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4.

Schläfst du, lieber Leser? Was hältst du von meinem Benehmen? Gibst du meinem Paten oder mir recht? Warte, ich werde es dir sagen.

... Das heißt, ich könnte es dir sagen, wenn du mir deinen Stand, dein Alter nennen wolltest, ob du Frau oder Mann bist, Junggeselle oder Mädchen. Aber es würde mir schließlich genügen, zu wissen, daß du jung bist, um mir einzubilden, daß du auf meiner Seite stehst; nicht weil ich sie für die der Klugheit oder gar der Weisheit halte, nein; wohl aber, ich gestehe es, für die der unklugen Anständigkeit, der unbedachten Großmut, die Seite also, auf die man nicht mehr tritt, wenn mit den Jahren die kühle Berechnung in unsern Geist einzieht, und der Schwung unserer Seele nachläßt. Junger Freund oder Freundin, wenn ich mich täusche, so laßt mir meinen Irrtum, er ist mir teuer; wenn ich recht geraten, so möchte ich euch den euern nicht rauben. Früh genug werdet ihr klug werden, früh genug werdet ihr die Weisheit lernen; früh genug werden eure Leidenschaften sich abkühlen. werden aufhören, eure ehrenhaften Empfindungen mit ihrem Feuer zu erwärmen, werden die Bahn frei machen für die gewichtigen Mahnungen der Vernunft, des Eigennutzes und der Vorurteile.

Und wenn du alt bist, lieber Leser, vielleicht gerade unglücklich genug, um nur noch weise zu sein, aber noch reich an Resten eines Herzens, das einst warm und großmütig schlug, so bin ich sicher, daß, wenn du mich auch mit Bedauern der Unklugheit zeihen, du mir doch deine welke Hand entgegenstrecken wirst; dein Lächeln tut mir wohl; deiner Verständigkeit zum Trotz nickt mir dein Auge beifällig zu, belohnt mich deine Achtung. Guter Greis, ich kenne dich, ich weiß, du wirst diese Erzählung lesen ... Tadle ohne Furcht; ich lese in deinen ehrwürdigen Zügen mehr Bedauern als Vorwurf, mehr Zustimmung als Tadel.

Wenn du dagegen unter dem Schnee des Alters die Selbstsucht deines Charakters oder Berufs, der Habsucht, oder der Vorurteile vereinigt hast, wenn du es stets verstanden hast, in der Gegenwart bereits die Zukunft zu berechnen, wenn du stets die Sicherheit deines Behagens den Zufällen einer großmütigen Unklugheit vorgezogen hast, wenn niemals die Glut der Leidenschaft die Hülle deiner Eitelkeit gesprengt hat ... dann, weiser Mann, ja, dann wirst du auf Seiten meines Paten stehen, dann wirst du den tadeln, der eine Erbschaft ausschlägt; du wirst ihn um so mehr tadeln, wenn er, hingerissen von dem Zauber eines Kindes, das nur schön und rein ist, seine eigene Stellung verkennt und im Begriff steht, hinabzusteigen. –

