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Die Überfahrt

Ich habe einst ein Kind gekannt, das eine hervorragende militärische Befähigung erkennen ließ; leider war es bucklig. Ich war damals selbst noch ein Kind, und begleitete meinen Freund gern zu Besichtigungen und Paraden, zum Dienst, kurz, überallhin, wo Soldaten vorüberkamen; nicht etwa, weil diese Schaustellungen von besonderem Reiz für mich gewesen wären, sondern aus Anhänglichkeit an meinen Kameraden, und weil es mir nun einmal eine liebe Gewohnheit geworden war, meine Zeit in seiner Gesellschaft zu verbringen.

Mein Buckliger wurde lebhaft, sobald er Trommeln und Pfeifen vernahm; und wenn nach dieser lärmenden Musik die ausdrucksvollere der Blasinstrumente einsetzte, so rührte sie sein ganzes Innere auf und gab seinen Zügen einen Ausdruck soldatischen Stolzes, martialischen Feuers. Wenn dann das Salvenfeuer, der Kanonendonner ertönte, wenn die Regimenter gegeneinander vorrückten und Attacke, Sieg, Rückzug, kurz das ganze Schauspiel des Krieges markierten, dann stürzte sich der Knabe, entzückt von diesem Anblick, in die Rauchwolken, lief in die Schützenlinien, begleitete die Geschütze, eilte zu dem Flügel der Schwadronen und achtete nicht der Gefahr, in jedem Augenblick von den Kolonnen erdrückt oder von den Soldaten, deren Bewegungen er hemmte, verletzt werden zu können.

Nach beendeter Besichtigung marschierte er im Tritt neben der Spitze eines Bataillons, die Augen auf den Führer gerichtet, und gab durch Zeichen zu verstehen, daß er allen Befehlen gehorchte und im Geiste alle Bewegungen mit ausführte. Durch dieses Benehmen fiel er der Menge auf, und die Leute lachten bei seinem Anblick. Er aber, völlig unter dem Banne der ernstesten Auffassung seines Tuns, fuhr fort, Tritt zu halten, blieb unempfindlich gegen allen Spott und war nur erfüllt von Gedanken an Ruhm, Vaterland und Schlachten.

»Ich will,« sagte er, als wir abends allein in der Umgebung der Stadt spazieren gingen, »ich will eintreten, sobald ich das Alter dazu habe. Hast du den Kommandeur gesehen, wie er quer über den Platz jagte...? Eine Schwadron befehligen können! Wie der Blitz auf eisenstarrende Reihen einbrechen, Ruhm ernten, nicht in Erwartung des Todes, aber dahinsausend, ihn entweder zu finden oder zu geben! Durchbrechen, auseinandersprengen, verfolgen...! Meine Waffe, Ludwig, ist die Kavallerie!«

Ein wenig mitgerissen von soviel Begeisterung begann auch ich im Geiste durchzubrechen, auseinanderzusprengen, zu verfolgen... Da fuhr er fort: »Und das ist noch nichts! Sieh', jetzt fliehen sie und lassen ihre Verwundeten und Toten auf dem Platze... Nun sammle ich meine staub- und blutbedeckten Dragoner und wir kehren in die gerettete Stadt zurück ... Von weitem sieht man die Menge, die sich auf den Wällen staut, die die Dächer der Häuser bedeckt... Wir nähern uns, wir ziehen ein... der verwundete Führer tänzelt auf seinem Gaul an der Spitze seiner Tapferen... Aller Blicke sind auf ihn gerichtet, alle Herzen fliegen ihm entgegen...! Meine Waffe, Ludwig, ist die Kavallerie!«

Mir gefielen diese Reden und das Feuer eines echten, begeisterten Empfindens. Außerdem war ich zu sehr daran gewöhnt, in ihm zuerst den Freund und dann erst den Buckligen zu sehen; mir vermochte daher die groteske Vorstellung seiner armseligen Person rittlings auf einem edlen Renner nichts von dem Schimmer seiner glänzenden Gemälde zu rauben. Weit entfernt, ihn zu belächeln, lauschte ich ihm begierig; bald beugte ich mich dem Einfluß, den ein fester, feuriger Charakter ausübt; ich wurde der Soldat meines Feldobersten; nach seinem Befehl führte ich geschickte Bewegungen aus, und dann kehrten wir unter Musik nach dem Klang der Trommeln und Pfeifen nach der Stadt zurück, bald im Schritt, bald im beschleunigten Marschtempo. – O, die entzückende Unschuld der Jugend! Wie liebenswürdig sind doch Kinder, die sich lieben trotz körperlicher Gebrechen und Unschönheit, deren Auge und Herz noch nicht vergiftet ist durch die Scheu vor dem Lächerlichen.

In der Beanlagung dieses Knaben habe ich stets einen schlagenden Beweis für den Unterschied gefunden, der, wie man behauptet, zwischen den beiden Stoffen zu finden ist, aus denen wir bestehen. Wie dieser gebrechliche und mißgestaltete Körper... und darin diese ritterliche Seele, die sich an einem Schattenbilde des Ruhmes und des Triumphs zu berauschen vermag! Dieser Unglückliche, dessen Gestalt ihn hätte veranlassen sollen, sich zurückzuziehen, zu schweigen, jeden Aufschwung des Gefühls, der Begeisterung, der Leidenschaft zu unterdrücken ... und diese Seele, so schön wie der schönsten eine, die nur nach Erschütterungen, nach Heldentaten, nach Beweisen von Hingebung dürstete! Ist es nicht das treffende Bild der erzwungenen Vereinigung zweier Naturen ohne Verbindung untereinander? der groben irdischen Hülle, die einen reinen inneren Kern umschlossen hält?

Überdies ist es nicht erforderlich, auf die Buckligen zurückzugreifen, um ganz ähnliche Lehren zu erhalten. Man blicke nur um sich. Wie viele harte, düstere, häßliche Gesichter gibt es, auf denen doch dann und wann ein Strahl von heiterer Güte, von Zartheit und Feinfühligkeit aufblitzt! Wie viele gebrechliche Gestalten verfügen über einen eisernen Willen! Wie manche Riesen anderseits, scheinbar aus Muskeln und Knochen zusammengeschlagen, sind in Wahrheit weiche, willenlose Naturen! Und man braucht gar nicht einmal auf den lieben Nächsten zu schauen: wer fühlte nicht in seinem eigenen Innern den fremden Gast, den edlen Verbannten, den die Mauern seines engen Gefängnisses erdrücken?! Wer empfände nicht, wie er an seiner eigenen Traurigkeit oder Freude den herzlichsten Anteil nimmt?! Wie er vor Begeisterung und Fröhlichkeit hüpft und zittert, wenn der Körper zu schlummern scheint, und seinerseits schläft, wenn der Körper sich in seinen liebsten Genüssen ergeht?!

