Leo N. Tolstoj
Anna Karenina. Erster Band
Leo N. Tolstoj

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28.

Es war Lewin an diesem Abend unerträglich langweilig geworden in der Gesellschaft der Damen. Wie nie zuvor, regte ihn der Gedanke auf, daß jene Unzufriedenheit mit der Ökonomie, die er jetzt empfand, nicht ausschließlich ihn in seiner Lage beherrsche, sondern einer allgemeinen Situation entspringe, in welcher sich Rußland befinde, daß die Schaffung einer gewissen Bestimmung für die Arbeiter nicht mehr eine Idee bleibe, sondern eine Aufgabe werde, welche unbedingt zu lösen sei. Ihm schien es, daß man diese Aufgabe lösen könne und versuchen müsse, dies zu thun.

Nachdem er sich von den Damen verabschiedet, und versprochen hatte, noch den nächsten ganzen Tag dazubleiben, in der Absicht, nach dem Walde zu reiten, um hierselbst einen interessanten Wildbruch anzusehen, begab sich Lewin noch vor dem Schlafengehen in das Kabinett des Hausherrn, um sich Bücher über die Arbeiterfrage zu holen, die ihm Swijashskiy empfohlen hatte.

Das Kabinett Swijashskiys war ein sehr geräumiges Gemach, mit Bücherschränken besetzt, in welchem sich zwei Tische befanden. Der eine, ein massiver Schreibtisch, stand in der Mitte; der andere, von runder Form, war ringsum um die auf ihm stehende Lampe mit den neuesten Nummern von Zeitungen und Journalen in verschiedenen fremden Sprachen bedeckt. Auf dem Schreibtisch befand sich ein Regal mit Kästen, welche durch goldige Schilder für Kategorien verschiedener Art ausgezeichnet waren.

Swijashskiy langte die Bücher herunter und setzte sich in seinen Rollsessel.

»Wonach seht Ihr?« frug er Lewin, der vor dem runden Tische stehen geblieben, die Journale musterte. »Ach ja, dort ist ein sehr interessanter Aufsatz,« fügte Swijashskiy, betreffs eines Journals, welches Lewin in Händen hielt, hinzu. »Es wird darin gezeigt,« fuhr er mit freundlicher Lebhaftigkeit fort, »daß der hauptsächlichste Urheber der Trennung Polens durchaus nicht Friedrich gewesen ist. Es wird gezeigt« – mit der ihm eigenen Klarheit entwickelte er nun in Kürze diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen.

Ungeachtet dessen, daß Lewin jetzt vor allem doch nur der Gedanke an seine Landwirtschaft beschäftigte, frug er sich doch, während er dem Hausherrn zuhörte, »was lebt nur in diesem Manne? Warum, warum ist ihm die Teilung Polens interessant?«

Nachdem Swijashskiy geendet hatte, frug Lewin unwillkürlich: »Und was ergiebt sich hieraus?« Aber es ergab sich nichts. Es war eben einfach interessant, was in dem Artikel »gezeigt« worden war. Swijashskiy erklärte nichts und fand es auch nicht für notwendig zu erklären, warum ihm die Abhandlung interessant war.

»Mich hat übrigens jener heißspornige Gutsbesitzer sehr interessiert,« sagte Lewin hierauf seufzend, »er ist klug und sagte viel Wahres.«

»Ach geht doch! Ein eingefleischter geheimer Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle noch sind!« erwiderte Swijashskiy.

»Alle, deren Oberhaupt Ihr seid!«

»Ja; aber nur, daß ich sie nach der anderen Seite hinüberzuleiten suche,« sagte Swijashskiy und lachte.

»Mich hat dies Eine sehr interessiert,« fuhr Lewin fort; »daß er damit recht hat, daß unser Werk, das heißt das der rationellen Ökonomie, nicht gedeiht, während allein das Geschäft der Halsabschneider blüht. Wer ist daran schuld?«

»Natürlich wir selbst, und demgemäß ist es nicht richtig, daß unser Werk nicht gediehe. Wasiltschikoff kommt vorwärts« –

»Mit seiner Fabrik« –

»Ich weiß indessen gar nicht, was Euch in Verwunderung setzt. Das Volk befindet sich auf einem so niederen Grad materieller und moralischer Entwickelung, daß es offenbar gegen alles anstreben muß, was ihm fremdartig erscheint. In Europa gedeiht die rationelle Ökonomie deshalb, weil das Volk gebildet ist; wir müßten also vielleicht auch erst das Volk bilden – das ist das ganze Geheimnis.« –

