Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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23.

Montags war die gewöhnliche Sitzung der Kommission vom zweiten Juli. Aleksey Aleksandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Präsidenten wie gewöhnlich und ließ sich dann auf seinem Platze nieder, die Hände nach den vor ihm bereitliegenden Papieren legend.

Unter der Zahl derselben befanden sich auch die ihm nötigen Rekognitionen und der Entwurf jenes Berichtes, welchen er vorzulegen beabsichtigte. Die Rekognitionen waren für ihn übrigens gar nicht notwendig. Er wußte alles schon und hielt es nicht für erforderlich, in seinem Gedächtnis alles das zu wiederholen, was er sagen wollte. Er wußte, daß wenn seine Zeit käme und er das Gesicht seines Gegners vor sich sähe, das sich sorgfältig bemühte, den Stempel der Gleichmütigkeit zur Schau zu tragen, seine Rede wie von selbst fließen würde, besser, als wenn er sie jetzt vorbereitete. Er empfand, daß der Inhalt seiner Rede so bedeutungsvoll war, daß jedes Wort derselben seinen Wert haben würde. Nichtsdestoweniger zeigte er beim Anhören der üblichen Darlegung des Sachverhalts die unschuldigste, harmloseste Miene von der Welt. Niemand, der auf seine weißen, mit hohen Adern durchzogenen Hände schaute, die mit den langen Fingern leise die beiden Ränder des vor ihm liegenden weißen Blattes betasteten, sein mit dem Ausdrucke der Ermüdung seitwärts geneigtes Haupt sah, hätte denken können, daß sich sogleich aus seinem Munde jene Reden ergießen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorriefen, die Mitglieder zu Ausrufen hinrissen, daß sie sich gegenseitig unterbrachen und den Präsidenten veranlassten, zur Ordnung zu rufen.

Nachdem der Bericht beendet war, erklärte Aleksey Aleksandrowitsch mit seiner leisen, dünnen Stimme, daß er zunächst einige Erwägungen betreffs der Angelegenheit der Lage der Ausländer mitzuteilen hätte. Die Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. Aleksey Aleksandrowitsch räusperte sich und begann, ohne seinen Gegner anzublicken, und wie er dies gewöhnlich that, wenn er eine Rede hielt, die nächste, vor ihm sitzende Person – einen kleinen, friedlichen alten Herrn, der gar keine Meinung in der Kommission hatte, ins Auge fassend, seine Ansichten auseinanderzusetzen.

Als die Rede auf das grundlegende Gesetz gekommen war, sprang der Opponent auf und fiel dem Sprecher ins Wort. Stremoff, ebenfalls Mitglied der Kommission, und gleichfalls auf seiner schwachen Seite gefaßt, begann sich zu rechtfertigen und nun fand eine stürmische Sitzungsscene statt; Aleksey Aleksandrowitsch indessen triumphierte und seine Einwände wurden als stichhaltig anerkannt. Es wurden drei neue Kommissionen gewählt und anderen Tags sprach man in den Petersburger Kreisen nur von dieser Komiteesitzung. Der Erfolg Aleksey Aleksandrowitschs war größer, als dieser selbst erwartet hatte.

Am andern Morgen – es war Dienstags – erwachend, entsann er sich mit einem Gefühle der Befriedigung seines gestrigen Sieges, und konnte nicht umhin zu lächeln, obwohl er gleichmütig zu erscheinen wünschte, als der Kanzleidirektor, in der Absicht, ihm eine Schmeichelei zu sagen, von den Gerüchten Mitteilung machte, die zu ihm gedrungen wären betreffs der stattgehabten Sitzung.

Indem er sich mit dem Kanzleidirektor beschäftigte, hatte Aleksey Aleksandrowitsch vollständig vergessen, daß heute Dienstag sei, der Tag, der von ihm für die Ankunft Annas festgesetzt worden war. Er war verwundert und fühlte sich unangenehm berührt, als ein Diener ihm meldete, daß seine Gattin angekommen sei.

Anna war früh morgens in Petersburg angekommen. Ihrem Telegramm entsprechend, war ihr ein Wagen entgegengeschickt worden und infolge dessen konnte Aleksey Aleksandrowitsch erfahren, wenn sie anlangte. Als sie indessen anlangte, erschien er nicht, sie zu bewillkommnen. Man teilte ihr mit, er habe seine Gemächer noch nicht verlassen und arbeite noch mit seinem Kanzleidirektor. Sie befahl, ihrem Gatten mitzuteilen, daß sie angekommen sei, begab sich dann in ihr Kabinett und beschäftigte sich mit dem Auspacken ihrer Sachen in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber eine Stunde verging, ohne daß er erschienen wäre. Sie begab sich nach dem Speisesalon unter dem Vorwand, Anordnungen zu treffen und sprach absichtlich möglichst laut immer in der Erwartung, daß er nun erscheinen werde. Aber er kam nicht, obwohl sie vernahm, daß er zu der Thür seines Kabinetts herausgetreten war, den Kanzleidirektor begleitend. Sie wußte, daß er wie gewöhnlich bald ins Amt fahren werde, und wünschte ihn vorher noch zu sehen, damit ihre beiderseitigen Verhältnisse zur Klarstellung kämen.

Den Saal durchschreitend, begab sie sich daher entschlossen zu ihm. Als sie im Kabinett bei ihm eintrat, saß er in Uniform, und offenbar im Begriff, aufzubrechen, an seinem kleinen Tischchen, auf welches er sich mit den Armen gestemmt hatte, und starrte trübe vor sich hin. Sie erblickte ihn früher, als er sie selbst gesehen, und erkannte sofort, daß er an sie dachte.

