt, man hätte ihn aber nicht hören wollen. Was den von Lewin gemachten Vorschlag anbetraf, daß er als Anteilhaber, zusammen mit den Arbeitskräften der ganzen Ökonomie beitrete, so zeigte der Verwalter darauf hin nur einen Ausdruck großer Ratlosigkeit und nicht die geringste bestimmte Meinung; er ging vielmehr sogleich dazu über, daß morgen die letzten Kornseime noch hereingebracht werden müßten, und Lewin fühlte, daß es jetzt nicht Zeit für die Sache sei.

In der Rücksprache mit den Bauern hierüber und bei der Vorlegung des Vorschlages der Übergabe von Land nach den neuen Bedingungen, begegnete er der nämlichen Hauptschwierigkeit, daß die Bauern gleichfalls von der laufenden Arbeit des Tages so in Anspruch genommen waren, daß sie keine Zeit hatten, die Vorteile oder Nachteile einer derartigen Unternehmung zu überdenken.

Ein naiver Bauer mit Namen Iwan, der Viehwärter, schien Lewins Projekt vollständig erfaßt zu haben – dahingehend, daß er an den Erträgnissen des Viehhofes mit seiner Familie Anteil haben sollte – und er stimmte dem Unternehmen vollständig bei. Als aber Lewin ihm die künftigen Vorteile zu Gemüte zu führen versuchte, drückte sich auf dem Gesicht Iwans Unruhe und das Bedauern aus, daß er nicht alles dies bis zu Ende anhören könne; und er begann sich geflissentlich etwas zu schaffen zu machen, was keinen Aufschub dulde. Er nahm die Heugabel, um Heu aus der Schafhürde zu stechen, oder er spülte mit Wasser, oder schaffte Mist beiseite.

Eine andere Schwierigkeit bestand in dem unbesieglichen Mißtrauen der Bauern, daß die Absicht des Gutsherrn überhaupt in etwas ganz Anderem bestehen könne, als dem Wunsche, sie soviel als möglich zu rupfen. Sie waren fest überzeugt, daß seine eigentliche Absicht, – was er ihnen auch immer sagen mochte – doch nur gerade in dem liege, was er ihnen nicht mit sagte. Indem sie sich nun gegenseitig aussprachen, redeten sie wohl viel, sagten aber gleichfalls nicht, was ihre eigentliche Absicht war. Dabei aber stellten die Bauern – und hier fühlte Lewin, daß jener gallige Gutsbesitzer recht gehabt hatte – auch noch als erste und festeste Bedingung für jedes Einverständnis ihrerseits, mochte es bestehen worin es wolle, auf, daß sie zu keinerlei neuen landwirtschaftlichen Methoden, mochten diese sein, wie sie wollten, oder zur Verwendung moderner Geräte gezwungen sein sollten. Sie gaben wohl zu, daß der Dampfpflug schneller arbeite, aber sie fanden tausend Gründe, weshalb sie die Geräte nicht anwenden konnten, und so mußte er, obwohl überzeugt, daß man den Komfort der Landwirtschaft immerhin ein wenig tiefer stellen könne, zu seinem Bedauern auf die Vervollkommnung verzichten, deren Nutzen ein so augenfälliger war. Abgesehen von allen diesen Schwierigkeiten indessen, strebte er seinem Ziele nach und im Herbste ging die Sache, oder es schien ihm doch wenigstens so.

Anfangs dachte Lewin daran, sein ganzes Land, so wie es war, den Bauern, den Knechten und dem Verwalter auf Grund der neuen Gesellschaftsstatuten zu überlassen, aber sehr bald überzeugte er sich, daß dies unmöglich war und faßte den Entschluß, die Ökonomie nur zum Teil zu vergeben. Der Viehhof, der Garten, der Gemüsegarten, die Wiesen, die Felder, die in einige Parzellen geteilt waren, sollten nun getrennte Bereiche bilden. Der naive Viehhirt Iwan, der wie es Lewin schien, die Sache am besten von allen aufgefaßt hatte, bildete sich eine Artjel, die vorzugsweise aus den Mitgliedern seiner Familie bestand und wurde Anteilhaber des Viehhofes. Ein abgelegenes Feld, welches acht Jahre lang unbenutzt gewesen war, wurde mit Beihilfe des klugen Zimmermanns Fjodor Rjezunoff von sechs Bauernfamilien auf Grund der neuen Gesellschaftsordnung übernommen, und der Bauer Schurajeff trat zu den nämlichen Bedingungen in den Besitz der sämtlichen Gemüsegärten. Alles übrige verblieb noch beim Alten, aber diese drei Bereiche bildeten doch schon den Beginn einer neuen Ordnung und beschäftigten Lewin vollständig.