Was mich anbelangt, so empfand ich zuerst nur das Vergnügen, mein Joch abgeschüttelt zu haben und kehrte zufriedenen Sinnes und belebten Herzens in mein Zimmer zurück. Als ich an die Empfindungen dachte, die mir meine eigenen Antworten einflößten, mischte sich etwas Stolz in meine Zufriedenheit; wiewohl ich noch keinen Plan in bezug auf das junge Mädchen, dessen Verteidigung ich übernommen, gefaßt hatte, beglückwünschte ich mich zu dem Mut, mit der gleichen Wärme gesprochen und gehandelt zu haben, als wenn ich es nur aus diesem eigennützigen Beweggründe getan hätte. – Aber noch andere Empfindungen bewegten mich: ich hatte meine Ketten zerrissen, mein Geschick gehörte wieder mir selbst, ich war frei, und die Freiheit erlangt man nicht wieder ohne einen Rausch. Mein kleines Vermögen, das mir bisher stets nur als die Quelle vorläufigen Behagens erschienen war, gewann in meinen Augen plötzlich an Wert. Es wurde zu einem wirklichen Gut und war mir von nun an kostbar und teuer. Nun konnte ich es doch nach meinem Belieben verwenden, teilen, mit wem es mir gut dünkte; ich hatte ein Interesse daran, es zu vermehren, und an Stelle der Schlaffheit, in der ich aufgewachsen war, ließ mich jetzt ein aufleuchtender Schimmer von Ehrgeiz Tätigkeit und die Notwendigkeit der Arbeit ohne Widerwillen in Erwägung ziehen. Diese Gedanken weckten in mir das Bewußtsein des Eigentums, und in rein mechanischer Wirkung stellte ich die Feuerzange an ihren Platz, ordnete ich mein Rasierzeug und entdeckte, während ich einen liebevollen Blick durch mein Zimmer gleiten ließ, an jedem Möbelstück einen neuen Wert. Das erwachende Verständnis für eine gemütliche Häuslichkeit ließ mich auch meinen Diener Jakob mit anderen Augen ansehen; ich dachte daran, ihn zu bilden, ihn an mich zu fesseln. Zum ersten Male erwog ich die Hilfsquellen meiner Stellung in ihrer wahren Bedeutung und dachte nur noch daran, möglichst schnell das Glück um mich herum zu verbreiten, das ich bisher nur in weiter Ferne und abhängig vom Tode meines Onkels vorhersah. Inmitten dieser neuen Pläne ließ der Wunsch nach Freuden der Häuslichkeit meine Gedanken stets wieder zu der Gefährtin zurückkehren, welche die Einsamkeit meiner Wohnung beleben würde; und dann fand ich vor meinem geistigen Auge das Bild meiner jungen Freundin von gestern. Schließlich beruhen die freundlichsten Wirkungen oft auf lächerlichen Ursachen: was mich im Augenblick an meiner neuen Lage am meisten entzückte, war der Umstand, daß ich heut abend nicht zum Tee zu Frau von Luze zu gehen brauchte.

Meine Gedanken nahmen jetzt einen philosophischen Charakter an, der Neigung folgend, die uns wohl allen innewohnt, die Erfahrungen des täglichen Lebens zu allgemein gültigen Sätzen ausbilden zu wollen. Ach, wer du auch seist, der du dein Schicksal von einer Erbschaft abhängig machst, ich beklage dich! Wenn dein Erblasser nicht bald stirbt, läufst du Gefahr, deine besten Jahre in undankbarer, langweiliger Erwartung zu verbringen; wenn du aber gar in der Ungeduld nach dem Besitz, seinen Tod in demselben Augenblick herbeisehnst, wo du ihn mit Zärtlichkeiten überhäufst, dann bist du ein Ungeheuer. Und dann, was heißt es, ewig deine natürlichen Empfindungen hinter einer Maske verbergen, stets deinen Neigungen, deinen Ansichten, oft deiner Rechtlichkeit Opfer bringen... Nein, nein, keine Erbschaft! lieber arbeiten, lieber dulden, aber frei leben, unabhängig sein, Herr seiner selbst und seines Herzens bleiben; es lieber der zu eigen geben, die dich liebt, als der, welche man ihm aufdrängen will ... lieber einem reinen, einfachen Mädchen, das dir durch Zärtlichkeit und Hingebung das Opfer ersetzen wird, das du ihr etwa durch Aufgabe einer beneideten Stellung bringst, als einem Fräulein, welches gerade weil es dir wenig verdankt, viel beanspruchen, das mehr eine Stellung als einen Gatten, mehr die Beobachtung guten Tons als Zärtlichkeiten suchen wird, und deren Herz du ständig den Eitelkeiten, den Zerstreuungen und Gefahren der großen Welt wirst streitig machen müssen... Liebenswürdige Freundin, fügte ich hinzu, hingerissen von dem Schwunge meiner Gedanken, bescheidenes Mädchen, du, die ich so sanft und furchtsam gesehen, so schön in deiner Reinheit und Anmut, du, die ich in meinen Armen gehalten mit so lebhaftem, aber auch so achtungsvollem und zärtlichem Entzücken, warum sollte ich mich scheuen, an deiner Seite ein Glück zu suchen, dessen Vorgeschmack du allein mich hast kosten, dessen Zauber du allein mich hast ahnen lassen?

