Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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12.

Die Ladung war gebunden. Iwan sprang vom Wagen herab und führte das hübsche, wohlgefütterte Pferd am Zügel. Sein Weib warf den Rechen auf den Wagen und begab sich munteren Schrittes, mit den Armen winkend, zu den anderen Weibern, die sich zu einem Trupp gesammelt hatten. Iwan, auf den Weg fahrend, schloß sich dem Transport mit den übrigen Fuhrwerken an. Die Weiber, die Rechen auf den Schultern, in grellfarbigen Blumen prangend, folgten unter schallendem heiteren Geschwätz den Wagen nach. Eine rauhe, wildklingende Weiberstimme begann ein Lied und sang dasselbe bis zum Refrain; dann plötzlich nahmen ein halbes hundert verschiedener, rauher, zarter und kräftiger Stimmen den nämlichen Gesang von vorn an wieder auf.

Die singenden Weiber näherten sich Lewin und diesem schien es, als nähere sich eine Wolke mit dem Donner der Lust. Die Wolke kam heran, sie umfing ihn, den Heuhaufen auf dem er lag und die anderen Heuhaufen, die Wagen, die Wiese mit dem Felde in der Ferne, alles bewegte sich und lebte unter dem Takte dieses ungebundenen Gesanges mit seinen Schreien, Pfiffen und Rufen. Lewin beneidete diese Leute um ihre gesunde Fröhlichkeit, er wünschte teilzunehmen an dieser Äußerung von Lebensfreude, aber er vermochte nichts zu thun, sondern mußte ruhig liegen bleiben, hatte nur zu sehen und zu hören.

Nachdem sich das Landvolk aus seiner Seh- und Hörweite verloren hatte, ergriff ihn ein schweres Gefühl der Trauer über seine Einsamkeit, seinen körperlichen Müßiggang, seine Feindschaft gegenüber der Welt.

Gerade einige derjenigen Bauern, welche vor allen mit ihm über das Heu gestritten hatten, die er verletzt hatte, oder die ihn hatten betrügen wollen, gerade diese Bauern hatten ihn freundlich gegrüßt; sie hegten augenscheinlich nicht den geringsten Groll mehr gegen ihn und mochten wohl auch keinen mehr hegen, ebensowenig wie Reue oder die Erinnerung daran, daß sie beabsichtigt hatten, ihn zu hintergehen.

Alles das war jetzt untergegangen in dem Meere der Lust an gemeinsamer Arbeit. Gott gab ihnen den Tag, er gab ihnen die Kraft. Der Tag und die Kraft war bei ihnen der Arbeit geweiht und in dieser fanden sie ihre Belohnung. Doch für wen war ihre Mühe? Welche Früchte ihrer Tätigkeit genossen sie? – Nun, das waren ihnen überflüssige und wertlose Grübeleien.

Lewin hatte oft schon dieses Leben angenehm gefunden, oft ein Gefühl des Neides gehabt gegen die Menschen, die dasselbe lebten, heute aber kam Lewin zum erstenmal und besonders unter dem Eindruck dessen, was er in dem Verhältnis Iwan Parmenoffs zu dessen junger Frau gesehen hatte, klar der Gedanke, daß es doch ganz von ihm abhänge, dieses so lästige, müßige, gekünstelte Einzeldasein das er lebte – in ein ebenso arbeitsvolles, reines, umgängliches und anziehendes Leben zu verwandeln.

Der Alte, der neben ihm gesessen hatte, war schon längst heimgegangen; das Landvolk hatte sich zerteilt. Die in der Nähe gewesenen waren heimgekehrt, die in der Ferne befindlichen hatten sich zum Abendbrot und Nachtlager auf der Wiese zusammengefunden.

Lewin, der von niemand bemerkt wurde, blieb auf seinem Heuhaufen liegen; er schaute und lauschte und sann. Das Landvolk, welches zu übernachten in der Flur verblieb, schlief fast gar nicht die kurze Sommernacht hindurch. Anfangs vernahm man das heitere Gespräch und Lachen aller beim Essen, dann wieder Lieder und Scherzen. Dieser ganze lange Tag voller Plage hatte in ihnen keine andere Spur zurückgelassen, als Frohsinn. Beim Aufdämmern des Morgenrots war alles still geworden. Man vernahm nur noch die Nachtmusik der unermüdlichen Frösche im Sumpfe und die Pferde, die in dem Nebel der sich vor dem tagenden Morgen erhob, auf den Wiesen schnaubten.

Zum Bewußtsein kommend, erhob sich Lewin von dem Heuhaufen; er schaute nach den Sternen und erkannte, daß die Nacht vorüber sei.

»Aber was soll ich thun, und wie soll ich handeln?« frug er sich selbst und versuchte, für sich selbst alles das zum Ausdruck zu gestalten, was er erwogen, was er durchempfunden hatte in dieser kurzen Nacht. Alles was er erwogen und durchdacht hatte, gruppierte sich in drei Gedankenreihen, die voneinander gesondert waren.

Die eine war die Entsagung die er seinem früheren Leben zu teil werden lassen wollte, seiner Bildung, die ihm nichts nützte. Diese Entsagung gewährte ihm eine Befriedigung und erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Art seiner Ideen und Vorstellungen betraf jenes Leben, welches er jetzt zu leben wünschte. Die Einfachheit, Reinheit, Regelmäßigkeit dieses Lebens fühlte er klar in sich, und er war überzeugt, daß er darin jene Genugthuung finden werde, jene Ruhe und Würde, deren Mangel er so schmerzlich empfand.