Wenn auf der Bühne die sanfte und keusche Desdemona auftritt, wenn Othello voller Vertrauen und Zärtlichkeit sich dem Entzücken an ihrer Seite hingibt, wenn die Schlange Jago an diese beiden zurzeit noch so heiteren und glücklichen Geschöpfe herankriecht... wenn bereits das Gift, das in den Adern des Mohren kreist, in seinen Augen den Blitz aufflammen und sein Herz vom Dämon der Rache durchdringen läßt... dann sehe man auf der Galerie die Tausende von Gestalten, die still und regungslos dasitzen: das sind nur die körperlichen Hüllen, die irdischen Leiber ... Während diese dem Drama fremd bleiben, das sich da unten abspielt, und nur die Stufen mit ihrer unbeweglichen Masse belasten, sind die Seelen davongeflogen: stürmisch bewegt, zitternd vor Schrecken, blutend vor Mitleid irren sie regellos um die Bühne; sie ergehen sich in Verwünschungen gegen Jago; sie rufen dem Mohren zu, daß man ihn täuscht; sie umringen, umhüllen, beschützen mit allem, was sie an liebevollem Mitgefühl besitzen, die reine und bedrohte Heldin; und während alles in dem weiten Raum in tiefstem Schweigen liegt, ist alles Bewegung, Leidenschaft, Gewitter in der unsichtbaren Region, wo die Seelen in ihrer Bestürzung sich drängen.

Doch ich kehre zu meinem Buckligen zurück. Der arme Knabe war dazu bestimmt, daß jede der Illusionen, denen er sich so leicht hingab, schon bei den ersten, nur zu bald eintretenden Erfahrungen zerstört wurde. So war auch seine kriegerische Begeisterung nur von kurzer Dauer. Mit dem Alter begann er es immer mehr zu empfinden, wenn er verlacht und verspottet wurde; zaghafte Scheu nahm seinen Neigungen den Schwung; er begriff bitteren Herzens, daß die Kavallerie nicht seine Waffe war. Aber eine Naturanlage ändert sich erst ganz allmählich, und wenn nun Heinrich (so hieß mein Freund) den Besichtigungen fortan fernblieb, so hatte er damit nicht etwa den Wunsch abgeschworen, sich auszuzeichnen und die Gunst der Menge zu erringen. Nur der Gegenstand seiner Wünsche wurde ein anderer. Als er eines Tages Zeuge des Triumphs eines Anwalts war, sah er alsbald die Laufbahn des Verteidigers offen vor sich liegen, und in der Hoffnung, sich damit einen Namen zu machen, bedauerte er seitdem weniger die verlorene Aussicht auf militärischen Ruhm, die seine junge Phantasie vor allem verführt hatte. Trotz seiner Jugend betrieb er seine Studien mit einem Eifer, den sich seine Lehrer gar nicht erklären konnten, und ganz durchdrungen von dem Ernst und der Bedeutung seiner zukünftigen Aufgaben, begeisterte er sich für die Unschuld und versuchte sich bei jeder Gelegenheit in Verteidigungsreden, die den Stempel seines jugendlichen Feuers trugen. Die Plaidoyers waren nunmehr der einzige und beständige Gegenstand unserer Unterhaltungen, der hauptsächliche Reiz unserer gemeinschaftlichen Ausflüge.

»Du bist der Angeklagte,« rief er plötzlich, wenn wir an irgendeinen entlegenen Punkt gelangt waren; »dein Verbrechen wirst du von mir hören. Setz dich nur hin. Hier befinden sich die Richter, dort die Geschworenen, auf der Seite das Publikum (denn er brauchte Publikum) und nun beginne ich.

Meine Herren Richter,« sprach er feierlich von einem Hügel herab, während ich lässig auf dem Rasen lag und mich willig verteidigen ließ. »Meine Herren Richter, beim Anblick dieses Unglücklichen, den ein blutiges Ereignis auf die Anklagebank brachte, bin ich außer mir vor Schmerz, zittere ich vor Besorgnis... Sein Fall scheint mir zwar günstig zu liegen, aber ich mißtraue meinen Fähigkeiten; und wenn ich bedenke, daß das Schicksal, ja vielleicht das Leben meines Klienten davon abhängt, wie ich das Wort, das mir für kurze Zeit verstattet ist, benutzen werde, so kann ich mich einer unwillkürlichen Verwirrung nicht erwehren.«

»Die Sonne röstet mich,« unterbrach ich ihn und stand auf, um den Platz zu wechseln.

»Daß du dich nicht rührst, lieber Freund, sonst verteidige ich dich nicht,« rief mir der Anwalt voll ernsthaften Eifers zu. »Ich werde nun den Tatbestand darstellen. Fern sei es von mir, irgend etwas verschweigen oder bemänteln zu wollen. Denn nur in der treuen Wiedergabe der Wahrheit erblicke ich meine Stärke. Hören Sie mich also an, meine Herren Geschworenen! Ich appelliere an Ihre Aufmerksamkeit, Ihren Scharfsinn, Ihr Gewissen. Und in der Gewißheit, daß die Überzeugung, der ich jetzt meinen Mut verdanke, sich bald auch Ihnen mitteilen wird, erwarte ich ungeduldig Ihren schwerwiegenden Spruch.

Ludwig Desprez, mein Schutzbefohlener (so wurde mein wirklicher Name in diesem Prozeß aufgeführt), verheiratete sich vor zwölf Jahren mit Eleonore Kersaint, der Tochter eines Anwalts, dessen Stimme oft in diesen Mauern erklungen ist. Die ersten Jahre dieser Ehe waren glücklich und fünf Kindern ...«

Hier wurde das Plaidoyer durch Lachsalven unterbrochen. Kameraden, die sich in der Umgegend ergingen, hatten uns bemerkt.

Der Bucklige stieg von seiner Erhöhung herab. Ein anderer trat sofort an seine Stelle und begann, ihm nachzumachen, wobei er die Haltung des Redners und seine eckigen, unbeholfenen Bewegungen in lächerlichen Gegensatz zu dem Pathos seiner Stimme brachte. Bleich und fassungslos versuchte mein Freund zu diesem Streich zu lächeln, während ihm das Herz brach; seine liebste Hoffnung ward ihm in diesem Augenblick geraubt. Glaubte er doch wirklich aus dem Gelächter, das ihm galt, den Eindruck zu entnehmen, den er eines Tages auf die Menge, deren Beifall er erstrebte, machen würde; so verlor er den Mut und dachte seitdem nicht mehr an die Advokatenlaufbahn. Aber noch lange, nachdem er diesem Traum bereits entsagt, mußte er den Spott und die Neckereien erdulden, die nun einmal bei der unter Schulkameraden herrschenden Vertraulichkeit erlaubt, oft aber nur ein Zeichen dafür sind, daß es den jungen Leuten an der allergewöhnlichsten Herzensgüte gebricht.