So entstand, durch die Beschimpfung hervorgerufen, aufs neue die Liebe in meinem Herzen und mischte sich dort mit der reinen Flamme der Uneigennützigkeit, mit der Kraft echter und edler Gefühle. Diesem lebhaften Aufschwung folgte allmählich die Neugierde in betreff der Person, mit welcher sich meine Empfindungen beschäftigten. Ich hätte mich gern vergewissert, ob gegebenenfalls ihre Art und ihre Erziehung sich in nicht zu großem Mißverhältnis zu meinem Wunsche, ihre Hand zu erhalten, befinden. Dabei kamen mir nun verschiedene Umstände, die ich zuerst nicht recht beachtet hatte, ins Gedächtnis zurück, aus denen ich jetzt Schlüsse zu ziehen suchte. Immer wieder erinnerte ich mich an ihre weißen Hände, deren Zartheit durch keine Handarbeit verdorben schien; mit Vergnügen erinnerte ich mich daran, daß die Arbeit an der Kette zu anstrengend für ihre schwachen Arme gewesen ist und sie unter dem Druck des Unwohlseins hatte erliegen lassen, wie wenn sie, an ein sanftes und ruhiges Leben gewöhnt, die Strenge einer mühseligen und groben Arbeit nicht hätte aushalten können. Obgleich ich die Einzelheiten weiblicher Kleidung nur sehr unvollkommen zu beurteilen vermag, war mir die ihrige doch einfach und anmutig erschienen, und ganz besonders wertvoll war mir die Erinnerung an ihre zierlichen Füße, die nicht ohne eine gewisse Sorgfalt mit Halbstiefelchen aus Zeug bekleidet waren, die an der Seite zugeschnürt wurden. Im Geiste trat ich dann wieder in ihre Wohnung ein, musterte von neuem alle Ecken und hielt mich bei einigen wertvollen Möbeln auf, die mir als die Überbleibsel vergangenen Wohlstandes und als ein Anzeichen verfeinerter Lebensgewohnheiten erschienen. Auf einem Lehnstuhl hatte ich einen Mantel von schwarzer Seide mit gleichfarbigem Pelz besetzt gesehen, und dieses Kleidungsstück, das offenbar der Mutter gehören mußte, gab mir von ihrem Aussehen und ihrer Haltung die Vorstellung einer edlen und verehrungswürdigen Einfachheit. Vor allem aber erinnerte ich mich daran, daß meine Augen, als ich den Essig suchte, auf dem Tisch einige sauber eingebundene Bücher bemerkt hatten, und daß der eine Band, der aufgeschlagen dalag, das englische Gedicht von Thompson über die Jahreszeiten enthielt. Wenn ich alle diese Anzeichen zusammenhielt und sie mit dem Klang der Stimme verglich, mit der Betonung, den Umgangsformen und hauptsächlich der schüchternen Zurückhaltung meines jungen Schützlings, gelang es mir immer mehr, die Bruchstücke des Bildes, das mir zurückgeblieben war, zu vervollständigen, und da dieses Bild den Forderungen entsprach, die mir Erziehung, Neigung und gewisse aristokratische Lebensgewohnheiten nun einmal als selbstverständlich erscheinen ließen, so ertappte ich mich dabei, sie noch hundertmal mehr zu lieben. Meine Ungeduld, sie zu sehen, wurde immer drängender, und angstvoll beobachtete ich den Zeiger meiner Kaminuhr, ungewiß, ob ich es trotz der vorgerückten Stunde wagen dürfte, sofort zu ihr zu gehen.

Bald darauf erhob ich mich plötzlich und verließ meine Wohnung.


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