Die dritte Reihe seiner Gedanken aber drehte sich um die Frage, wie er diesen Übergang aus dem alten Leben zu dem neuen bewerkstelligen wollte. Hier zeigte sich ihm kein klarer Weg. Sollte er sich ein Weib nehmen? Arbeiten übernehmen, eine bestimmte Verpflichtung zur Arbeit? Pokrowskoje verlassen? Land ankaufen? Vielleicht eine Bäuerin heiraten? Wie sollte er das thun, frug er sich wiederum, ohne eine Antwort zu finden.

»Doch ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und kann mir keine klare Rechenschaft geben,« sprach er zu sich, »ich werde es aber später schon klar stellen. Eines ist sicher, daß diese Nacht entschieden hat über mein Geschick. Alle meine früheren Ideen über Familienleben waren thöricht, es ist alles bei weitem einfacher und besser,« sagte er zu sich. »Wie herrlich,« dachte er, eine seltsame, über seinem Haupte stehende, fast perlmutterartig schimmernde Muschel aus weißen Schafwölkchen erblickend gerade inmitten des Himmels. »Wie ist doch alles so herrlich in dieser herrlichen Nacht; und wann hat sich diese Wolke doch gebildet? Kurz zuvor blickte ich erst zum Himmel hinauf und nichts war an ihm zu erblicken – als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unmerklich haben sich auch meine Anschauungen vom Leben gewandelt.«

Er verließ die Wiese und begab sich auf der Landstraße hin dem Dorfe zu. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, die Luft wurde grau und trübe; eine trübe Minute, wie sie gewöhnlich der Morgendämmerung vorausgeht, bis sich das Licht von der Finsternis scheidet, war heraufgekommen. Vor Kälte schauernd, schritt Lewin rüstig aus, den Blick zu Boden gerichtet.

»Was war das? Da fährt jemand?« dachte er, als Schellengeläute an sein Ohr drang. Er erhob den Kopf. Vierzig, Schritt vor ihm auf der Landstraße, auf welcher er dahinging, kam ihm eine vierspännige Kutsche entgegen. Die Deichselpferde drängten von dem Geleis ab auf die Deichsel, aber der gewandte Jamschtschik, seitwärts auf seinem Bocke sitzend, hielt die Deichsel auf dem Geleis, so daß die Räder auf ebenem Boden rollten.

Lewin hatte den Wagen kaum bemerkt; er schaute, ohne daran zu denken, wer wohl in ihm fahren könnte, zerstreuten Blickes nach demselben hin.

In dem Wagen saß in die Ecke gedrückt, träumend eine ältere Frau, und an dem Fenster, offenbar soeben aus einem Schlummer erwacht, ein junges Mädchen, welches mit beiden Händen die Bänder ihres weißen Häubchens festhielt. Klar aber gedankenvoll, ganz erfüllt von jenem herrlichen, Lewin fremden, tiefen inneren Seelenleben, blickte sie über ihn hinweg auf das Morgenrot der kommenden Sonne.

Im Augenblick, da die Erscheinung schon entschwand, hatten ihre offenen Augen ihn gesehen. Sie erkannte ihn und Staunen und Freude erleuchteten ihre Züge.

Er konnte sich nicht irren. Es gab nur ein einziges solches Augenpaar in der Welt. Es gab nur ein einziges Wesen auf der Welt, welches fähig war, die ganze Welt und den Gedanken des Daseins für ihn in sich zu vereinigen – und das war sie – es war Kity. Er erkannte, daß sie nach Jerguschowo fuhr, von der Eisenbahnstation kommend.

Alles das, was in dieser schlaflosen Nacht Lewins Seele bewegt hatte, alle jene Entschlüsse, die von ihm gefaßt worden waren, verschwanden im Nu. Mit Ekel dachte er an seinen Plan, eine Bäuerin zu heiraten. Dort allein, dort in jenen sich schnell entfernenden, auf die andere Seite des Weges hinüberbiegenden Wagen barg sich eine Möglichkeit für die Entscheidung des Rätsels, welches in der letzten Zeit sein Leben so qualvoll belastet hatte.

Sie blickte nicht mehr aus dem Wagen. Das Geräusch der Wagenfedern war verklungen, kaum die Schellen waren noch hörbar. Das Gebell von Hunden zeigte an, daß der Wagen durch das Dorf fuhr, rings um ihn blieb nur die öde Flur, das Dorf vor ihm, und er selbst einsam und allem entfremdet, einsam dahinschreitend auf der verlassenen Landstraße.

Er blickte zum Himmel empor in der Hoffnung, dort noch jene Muschelwolke zu entdecken, die er so schön gefunden, die für ihn ein Bild des ganzen Ganges seiner Gedanken und Gefühle in dieser Nacht gewesen war. An dem Himmel gewahrte er nichts mehr, was jener Muschelwolke ähnlich gewesen wäre, dort, in unerreichbarer Höhe, hatte sich bereits eine geheimnisvolle Wandlung vollzogen. Es war keine Spur der Wolke mehr vorhanden, sondern ein gleichmäßiger sich über eine ganze Hälfte des Himmels ausbreitender Teppich von flockigen Wölkchen, die sich mehr und mehr verkleinerten.

Der Himmel begann sich zu bläuen und zu schimmern; er schien mit Zärtlichkeit und doch auch voll Unerreichbarkeit seinem fragenden Blicke zu antworten.

»Nein,« sprach Lewin zu sich selbst, »so schön dieses einfache Arbeitsleben auch wäre, ich kann mich ihm nicht ergeben. Ich liebe ja sie.«


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