Als Aleksey Aleksandrowitsch seine Frau gewahrte, wollte er sich erheben, besann sich aber anders, und sein Gesicht erglühte, was Anna nie vorher an ihm bemerkt hatte. Er erhob sich schnell und trat ihr entgegen, schaute ihr indessen nicht in die Augen, sondern höher hinauf, nach ihrer Stirn und Frisur. Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hand und bat sie Platz zu nehmen.

»Ich freue mich sehr, daß Ihr gekommen seid,« begann er, sich neben ihr niederlassend, blieb aber dann stumm, obwohl er offenbar den Wunsch hatte, noch etwas zu sagen. Er begann mehrmals zu sprechen, hielt aber wieder inne.

Wenn sich Anna auch vorgenommen hatte, ihn bei diesem Wiedersehen verächtlich zu behandeln und ihm Anklagen entgegenzuschleudern, so wußte sie doch nicht, was sie jetzt zu ihm sprechen sollte, und sie empfand Mitleid mit ihm.

Das beiderseitige Schweigen währte so ziemlich lange.

»Ist Sergey gesund?« begann er endlich und fügte dann, ohne eine Antwort abzuwarten hinzu, »ich werde heute nicht zu Hause speisen und muß sogleich wegfahren.«

»Ich wünschte nach Moskau zu fahren,« antwortete sie.

»Nein; Ihr habt sehr, sehr wohl daran gethan, hierher zu kommen,« versetzte er und verstummte dann wieder.

Als sie bemerkte, daß er nicht fähig sei selbst zu beginnen; nahm sie das Wort: »Aleksey Aleksandrowitsch,« sie blickte ihn an, ohne das Auge unter seinem, nach ihrer Frisur gerichteten Blick zu senken, »ich bin ein verbrecherisches Weib, ein schlechtes Weib, aber ich bin auch das noch, was ich war, was ich Euch damals gesagt habe, und bin gekommen, Euch zu sagen, daß ich nichts zu ändern vermag.«

»Darnach habe ich Euch nicht gefragt,« antwortete er plötzlich mit entschiedenem Tone, und ihr haßerfüllt tief in die Augen schauend. »Das habe ich ja vorausgesetzt.« Auch unter dem Einfluß des Zornes hatte er offenbar gleichwohl die vollkommene Herrschaft über alle seine Fähigkeiten, »aber wie ich Euch damals gesagt und geschrieben habe,« fuhr er mit scharfer, dünner Stimme fort, »wiederhole ich auch jetzt, daß ich keine Verpflichtung habe, davon unterrichtet zu werden. Ich ignoriere dies. Nicht alle Weiber sind so gut, wie Ihr, so zu eilen, damit ihrem Gatten eine so angenehme Nachricht mitteilen zu können.« Er betonte das Wort »angenehm« besonders. »Ich werde die Sache so lange ignorieren, als die Welt sie nicht kennt und mein Name nicht entehrt ist. Deswegen eben komme ich Euch damit zuvor, daß unsere Beziehungen so bleiben müßten, wie sie stets waren, und daß ich nur für den Fall, wenn Ihr Euch selbst kompromittiertet, gezwungen sein werde, Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu wahren.«

»Aber unsere Beziehungen können nicht so bleiben, wie sie stets waren,« antwortete Anna mit schüchterner Stimme, ihn voll Schrecken anblickend. Sobald sie diese ruhigen Bewegungen wieder gesehen, diese scharfklingende knabenhafte und höhnische Stimme gehört, hatte die Abneigung gegen ihn das vorher empfundene Mitleid vernichtet und sie fürchtete nun nur noch; aber mochte es kosten was es wollte, sie wollte Klarheit über ihre Lage erlangen. »Ich kann nicht länger Euer Weib sein, da ich« – begann sie.

Er lächelte mit bösem, kaltem Ausdruck.

»Die Lebensweise, die Ihr Euch erwählt habt, scheint sich in Eurer Auffassung widerzuspiegeln. Ich achte oder verachte das Eine wie das Andere; ich achte Eure Vergangenheit und verachte Eure Gegenwart, so daß ich weit entfernt war von einer Interpretation meiner Worte, wie Ihr sie mir unterschiebt.«

Anna seufzte und senkte das Haupt.

»Übrigens verstehe ich nicht, daß Ihr, im Besitz einer solchen Selbständigkeit, daß Ihr,« fuhr er zornerfüllt fort, »unverhohlen Eurem Gatten von Eurer Untreue Mitteilung machen könnt und nicht einmal, wie es scheint, etwas Tadelnswertes darin findet; Ihr scheint die Erfüllung der Verpflichtungen für nachteilig zu halten, die das Weib gegen den Mann hat.«

»Aleksey Aleksandrowitsch. Was verlangt Ihr von mir?«

»Ich verlange, daß ich hier niemals jenem Menschen begegne und Ihr selbst Euch so führt, daß weder die Welt, noch mein Personal Euch einen Vorwurf machen kann; daß Ihr ihn nicht wiederseht! Mir scheint, das ist nicht viel verlangt, und zum Entgelt dafür werdet Ihr die Rechte eines ehrenhaften Weibes genießen, ohne daß Ihr die Pflichten eines solchen erfüllt. Das ist es was ich Euch zu sagen hatte. Doch jetzt muß ich fort. Ich werde nicht zu Hause speisen.«

Er erhob sich und schritt nach der Thür.

Anna erhob sich gleichfalls; mit stummer Verbeugung ließ er sie zur Thür hinaus.


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