Gleichwohl konnte man bei ihm weder bei dieser noch bei späteren Gelegenheiten die Eigenschaften wahrnehmen, durch welche die Buckligen beinahe sprichwörtlich in den Ruf gekommen sind, einen besonders boshaften Charakter zu besitzen. Unaufhörlich im Kampfe mit dem Fluch der Lächerlichkeit, raffen sie die Waffe auf, die man gegen sie verwendet, und schleudern sie geschärft durch den Wunsch nach Rache zurück. Diese traurige Gewohnheit befähigt sie, stets auf den ersten Blick die schwache Seite ihres Gegners zu entdecken und dorthin mit sicherer Hand den nie fehlenden Pfeil abzuschießen. Zumal die Buckligen der niederen Stände, die nichts beschützt und nichts zurückhält, nehmen diese Gewohnheiten unwürdiger Bosheit, zynischen Lächelns, mißgünstiger Blicke, spöttischer Wendungen an, ohne dabei durchfühlen zu lassen, daß dies alles nur die berechtigte Abwehr gegen niedrige und boshafte Angriffe bedeutet. Heinrich aber, obgleich er im Kreise seiner Altersgenossen fortwährend ihren Neckereien und ihrem beißenden Spott ausgesetzt war, büßte dabei nie etwas von seiner natürlichen Würde und Herzensgüte ein. Er verbarg seine Leiden hinter einer Maske von Gleichgültigkeit und Resignation; er verzichtete darauf, die ihm zugeschleuderten Pfeile aufzuheben, weil er in der Vergeltung des ihm zugefügten Leides keine Erleichterung gefunden hätte. Er zog es vor, von seinen Altersgenossen zwar geneckt, aber doch gern gesehen zu sein; er wollte lieber aus Mitleid geliebt, als gefürchtet und verlassen werden. Diese vornehme Gesinnung prägte sich auch auf seinem Antlitz aus; dank seinem liebenswürdigen Wesen, dem milden melancholischen Ausdruck seiner Augen war man geneigt, seinen Naturfehler, wenn auch nicht zu übersehen, so doch zu vergessen.

So näherte sich Heinrich nach einer unerfreulichen Kindheit dem Jünglingsalter, das von vornherein auf alle Rechte zu verzichten hatte. Sein Auge war hellblickend geworden. Früh hatte er die Grenzen der Sphäre erkannt, innerhalb welcher er sich bewegen durfte; ohne sie gerade zu erwarten, ahnte er doch, welche harte Prüfung ihm bevorstand; so zwang er sich, seine ehrgeizigen Absichten zu verbergen und die Regungen eines allzu feurigen Temperaments zu beherrschen. So weise das schien, so war seine Lage doch, nachdem er dieses Ziel erreicht, nur um so trauriger. Die Dinge, die ihn bisher gefesselt hatten, das Studium, das Wissen, wurden ihm immer gleichgültiger, je mehr er einsah, daß sie ihm nie dazu dienen würden, sich auf einem Gebiete öffentlichen Wirkens zu betätigen und auszuzeichnen, sondern für ihn nur eine nutzlose Beschäftigung, eine unfruchtbare Erholung bedeuten würden. So vegetierte er einige Jahre in tiefster Zurückgezogenheit; dann überließ er sich der Leitung seiner Eltern, deren strenge, aber vorausschauende Ansichten und Pläne ihm bisher zuwider gewesen waren. Sie ließen ihn die kaufmännische Laufbahn einschlagen; und nun mußte er, dessen Traum es gewesen war, seine Fähigkeiten uneigennützig in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen, sich in die dunkle Ecke eines Bureaus vergraben und lernen, wie man Geld verdient und sein Vermögen vergrößert.

Aber das waren nur Vorläufer kommender größerer Leiden. Heinrich näherte sich jetzt dem Alter, in dem sich im Herzen eines jeden der Ehrgeiz entwickelt, der weit gebieterischer auftritt als derjenige, welcher auf Auszeichnung und Nachruhm ausgeht. Lieben und geliebt zu werden, das Entzücken gegenseitiger Neigung, das Glück einer innigen und zarten Verbindung auszukosten, das ist der Trieb der Natur, das ist der unaufhaltsame Wunsch eines jeden Sterblichen. Wer sich unterfangen wollte, diesen Trieb zurückzudrängen oder gar zu besiegen, der würde sich nur langen Qualen opfern, die vielleicht mit den Jahren gemildert werden mögen, denen aber erst der Tod ein Ende setzt. Und doch ist gerade dies das Schicksal jedes Mißgestalteten, dem sein lange im geheimen getragenes bitteres Leid die Sehnsucht nach Verständnis und Liebe nur noch erhöht, und den der erzwungene Verzicht auf irdisches Glück den Qualen ewiger, verabscheuter Vereinsamung preisgibt.

Gerade darum ist solch ein Unglücklicher besonders zu beklagen, und bei seinem Anblick krampft sich das Herz voll Mitleid zusammen. Ein Fremder besuchte eines Tages eine Fabrik. Man zeigte ihm unter anderen Arbeitern einen alten Soldaten, der Handwerker geworden war. Das Antlitz dieses Mannes war durch schreckliche Narben furchtbar entstellt. Sein Anblick erschütterte den Fremden. »Ist er verheiratet?« fragte er. Als dies bestätigt wurde, schien sich seine Aufregung zu legen, und er sagte im Weitergehen: »Dann wollen wir unser Mitleid für andere aufsparen.« Ich war damals zugegen, und das Wort blieb mir lange als ein befremdlicher und zugleich harter Ausspruch im Gedächtnis; heute finde ich darin einen von Gerechtigkeit und echter Menschlichkeit zeugenden Sinn.