Auf dem Viehhofe ging freilich von nun ab die Sache durchaus nicht besser, als vorher, denn Iwan opponierte eifrig gegen die zu warme Stellung der Kühe und gegen die Herstellung guter Rahmbutter, indem er behauptete, daß eine Kuh bei kühlerer Stellung weniger Futter brauche und daß die von abgerahmter Milch hergestellte Butter vorteilhafter sei; er forderte seine Bezahlung, wie früher, und interessierte sich durchaus nicht dafür, daß das Geld, welches er empfing, nicht ein Lohn war, sondern ein Aufgeld von seinem künftigen Anteil am gemeinsamen Gewinn.

Es war die Wahrheit, daß die Arbeitsgesellschaft des Fjodor Rjezunoff nicht ihre Leistungen verdoppelt hatte, wie dies verabredet worden war, und daß sie sich damit rechtfertigte, daß die Zeit zu kurz bemessen gewesen sei.

Es war die Wahrheit, daß die Bauern dieser Artjel, obwohl sie ausgemacht hatten, die Arbeit nach den neuen Einrichtungen leisten zu wollen, ihr Land nicht als gemeinsam bezeichneten, sondern als verteilt, und mehr als einmal sagten die Mitglieder desselben, ja Rjezunoff selber, zu Lewin: »Wenn Ihr Euch Geld für den Grund und Boden bezahlen ließet, so könntet Ihr ruhiger sein und wir fühlten uns freier.« Außerdem aber schoben die Bauern unter den verschiedensten Vorwänden den mit ihnen vereinbarten Bau eines Viehhofes und einer Trockenscheune auf ihrem Terrain immer wieder hinaus und zogen die Sache bis zum Winter hin.

Es war auch der Fall, daß Schurajeff die übernommenen Gemüsegärten seinerseits wieder in kleineren Partieen an die Bauern verteilen wollte. Er hatte offenbar die Bedingungen falsch, und zwar absichtlich falsch aufgefaßt, unter welchen ihm das Land überlassen worden war.

Lewin empfand freilich auch häufig im Gespräch mit den Bauern und bei der Erklärung aller Vorteile, die sie von dem Unternehmen hätten, daß die Bauern hierbei nur eben dem Klang seiner Stimme lauschten, und dabei recht wohl wußten, sie würden sich von ihm – mochte er sagen, was er wollte – nicht überlisten lassen. Ganz besonders merkte er das, sobald er gerade mit dem klügsten unter den Bauern, mit Rjezunoff, sprach. Er bemerkte hier jenes Spiel in den Augen desselben, welches ihm deutlich den Spott über ihn, sowie die feste Überzeugung zeigte, daß wenn denn einmal Einer übers Ohr gehauen werden solle, jedenfalls nicht er, Rjezunoff, der Dumme sein würde.

Ungeachtet alles dessen aber dachte Lewin, die Sache würde sich schon machen, und er würde den Bauern, wenn er strenge Rechnung führte, und fest auf seinen Grundsätzen beharrte, in der Zukunft schon die Vorteile einer solchen Einrichtung beweisen können, so daß sie alsdann von selbst gehen müsse.

Diese Angelegenheiten, zusammen mit denjenigen, welche die in seinen Händen gebliebene Ökonomie betrafen, und mit der Arbeit an seinem Werke, beschäftigten Lewin den ganzen Sommer hindurch derart, daß er fast kaum auf die Jagd kam. Gegen Ende des August hörte er durch den Knecht, welcher den Sattel zurückbrachte, daß die Oblonskiy nach Moskau gereist seien. Er fühlte, daß er mit seiner Unhöflichkeit, nicht auf das Schreiben Darja Aleksandrownas geantwortet zu haben, an die er nur mit Schamröte zu denken vermochte, die Schiffe hinter sich abgebrannt hatte und nun niemals wieder zu ihnen kommen werde.