»Aber wie sollen wir das Volk bilden?«

»Dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, wieder Schulen, und nochmals Schulen.«

»Aber Ihr selbst habt doch gesagt, daß das Volk auf einer niederen Stufe der materiellen Entwickelung steht; inwiefern sollen da die Schulen helfen?«

»Wißt, Ihr erinnert mich an jene Anekdote von dem Rat der einem Kranken erteilt wurde. Dem war ein Purgativ verschrieben worden – man gab es ihm – es wird schlimmer; man versucht Blutegel – es wird schlimmer; er soll zu Gott beten – es wird schlimmer. So geht es uns beiden! Ich verordne Staatsökonomie. Ihr sagt, da wird es nur schlimmer; ich verordne Socialismus – da wird es auch schlimmer: Bildung – da auch!« –

»Wodurch sollten uns die Schulen helfen?«

»Sie werden dem Volke andere Ansprüche verleihen.«

»Dies ist es, was ich eben nie verstanden habe,« rief Lewin eifrig, »wie sollen die Schulen dem Volke beistehen können, seine materielle Lage zu verbessern. Ihr sagt, die Schule, die Bildung erweckt in dem Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer wäre doch das, da das Volk alsdann nicht in der Lage sein wird, diese zu befriedigen! In welcher Beziehung könnten denn die Kenntnisse im Rechnen, Lesen, und in der Bibelkunde zur Verbesserung seiner materiellen Lage beitragen? Das habe ich mir nie begreiflich machen können. Vorgestern Abend begegnete ich einem Weibe mit einem Säugling an der Brust. Ich frug es, wohin es ginge. Das Weib antwortete: ›Ich war bei der Hebamme; dem Kleinen ist es so auf die Brust gefallen, da habe ich ihn mit hingenommen, daß sie ihn heile.‹ Ich frug, ›wie heilt ihn denn die Hebamme?‹ – ›Nun, sie setzt das Kind zu den Hühnern auf die Stange und spricht etwas dazu.‹«

»Nun, da sagt Ihr es ja selbst. Eben damit sie das Kind nicht mehr zur Heilung auf die Hühnersteige trage, ist es nötig, daß« – lächelte heiter Swijashskiy.

»O nein!« antwortete Lewin ärgerlich, »diese Heilung sollte nur ähnlich erscheinen mit der Heilung des Volkes durch die Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir so klar, wie die Bäuerin die Krankheit ihres Kindes sah, da das Kind schrie. Wie nun dieser Armut und Unbildung Schulen abhelfen sollen, das ist mir so unbegreiflich, wie ich nicht verstehen kann, auf welche Weise die Hühner auf der Steige das Kind heilen könnten. Es ist nötig, in dem Abhilfe zu schaffen, wodurch das Volk wirklich elend ist!«

»Nun, da stimmt Ihr wenigstens mit Spencer überein, den Ihr so wenig liebt. Der sagt auch, die Bildung könne nur eine Folge großen Wohlstandes und großer Bequemlichkeit im Leben sein – häufiger Waschungen – wie er sagt, nicht aber eine Folge des Schreiben- und Lesenkönnens.«

»So, so; nun, da bin ich sehr froh, oder vielmehr im Gegenteil, gar nicht froh, daß ich hierin mit Spencer übereinstimme; aber das weiß ich ja schon lange. Die Schulen werden uns nicht helfen, wohl aber wird dies eine ökonomische Verfassung, bei welcher das Volk wohlhabender wird, mehr Muße hat – dann können auch Schulen existieren.«

»Gleichwohl sind doch die Schulen in ganz Europa obligatorisch.«

»Ihr befindet Euch darin doch in Übereinstimmung mit Spencer?« frug Lewin.

In den Blicken Swijashskiys erschien wieder jener Ausdruck des Erschreckens, als er lächelnd erwiderte:

»Nein, diese Geschichte mit dem Bauernweib ist vorzüglich! Solltet Ihr sie nicht schon gehört haben?«

Lewin sah ein, daß er auf diese Weise ebenfalls nicht den Zusammenhang des Lebens dieses Mannes mit seinen Ideen werde finden können. Es war ihm selbst ganz gleichgültig, wohin ihn seine Anschauungen führten; ihm selbst handelte es sich nur um eine Spekulation, und es war ihm unangenehm, daß ihn diese Spekulation in eine Sackgasse führte. Dies konnte er nicht vertragen und er entzog sich dem, indem er das Gespräch auf etwas Anderes, Angenehmes, Heiteres hinüberleitete.