Es ist wohl recht allgemein, daß feurige und großherzige Naturen sich im beginnenden Mannesalter wandeln. Erschienen ihnen bisher die Ehren und Auszeichnungen der Menge erstrebenswert, so suchen sie nunmehr in der Liebe und Achtung einer einzelnen Person das zu finden, was sie anderwärts zu erreichen aufgeben. Viele, die als Jünglinge sich Helden dünkten, deren Träume nach Ruhm unerfüllt blieben, oder die in ihren Hoffnungen auf Unsterblichkeit Schiffbruch litten, waren froh, in dem Hafen einer stillen und friedlichen Ehe landen zu können. Und sie waren durchaus nicht zu bedauern. Seine Liebe erwidert zu finden, sich in seinen Kindern noch einmal entstehen zu sehen, sein Alter am häuslichen Herde verleben zu dürfen, heißt seine Bestimmung erfüllen. Wenigstens bedeutet es, von den kostbaren Gütern, die allen verheißen zu sein scheinen, seinen Anteil erhalten zu haben. Aber diese Güter nur sehen zu dürfen, sie um sich ausgebreitet erblicken zu müssen, mit ganzer Seele nach ihnen zu streben und sie doch nie berühren zu dürfen, im Kreise junger Mädchen zu leben, deren bloßer Anblick schon den Wunsch nach ihrem Besitz im Herzen entstehen läßt, und sich doch für immer von dem Glück zu gefallen und geliebt zu werden, ausgeschlossen zu wissen, jeder Frau nur als ein Ungeheuer zu gelten, dessen Huldigung als beleidigend empfunden werden würde: heißt das nicht mehr Erbarmen verdienen als der letzte der Elenden!! Und nun wird man erst vollständig jenen Fremden verstehen, von dem ich eben sprach, der kein Mitleid empfand und ruhig weiterging, und doch ein braver, an der rechten Stelle menschlich empfindender Mann war. Glücklicherweise zeigt die Einsamkeit einem solchen Unglücklichen, den sie erwartet, nicht auf einmal ihr furchtbares Antlitz. So erklärt es sich, daß er sich nicht voller Verzweiflung gegen die ungerechte Härte seines Loses auflehnt, daß er erst allmählich zusammenbricht und die Last seines freudlosen Daseins bis zu Ende schleppt. Als mein Freund in die Welt eintrat, glaubte er keineswegs, trotzdem er durch frühe Erfahrungen bei zahllosen Gelegenheiten belehrt war, daß die Huldigungen eines Herzens wie des seinigen unwert erscheinen könnten, verstanden zu werden, oder daß ihm der Weg zur Ehe ebenso versperrt sein würde, wie die Laufbahn des Anwalts oder des Offiziers. Immerhin, wenn er sich in dieser Beziehung einer Einbildung hingab, so hatte er doch bereits genug Enttäuschungen erfahren, um nicht schüchtern, ja furchtsam in seinem Auftreten gegenüber dem weiblichen Geschlecht zu sein, um nicht lediglich durch liebenswürdiges und wohlerzogenes Benehmen gefallen zu wollen, ohne je zu versuchen, den Ersatz durch leidenschaftlichen Ausdruck der Gefühle zu erreichen, von denen sein Herz übervoll war. Diese seine Stellung wurde für ihn zu einem beständigen Fallstrick. Man duldete ihn, man schätzte den Verkehr mit ihm, ja man suchte ihn auf, aber unter der stillschweigenden Bedingung, daß er keine weitergehenden Ansprüche erhöbe; so mußte er froh sein, wenn er durch übermenschliche Anstrengungen es erreichte, seine Stellung zu behaupten; dagegen durfte er gewiß sein, sich den tödlichsten Qualen, ja selbst Beleidigungen auszusetzen, wenn er sich je einfallen ließ, ein zärtliches Wort zu äußern, oder auf eine von Herzen kommende Freundlichkeit zu rechnen, oder erraten zu lassen, daß er für jemanden eine tiefer gehende Vorliebe empfände. Ich war damals sein Vertrauter. Er weinte oft. Ich wußte warum; aber ich veranlaßte ihn nie, sich mit mir darüber auszusprechen, kannte ich ja doch auch keinen Balsam für seine Wunden. Er selbst empfand eine Art Scham davor, seinen Leiden auf den Grund zu gehen und zog es deshalb vor, mich seine Qualen erraten zu lassen, anstatt sich offen darüber zu äußern. Trotzdem sagte er wohl einmal: »Meine Angebetete ist schön, sie ist liebenswürdig vor allen...! aber ich schwöre dir, ehe ich allein bleiben müßte, würde ich meine Neigung lieber der zuwenden, die weit weniger schön und liebenswürdig ist, wüßte ich, daß sie, die die andern nicht mögen, mich leiden und lieben könnte.«

Ich bestärkte ihn in diesen bescheidenen Wünschen; ich benutzte die Niedergeschlagenheit, in der er sich befand, um seine keimende Leidenschaft für eine Dame, die ihm unerreichbar bleiben mußte, zu ersticken; ich ließ ihn hoffen – und ich glaubte wirklich selbst daran –, daß er eines Tages ein dauerhaftes Glück sein eigen nennen würde, wenn er die Kraft besäße, seine Ansprüche herabzumindern und auf die verführerischen aber flüchtigen Reize einer schönen Gestalt zu verzichten.

Dieser demütigende Trost betrübte ihn tief. Aber er hatte zu viel Verstand, um dem, was ich sagte, nicht Rechnung zu tragen, und er benahm sich so, daß seinen Gefühlen, die von der Außenwelt nicht bemerkt wurden, nichts Lächerliches anhaftete.

Aber mochte Heinrich auch auf diese Weise den Angriffen einer grausamen und spottsüchtigen Gesellschaft entgehen: Traurigkeit und Entmutigung sollten ihn dennoch nicht minder sicher, wenn auch auf einem andern Wege, packen und ihm selbst das rauben, was er bereits erreicht zu haben schien. Er hatte sich schnell in seinem neuen Beruf ausgezeichnet und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Glänzende Aussichten eröffneten sich ihm. Ihm wäre es mehr wie jedem anderen beschieden gewesen, durch seine Charaktereigenschaften und durch den glänzenden Erfolg seiner Arbeit seinen Stand zu heben. Aber je mehr er die Unmöglichkeit begriff, seine Schätze einer Gefährtin seiner Wahl als Huldigung zu Füßen legen zu können, desto mehr sank der Wert irdischer Güter in seinen Augen, und die Flamme des Ehrgeizes erlosch unmerklich in seinem Herzen. Bald hielt er auf dem Wege, den er bisher mit Auszeichnung zurückgelegt hatte, inne; er beschränkte sich darauf, seine kaufmännische Tätigkeit nur noch als Lebenserwerb zu betrachten. Dann brach er fast alle Beziehungen ab, mied die Häuser, in denen er verkehrt hatte, und begann, sich in ein stilles und einsames Leben hineinzufinden.

Ein seltsamer, fremdartiger Zug scheint mir den Seelenzustand meines Freundes zu jener Zeit am besten wiederzugeben, und gibt auch einen Begriff von der tiefen, durch verzehrende Bitterkeit hervorgerufenen Erschütterung seines Innern. Als wir eines Tages spazierengingen, hörten wir in einiger Entfernung zwei Frauenstimmen, die von einer Harfe begleitet wurden. Heinrich, auf den Musik zu allen Zeiten großen Eindruck machte, blieb stehen, um zuzuhören. Dann zog er mich in der Richtung weiter, aus der die Stimmen zu kommen schienen. Es war in dem sonst stillen Hofe eines vornehmen Hauses. Dort trafen wir zwei Straßensängerinnen.