In der gleichen Weise war er mit Swijashskiy verfahren, den er verlassen hatte, ohne Abschied zu nehmen. Aber auch zu diesem wollte er niemals wieder kommen. Es war ihm jetzt alles ganz gleichgültig; die Aufgabe der Reorganisation seiner Landwirtschaft beschäftigte ihn so sehr, wie noch nie etwas in seinem Leben. Er las die Bücher, die ihm von Swijashskiy gegeben worden waren, und exzerpierte sich, was er selbst nicht besaß; er las socialökonomische und socialwissenschaftliche Werke über den Gegenstand, fand aber, wie er erwartet hatte, nichts, was sich auf die ihn beschäftigende Aufgabe bezogen hätte.

In den politischökonomischen Werken, so im Mill, den er zuerst mit größtem Eifer studierte, in der Hoffnung, jeden Augenblick die Lösung der ihn beschäftigenden Fragen zu finden, fand er Gesetze, die aus den Verhältnissen der europäischen Wirtschaftslage deduziert waren, aber er vermochte nicht zu ersehen, weshalb diese Gesetze, auf Rußland gar nicht anwendbar, allgemeingültig sein sollten. Ganz das Nämliche fand er in den socialwissenschaftlichen Werken, sie zeigten entweder ausgezeichnete, aber nicht praktisch anwendbare Phantasieen, von denen er schon als Student angezogen worden war – oder Versuche zur Verbesserung der Verhältnisse, in welchen sich Europa befand, und mit denen die Landwirtschaft Rußlands nichts gemein hatte. Die politische Ökonomie sagte, daß die Gesetze, auf welchen sich der Reichtum Europas entwickelt hätte, und noch entwickelte, allgemeingültig und unanfechtbar seien. Die Socialwissenschaft sagte, daß die Entwickelung nach diesen Gesetzen ins Verderben führe. Weder die Eine noch die Andere gab Antwort, oder auch nur den geringsten Fingerzeig für das, was Lewin und alle übrigen russischen Landleute und Grundbesitzer mit ihren Millionen von Händen und Desjatinen Landes thun sollten, um diese für die Hebung des allgemeinen Wohlstandes ergiebiger zu machen.

Nachdem er sich einmal mit seiner Aufgabe befaßt hatte, las er gewissenhaft alles, was sich auf seinen Gegenstand bezog und beschloß, im Herbst ins Ausland zu reisen, um denselben an Ort und Stelle noch zu studieren, zu dem Zwecke, daß es ihm in dieser Frage nicht ebenso gehen möchte, wie es ihm schon so oft in verschiedenen Fragen ergangen war. Wenn er nur erst anfing, den Sinn der Worte seines Nachbars zu erfassen und seine eigene Idee auseinanderzusetzen, falls man ihm plötzlich sagen würde: »Habt Ihr nicht Kaufmann, Jones, Dubois, Mitchelli gelesen? Lest diese, sie haben die Frage behandelt!«

Er erkannte jetzt aber klar, daß weder Kaufmann noch Mitchelli ihm etwas sagen konnten und wußte doch, was er wollte.

Er hatte erkannt daß Rußland herrliches Land besitze, vorzügliche Arbeitskräfte und daß bei manchen Gelegenheiten die Arbeiter und das Land viel produzierten, in der Mehrzahl der Fälle aber, sobald das Kapital nach europäischem Muster angelegt würde, wenig, und daß dies nur daher komme, daß die Arbeiter zwar arbeiten wollten, aber nur nach ihrer eigenen Weise gut arbeiteten, und daß dieser Widerspruch kein zufällig auftretender sei, sondern ein fest bestehender, der seine Begründung im Geiste des Volkes habe.

Er meinte, daß das russische Volk, in seiner Aufgabe, ungeheure unbebaute Landstrecken zu besiedeln und zu bearbeiten, sich, solange nicht alles Land besiedelt sein würde, an dasjenige Verfahren halte, welches dazu erforderlich war, und daß sein Verfahren durchaus nicht so mangelhaft sei, wie man dies gewöhnlich denke. Dies gedachte er theoretisch in seinem Werke, praktisch in seiner Ökonomie darzulegen.


 << zurück weiter >>