Alle Eindrücke dieses Tages hatten Lewin stark erregt. Dieser freundliche Swijashskiy, der seine Gedanken nur im Interesse der gesellschaftlichen Anstandspflicht für sich behielt, und offenbar noch ganz andere, Lewin unbekannte Grundsätze des Lebens beobachtete – er, der mit einem Haufen, dessen Name Legion war, die allgemeine Meinung vermittelst ihm persönlich doch fremder Ideen leitete; dann dieser heißblütige Gutsherr, der völlig auf dem rechten Wege war mit seinen Urteilen, die ihm durch das Leben selbst abgedrungen worden waren, aber im Unrechte mit seinem Zorn gegen eine ganze Volksklasse – noch dazu die beste – Rußlands; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Wirksamkeit und die dunkle Hoffnung, doch noch eine Besserung für alles das finden zu können, alles das vereinigte sich in ihm zu einem Gefühle innerer Unruhe und der Erwartung einer nahen Entscheidung.

Als er sich in dem ihm zugewiesenen Zimmer allein befand, konnte er, auf der Sprungfedermatratze liegend, die ihm unverhofft, sobald er eine Bewegung machte die Hände oder Füße emporschnellte, lange den Schlaf nicht finden. Kein Gespräch mit Swijashskiy hatte Lewin, so viel des Geistreichen wohl auch gesprochen sein mochte, interessiert, wohl aber forderten die Darlegungen des Gutsbesitzers nähere Überlegung. Er vergegenwärtigte sich nochmals unwillkürlich alle seine Worte und berichtigte in seiner Vorstellungskraft alles das, was er jenem geantwortet hatte.

»Ja, ich hätte ihm sagen müssen: Ihr sprecht, unsere Landwirtschaft komme nicht vorwärts, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse, und man sie mit Gewalt dazu treiben müsse; wenn die Landwirtschaft ohne diese Vervollkommnung nicht denkbar wäre, hättet Ihr recht, aber sie kommt dennoch nur dort vorwärts, wo der Arbeiter im Einklang mit seinen Gepflogenheiten thätig ist. Eure und meine Unzufriedenheit mit der Ökonomie beweist, daß wir, oder die Arbeiter die Schuld tragen. Wir haben uns schon lange nach unserer Weise, nach europäischer Mode eingerichtet, ohne nach den Eigenschaften der Arbeitskraft zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, die Kraft des Arbeiters nicht als idealen Begriff Arbeitskraft anzuerkennen, sondern vielmehr als den russischen Bauern mit seinen Instinkten, und richten wir unsere Ökonomie demgemäß ein! Stellt Euch vor, hätte ich ihm sagen müssen, daß Eure Ökonomie so geführt wurde, daß Ihr das Mittel fändet, Eure Arbeiter für den Erfolg ihrer Thätigkeit zu interessieren und Ihr hättet das Durchschnittsmaß in der Vervollkommnung gefunden, welches jene anerkennen, und erzieltet, ohne den Boden auszumergeln, das Doppelte oder Dreifache gegen früher. Ihr teiltet das Land nun in Hälften, und gebt die eine Hälfte der Arbeitskraft, so wird der Überschuß der Euch verbliebe, immer noch größer sein und die Arbeitskraft erhielte auch mehr. Um dies aber auszuführen, ist es nötig, die Lage der Ökonomie beiseite zu lassen und die Arbeiter mit Interesse für den Ertrag derselben zu erfüllen. Wie ist das nun auszuführen? Diese Frage will bis in die Einzelheiten beleuchtet sein, aber es ist unzweifelhaft, daß sie lösbar ist.«

Der Gedanke versetzte Lewin in starke Erregung. Er konnte die halbe Nacht nicht schlafen und überlegte sich die Einzelheiten in der Ausführung der Idee.

Er wollte nun nicht erst am nächsten Tage abreisen, sondern entschloß sich jetzt, gleich am Morgen früh nach Hause zurückzukehren.

Überdies hatte jene junge Schwägerin mit dem viereckigen Ausschnitt vorn im Kleid in ihm ein Gefühl erregt, welches dem der Scham und der Reue über eine begangene Dummheit sehr ähnlich war. Die Hauptsache war jetzt, daß er heimfahren müsse, ohne unterwegs auszuspannen; er mußte den Bauern sein neues Projekt vorlegen, bevor noch die Wintersaat in die Erde kam, damit er diese schon nach den neuen Grundsätzen ernten könne. Er hatte beschlossen, seine gesamte bisherige Landwirtschaftsmethode umzuändern.


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