Die beiden Frauen sangen eine alte Ballade. Ihr Benehmen und ihre ganze Art verrieten Bescheidenheit und Anstand. Die eine, ein junges und schüchternes Kind, schien die Tochter der andern zu sein. Mattblonde, seidige Haare umrahmten die sonnengebräunte Stirn, lange rötliche Wimpern beschatteten ihre bescheiden blickenden Augen; ihre Züge boten ein Gemisch von zarter Anmut und rauher Strenge, deren poetischen Reiz man nur bei Frauen finden kann, die wie diese gezwungen waren, ein umherschweifendes, abenteuerliches Leben zu führen. Beim Anblick ihrer den frechen Blicken der Menge preisgegebenen Jugend konnte man sich einer Empfindung des Mitleids nicht erwehren und mit einer gewissen Melancholie durfte man diese junge Blüte betrachten, die sich fern der Heimat, allen Unbilden der Witterung und allen Beschimpfungen der Menge ausgesetzt, entwickeln mußte.

Aber, was für jeden andern ein flüchtiger Eindruck bleibt, genügt zuweilen, um ein krankes Herz von Grund aus aufzurühren. Unbeweglich neben mir stehend, betrachtete mein Freund das Kind mit zartem Mitgefühl. Beim Klange der etwas einförmigen aber wohllautenden und einfachen Musik belebte seine Züge ein empfindungsvoller Ausdruck, und Tränen benetzten seine Lider. Er schien völlig unter dem Zauber der mächtigen Eindrücke, des unerklärlichen Entzückens zu stehen, das ein ausdrucksvoller Gesang in unserer Seele entstehen läßt, und sein Herz schlug in Dankbarkeit für das junge Mädchen, dessen Gesang ihm diese vorübergehende, aber lebhafte Glücksempfindung verschaffte. Da derartige seelische Erschütterungen seine Traurigkeit später gewöhnlich noch erhöhten, so wollte ich vorbeugen und weitergehen. Aber er hielt mich nicht zurück und folgte mir auch nicht. Nach der Ballade sangen die Frauen noch eine zweite; errötend sammelte das junge Mädchen unsere Spende ein; dann begannen sie an einer etwas entfernten Stelle von neuem. Wir folgten ihnen von Platz zu Platz bis zum Abend.

Als wir sie verlassen hatten, blieb Heinrich lange still und nachdenklich. Schließlich gab er seinen Gedanken einen Stoß und sagte ungestüm: »Wer wird diese Frauen von ihrem verächtlichen und peinvollen Gewerbe befreien? Wer wird diesem Kinde die Stellung verschaffen, die es sicher würdig ist einzunehmen? Nein,« fuhr er fort, »und wieder nein, man errötet nicht so, man hat kein so schüchtern blickendes Auge, keine so keusche Stirn, wenn man nicht ehrbar und rein ist.«

Während er so mit leidenschaftlichem Ausdruck sprach, sah Heinrich mich starr an, wie um den ihm verborgenen Ausdruck, den seine Worte auf mich machten, von meiner Stirn abzulesen. Und als ich in meiner Unsicherheit, welche Bedeutung ich ihnen beilegen sollte, mit der Antwort noch zögerte, begann er von neuem heftig: »Ich, ich selbst möchte sie an den ihr gebührenden Platz bringen... aber sicherlich will sie gar nichts von mir wissen, und Sie wagen bloß nicht, es mir zu sagen!«

Seine Stimme erhob sich bei diesen Worten, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Heinrich,« antwortete ich, »lieber Heinrich, Sie wissen nicht, was Sie sagen. Wie konnte ich Sie sofort verstehen! Aber welcher Wahn, wenn Sie glauben, daß die öffentliche Meinung Ihnen je das Aufsehen vergeben würde, das eine derartige Verbindung hervorrufen müßte...?!«

Diese Worte riefen einen Überschwang von Zorn und Verzweiflung in ihm hervor. »Die öffentliche Meinung,« unterbrach er mich erbleichend: »der auch noch Opfer bringen? Und gerade ich? Aus welcher Veranlassung? Was schulde ich ihr denn...? Die öffentliche Meinung? Ich hasse sie, ich verachte sie, ich trotze ihr... ich will ihretwegen weder leiden noch sterben, verstehen Sie mich, Ludwig...? Öffentliche Meinung! Aufsehen! Wollte der Himmel, das wären die einzigen Hindernisse für mich...! Nein, sprechen Sie die Wahrheit, gestehen Sie nur, daß ein Mädchen, das ich von der Straße auflese, noch zu kostbar ist, als daß ich um sie werben dürfte... gestehen Sie nur, daß ich verurteilt bin, allein und elend zu sterben ... gestehen Sie nur, mein Freund, daß Sie nicht anders können, als diesen Spruch unterschreiben...?!«

Er konnte nicht fortfahren, seine Stimme erstickte im Schluchzen.

So endete diese Unterhaltung; wir sprachen nicht mehr von den Frauen, und Heinrich verfiel bald wieder in eine dumpfe Niedergeschlagenheit. Aber seit diesem Tage sahen wir uns nicht mehr so oft, und unsere Unterhaltungen wurden weniger vertraulich. Er hatte meine Worte und mehr noch mein Schweigen zu grausam gefunden. Und als ob er Veranlassung gehabt, an der Hingebung meiner Freundschaft zu zweifeln, erkaltete die seinige allmählich. Einige Monate später hielt er, ohne mir etwas davon zu sagen, um eine junge Person an, die weder reich noch schön war. Gleichwohl wurde er abgewiesen. Nun ordnete er seine Angelegenheiten, zwar ohne ein Geheimnis daraus zu machen, aber auch ohne erkennen zu lassen, zu welchem Zweck es geschähe; bald darauf erfuhren wir, daß er die Stadt verlassen hätte. Über die Ursache seines heimlichen Verschwindens waren viele Gerüchte im Umlauf; ich selbst wußte nicht, wie sich das Schicksal meines Freundes gestaltet haben mochte: da erhielt ich dieser Tage nach sieben Jahren des Schweigens von seiner Seite den Brief, den ich hier folgen lasse, und um dessentwillen ich die vorangegangenen Seiten niedergeschrieben habe. –

»Erinnern Sie sich noch, Ludwig, des armen Buckligen, den Sie einst liebten, ertrugen, trösteten? Heute ist er verheiratet, Vater und zufrieden wie..., wie es noch nie ein Mann ohne Buckel war. Er ist es, der Ihnen heute schreibt.

Das Unglück macht bitter, es verblendet. Als ich abreiste, verabscheute ich mich selbst und hatte auch Sie nicht mehr lieb. Heute denke ich mit Tränen daran, wie ich Ihre beständige und geduldige Freundschaft verkennen konnte, und ich kann es mir nicht verzeihen, undankbar gegen Sie gewesen zu sein.

Ich habe eine Lebensgefährtin, Ludwig! Dieses Glück, das ich so lange erträumte, koste ich jetzt in seiner ganzen Fülle. Gott hat mich vom Rande des Abgrunds, in den ich in meiner Verzweiflung gestürzt wäre, hinweggezogen und mich zu einem Gatten und Vater erhoben, dessen Glück seiner kühnsten Einbildungskraft entspricht. Um uns wachsen drei Kinder heran, deren Anblick allein mich mit Entzücken durchdringt, und auch diejenige mit anbetender Liebe verehren läßt, die sie mir geschenkt hat. Sagt nur euren jungen Mädchen, Ludwig, sie sollen Bucklige heiraten. Ich glaube wirklich, ein Buckliger wird, wenn nicht der verführerischste, so doch sicher der hingebungsvollste Ehegatte sein. Seine Frau ist ihm mehr als eine Frau; sie ist ihm die Vorsehung, die ihn errettet hat; er glaubt sich ihr nicht ebenbürtig, er erblickt in sich selbst nur ihr dankerfülltes Geschöpf; vor allem wird er nie vergessen, daß sie durch das unerwartete Geschenk ihrer Neigung ihm, dem Enterbten, himmlische Freuden beschert hat, und daß all seine Hingebung nicht ausreicht, um sie würdig zu lieben.

Als ich abreiste, konnte ich Ihnen meine Pläne nicht mitteilen. Ich hatte nämlich noch keine, lieber Freund! Mein einziges Sehnen war, den Orten zu entfliehen, an denen ich soviel gelitten, und mich möglichst weit von ihnen zu entfernen. Deshalb griff ich auch, als man mir bei einem Aufenthalt in Paris vorschlug, nach Amerika zu fahren, um dort ein Geschäft zu erledigen, bei dem bedeutende Interessen auf dem Spiel standen, schnell zu, und, wenige Tage darauf, schwamm ich auf dem Ozean.

Das Schiff war voll besetzt mit Passagieren. Unter ihnen bemerkte ich einen jungen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, dessen ernstes und trauriges Wesen mich gleich vom ersten Tage an sympathisch berührte. Ich ging auf ihn zu, und wir plauderten miteinander. Er schien ein inneres Leiden zu haben, das er mit ruhiger Fassung ertrug. Während der Überfahrt, die lang und unangenehm war, verschlimmerte sich sein Übel, und als wir Land in Sicht bekamen, schien es kaum mehr zweifelhaft, daß wir ihn nicht lebend ausschiffen würden. Seine junge Gattin verließ ihn keinen Augenblick. Ich erinnere mich, daß ich als Zeuge der liebevollen Pflege, die sie ihm widmete, den Sterbenden darum beneidete, und daß ich gern mit dem, was mir an Geld und Aussichten geblieben war, das Glück erkauft hätte, in den Armen dieses engelhaften Geschöpfes sterben zu dürfen.

Der junge Mann war ein Geistlicher, gläubig und uneigennützig. Er wollte nach einem Punkt im fernen Westen, um eine eben errichtete Pfarre zu versehen. Ein Bruder von ihm war seit einigen Jahren in der Gegend ansässig; seinem Rufe folgte er dorthin. Er selbst erzählte mir dies alles. ›Aber‹, fügte er eines Tages hinzu, als seine Frau uns nicht hören konnte, ›ich werde wohl kaum mehr bis dahin kommen. Das einzige, um was ich Gott bitte, da er mich zu sich ruft, ist, mir noch die Zeit zu lassen, meine Frau der Obhut meines Bruders zu überantworten.‹ Die letzten Worte versetzten ihn in eine Rührung, die er männlich überwand; die Worte seines Gebetes waren so einfach und von so gläubiger Einfalt, daß ich es nicht mehr als etwas Seltsames empfand, wie er so plötzlich in meiner Gegenwart von der Unterhaltung zum Gebet überging.

Er konnte noch lebend landen. Die Hilflosigkeit der beiden machte mich ihnen unentbehrlich, und in dem Gedanken, diesen beiden betrübten Leuten helfen zu können, vergaß ich zeitweilig ganz meinen eigenen Kummer. Um mich ihren Verhältnissen, welche die äußerste Sparsamkeit bedingten, anzupassen, wählte ich unter den Hotels in Neuyork das allerbescheidenste und zog zu ihnen. Die Ruhe, vor allem aber die Pflege eines tüchtigen Arztes hielten die Fortschritte der Krankheit für einige Tage auf, konnten aber dem Unglücklichen keine Hoffnung auf dauernde Genesung geben. Während sich seine Frau mit mir am Krankenbette ablöste, benutzte ich die Gelegenheit, wenn ich allein mit ihm war, um seine Angst und Sorge, daß er seine junge Gefährtin nun bald allein lassen müsse, zu mildern. Ich versprach ihm, daß ich selbst sie zu seinem Bruder bringen würde, sobald ich die Geschäfte, die mich nach Neuyork geführt, erledigt hätte, und daß, wenn sie sich nicht entschließen könnte, bei jenem zu bleiben, ich sie nach Europa in den Schoß ihrer eigenen Familie zurückbegleiten würde. Dieses Versprechen beruhigte ihn. Nun ging sein Streben nur noch dahin, seine Frau auf die baldige Trennung vorzubereiten; nach einigen Wochen schlief er, gestärkt durch die Verheißungen seines Glaubens, friedlich ein.

So wurde ich der Beschützer der Witwe. In den Augen der Welt war unsere Lage eine zweideutige; für uns beide aber war sie klar und deutlich vorgezeichnet, denn Jenni (das ist der Name der jungen Dame) hatte noch durch ihren Gatten selbst von dem Versprechen, das ich ihm gegeben, gehört und wußte, welche Beruhigung ihm dasselbe verschafft hatte. Alle Tage sah ich sie; und Sie wissen ja zur Genüge, Ludwig, wie mir damals zumute war, um ohne weiteres zu erraten, was notwendigerweise daraus entstehen mußte. Aber jetzt wie früher unterdrückte ich jede Äußerung dessen, was mich bewegte; ich beschränkte mich darauf, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, und es beglückte mich, der, die ich in der verschwiegenen Tiefe meines Herzens anbetete, wenigstens meinen Schutz leihen, und ihr dienen zu können.

So verlebten wir ein Jahr; unsere Abreise verschoben wir von Monat zu Monat, bis meine Geschäfte beendet waren. Dann machten wir eine Reise von mehr als neunhundert Meilen bis in die verlorensten Gegenden des Westens. Jenni war für meine Sorge um sie sehr empfänglich und bewies mir oft ihre lebhafte Dankbarkeit; wir sprachen von ihrer Zukunft, von ihrer Familie, von den Gegenden, die wir durcheilten, und so knüpfte sich zwischen uns das Band einer Vertraulichkeit, die für sie wenigstens nur angenehm war, und ihr keine inneren Kämpfe verursachte. Mit einem einfachen Wesen verband sie ausgesprochenen Verstand; so hatte die Unterhaltung mit ihr für mich einen großen Reiz und ließ mich zeitweilig den schrecklichen Gedanken vergessen, daß ich ihr nie mehr sein würde. Sie schien jedoch zu ahnen, daß mich eine innere Qual folterte, und an der Geflissentlichkeit, mit der sie gewisse Gespräche vermied, merkte ich, daß mein Seelenzustand ihr bald kein Geheimnis mehr sein würde.

Der Ort, wo der Schwager Jennis sich angesiedelt hatte, gehört zu den kleinen Flecken, die überall am Rande der Wüste emporschießen, um bald wieder von den kühnen Kolonisten verlassen zu werden, die unaufhörlich in diesen Einöden weiter vordringen. Bei unserer Ankunft wurden wir von den Einwohnern des malerischen Fleckens umringt, die uns zu der Wohnung wiesen, die wir suchten. Aber sie sagten uns auch gleichzeitig, daß wir dort niemanden mehr vorfinden würden. Die gleiche Krankheit, der sein Bruder erlegen war, hatte auch den Schwager vor zwei Monaten dahingerafft. Sein Vermögen hatte er dem Gatten Jennis vermacht. Durch dessen Tod ging es auf einen in Europa gebliebenen Bruder über, so daß sich die junge Frau von allen Hilfsmitteln entblößt sah.

Diese Nachricht machte Jenni völlig mutlos; mitten in der entlegensten Einöde glaubte sie sich von Gott und den Menschen verlassen, und in einem Anfall von Verzweiflung warf sie sich tränenüberströmt in meine Arme. Diese Erschütterung eines jungen Weibes, das meinen Schutz anflehte, in mir den einzigen Freund und Halt auf Erden zu erblicken schien, machte einen tieferen Eindruck auf mich als irgend etwas anderes in meinem bisherigen Dasein... Glück und Verwirrung raubten mir die Stimme; kaum wagte ich zu atmen; ein Hoffnungsschauer durchzitterte mein Herz, und in dem Überschwang meiner Empfindungen packte mich ein wilder Freudentaumel. Von diesem Augenblick ab war ich ein neuer Mensch: ein unüberwindlich scheinendes Hindernis war gefallen; abgestreift waren die Ketten der Scheu und Scham, die mich so lange schwer gedrückt hatten. Sobald wir beide etwas ruhiger geworden waren, wagte ich es, Jenni meine Gefühle zu gestehen und ihr vorzuschlagen, unser Geschick miteinander zu vereinigen, sowie unsere Lage eine etwas sicherere geworden sein würde. Sie hörte mich bewegt aber ohne Erstaunen an; und da sie überzeugt war, daß meine Werbung durch aufrichtige Neigung und nicht etwa durch Mitleid mit ihrer Hilflosigkeit diktiert wurde, so antwortete sie schlicht: ›Ich will Ihre Frau sein, Herr Heinrich! Möchten Sie in mir eine Ihrer würdige Gefährtin finden! Das ist der Wunsch meines Herzens, das ich Ihnen freudig zu eigen gebe.‹

Seit diesem Augenblick, liebster Freund, genieße ich Stunden eines beständigen und wolkenlosen Glücks. Ich segne die Vorsehung, die mich auf ihrem geheimnisvollen und seltsamen Pfade gerade dem einen Glück entgegengeführt hat, das ich begehrte, und die mich seiner gerade in dem Augenblick hat teilhaftig werden lassen, in dem ich am entferntesten von ihm zu sein wähnte. So sehr hat sie alles zu meinem Besten gefügt, daß jetzt nur noch Liebe, Dankbarkeit und Freude in meinem Herzen wohnen, und daß alles Leid und Ungemach, das ich erduldet, mir mein jetziges Glück nur in noch zauberhafterer Verklärung erscheinen lassen.

Jenni besaß weder Vater noch Mutter mehr; in Europa blieb ihr nur ein mit Kindern reich gesegneter Onkel. So wäre sie nach dorthin mehr aus Pflicht als aus Neigung zurückgekehrt; mich selbst erfüllte der Gedanke der Rückkehr mit Widerwillen. Überdies dünkte es mich verführerisch, gerade in der neuen Umgebung zu bleiben, die mir die Aussicht auf eine so frohe Zukunft eröffnete. Die Gegend, in der wir uns befanden, war wundervoll, noch beinahe unberührt von Menschenhand, wild und schweigend, und doch bereits an einigen Punkten durch die aufkeimende Zivilisation belebt. Ich hatte den lebhaften Wunsch, an dieser Bewegung teilzunehmen, ein einfaches, ursprüngliches Leben zu führen, durch das die Familienbande, die sich bei Euren Sitten und weltlichen Vergnügungen lockern, fester geknüpft und in ihrer herrlichen Fülle erst wahrhaft ausgekostet werden. Ich teilte meine Absicht Jenni mit, die sie sogleich guthieß, und nun dachten wir nur noch an ihre schnelle Verwirklichung. Ich bot auf die Besitzung des Schwagers meiner Frau, erhielt den Zuschlag für einen mäßigen Preis und deponierte den Betrag, der später den Erben zufloß.

Da haben Sie meine Geschichte, lieber Ludwig. Das Weitere können Sie sich gewiß denken. Ich gründe eine Stadt, ich mache Land urbar, kurz ich bin eine der Ameisen, die durch ihre vielleicht unmerkliche, aber beständige Arbeit das Aussehen dieses ungeheuren Landes fortwährend umwälzen und verändern. Ich wähle, ich stimme, ich bin mit öffentlichen Ämtern beladen, die in Anbetracht meiner Sinnesart und der Richtung, die meine Neigungen genommen haben, vielleicht das einzige sind, was in diesem herrlichen Landstrich auf mir lastet und mich ermüdet. Aber das geht vorüber; und wenn ich tagüber geschrien, gewühlt, abgestimmt habe, und dann meine Jenni, meine Kinder wiedersehe, dann bin ich geneigt, die staatlichen Einrichtungen eines Landes, das mir eine Frau und drei Kinder gönnt, bewundernswert und erhaben zu finden.

In unserer Kolonie leben noch drei weitere Bucklige. Gratulieren Sie mir dazu, Ludwig, daß ich Gesellschaft habe, aber bedauern Sie die andern nicht. Ihr Buckel ist ihnen nicht mehr zur Last, als mir heute der meinige, obwohl zwei von ihnen noch nicht verheiratet sind. Aber sobald sie nur wollen, werden auch sie Lebensgefährtinnen finden. Nur die Bedürftigen, das heißt hierzulande die Faulpelze, bekommen keine. Hier ist die Heirat nicht das Ergebnis zarter Neigung oder romanhafter Leidenschaft, sondern ein einfaches Geschäft. Hier handelt es sich lediglich darum, die Arbeitskraft der Gattin mit der zu vereinigen, die man selbst besitzt, und dann jedes Jahr ein Kind zu bekommen. Ein Mann mag noch so unschön von Gestalt sein, ist er fleißig, gesund, geschäftsgewandt und in behaglichen Verhältnissen, so kann er unter den höchsten Töchtern des Landes wählen und er wird jeden Adonis schlagen, der kein Geschäft abzuschließen, kein Terrain zu erschließen, keinen Gewinn in Sicherheit zu bringen versteht. Wäre ich in diesem Erdenwinkel geboren, würde ich mit meiner Geschäftserfahrung der erste Mann der Gegend geworden sein, und hätte mir viel Leid ersparen können. Dennoch hüte ich mich wohl, über mein Geschick zu klagen. Litt ich einst viel, so genieße ich jetzt doppelt. Ohne das, was ich erduldet, wäre ich einer der Glücklichen, deren Glück mir vielleicht vergnüglich, sicherlich nicht erstrebenswert erschiene, besäße mein heutiges Dasein nicht den Reiz, der mich mit den lebendigsten und schönsten Empfindungen erfüllt.

Schickt uns also nur Eure Buckligen her, wir werden schon Frauen für sie finden. Aber sagen Sie, es fällt mir gerade in diesem Augenblick ein, was war das für ein trostloses Gespenst von ›öffentlicher Meinung‹, mit dem Sie mich einst schrecken wollten! Hier im Lande macht ein Buckliger seinen Weg, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, wenn er nur einigermaßen tätig, betriebsam und rechtschaffen ist: er kann Gatte, Vater, Richter, Präsident und was weiß ich werden. Aber in diesem selben Lande, das mit so fanatischem Stolz an seiner Demokratie, an seiner Freiheit und Gleichheit hängt, da soll mal ein Mann noch so schön, tapfer und rechtschaffen, aber ein Schwarzer, noch so gut, großherzig und liebenswert, aber ein Mulatte, noch so tätig, betriebsam, gewandt und unternehmend, aber ein Quadrone sein: immer wird ihm seine Abstammung als ein unauslöschlicher Fleck ankleben, überall wird er verstoßen, verachtet, ausgeschlossen von jedem Gefühlsaustausch, von jedem gesellschaftlichen oder Familienbande mit den Weißen bleiben. Er darf ihre Töchter nicht heiraten, sich an ihrem Herd nicht niederlassen; in den Städten, in den Theatern, in den Kirchen darf er den für ihn abgegrenzten Raum nicht verlassen... Und das findet die öffentliche Meinung, die freie öffentliche Meinung, die so stolz, so hochmütig stolz auf ihre republikanischen Einrichtungen, auf ihre demokratischen Ideen von Gleichheit ist, das findet sie alles gerecht und hergebracht und ganz natürlich! Welch barbarische, inkonsequente, geradezu unmenschliche Torheit! Der grausame Spott, der sich in Eurer guten Gesellschaft gegen Unglückliche meines Schlages richtet, knüpft doch immerhin noch an wirkliche und abstoßende Gebrechen an! Die unter Euch, die so handeln, kommen sich wenigstens nicht noch besonders großherzig oder human vor; und wenn sie ihre Opfer quälen und vernichten, blähen sie sich nicht noch mit ihrer Sanftmut und tun sich nicht noch mit ihrer Nächstenliebe groß! –

Aber verlassen wir diesen traurigen Gegenstand. Ich könnte Ihnen noch vieles und Anziehenderes berichten, wenn ich nicht endlich diesen langen Brief schließen müßte. Wie kostbar, lieber Ludwig, wäre mir der Verkehr mit einem Freunde wie Ihnen, in einem Lande, das so reich an interessanten Schauspielen ist: wo der Mensch von gestern eine neue Gesellschaftsordnung aufrichtet, die sich unter unseren Augen entwickelt: wo so viele Fragen, um die sich unsere Denker seit Jahrhunderten streiten, tagtäglich praktisch gelöst werden müssen auf einem jungfräulichen Boden und von Menschen, die sich mit derlei Abstraktionen noch nicht beschäftigt haben: wo jeder Gedanke alsbald zur sinnlich wahrnehmbaren Tat wird, die einen schaffenden Geist zu neuen Plänen spornt und reizt! Und wenn wir dann, an alte Gewohnheiten anknüpfend, die Stadt verlassen würden, um durch die Felder zu streifen, wie reizvoll und entzückend würden unsere Wege in diesen Gegenden sein, wo die Natur als alleinige Herrin seit der Schöpfung gebietet: in diesen lauschigen, grünenden, schweigenden Einsamkeiten voller Majestät und Mysterien, wo das Auge von Wunder zu Wunder irrt, unsere Gedankenwelt reiner und größer wird, wo der Mensch im Anblick der Werke der ewigen Allmacht mit ehrerbietigem Schauer seine Schwäche und Vergänglichkeit empfindet und sich zitternd unter die Fittiche der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit findet. Ach, mein Freund, wenn diese Ergriffenheit mich schon auf meinen einsamen Wanderungen packt, wie würde es erst sein, wenn wir sie gemeinsam empfinden könnten! Die Menschen, unter denen ich lebe, fühlen nichts von dem, was mich bewegt. Sie sind Abenteurer ohne Empfindsamkeit, gottesfürchtig ohne Poesie; richtige Yankees: sie laufen und eilen und spekulieren, sie sehen in den erhabensten Dingen nur ein neues Ausbeutungsobjekt, um da, wo ein wirklich reizvoller Gegenstand ihrer Betrachtung wert wäre, sich sterblich zu langweilen. So sehne ich mir denn auch aus der vergangenen Zeit nur das Glück zurück, das ich im täglichen Verkehr mit Ihnen empfand. Seit langem schon denke ich nicht mehr an die Kavallerie. Was ich vom Anwaltstande gesehen, hat genügt, um mich davon abzubringen. Von jenem Kinde, das mein Sinnen und Trachten einst so gebieterisch gefangennahm, ist mir nur noch ein verschwommenes Bild geblieben. Aber, solange ich lebe, werde ich es bedauern, daß das Schicksal uns beide getrennt hat, und sollte ich mich eines Tages zu einer Reise nach Europa entschließen, so sind Sie es, mein geliebter Freund, Sie ganz allein, der mich dorthin zieht.«


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