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Das Tal von Trient

Es sind drei Jahre her, da machte ich mich eines Morgens von Chamonix auf, um mich nach Martigny im Wallis zu begeben. Viele andere Touristen taten an diesem Tage das gleiche. Alle hatten ihre Maultiere; ich allein wanderte zu Fuß; aber in diesem bergigen Lande hat der Fußgänger vor den übrigen Reisenden den Vorteil der Schnelligkeit voraus, wie er schon den der vollständigen Freiheit in seinen Bewegungen besitzt.

Der Weg war somit belebt durch den Anblick verschiedener Karawanen, die sich in einiger Entfernung voneinander bewegten. Ich überlegte bei mir, welchen Gebrauch ich von meiner Unabhängigkeit machen sollte. Ich konnte zwischen drei Möglichkeiten wählen: entweder einsam die Nachhut bilden; oder alle Welt überholen und allein an der Spitze marschieren; oder endlich von einer Gruppe zur andern gehen, Bekanntschaften anknüpfen und mit dem Reiz des Spazierengehens den der Unterhaltung verbinden. Dieser letztere Ausweg erschien mir als der angenehmste.

So erreichte ich die Gesellschaft, die mir am nächsten war. Am liebsten hätte ich mich gleich dieser für den ganzen Tag angeschlossen. Bei ihr befand sich nämlich ein liebenswürdiges, schönes, bezauberndes, junges Mädchen. Wenigstens machte sie auf mich diesen Eindruck. Aber ich habe eine Beobachtung gemacht: daß auf Reisen alle jungen Damen diesen Eindruck machen; ich schließe daraus, daß dieses Fräulein vielleicht nicht schöner oder bezaubernder war, als irgendein anderes.

Auf Reisen gibt sich unser Herz gern romanhaften und abenteuerlichen Gedanken hin; es erschließt sich rascher, und ist entschieden zärtlicher veranlagt. Die Schönheit des anderen Geschlechts erscheint ihm, um galant zu sein, noch huldigenswerter als zu anderen Zeiten; und da bei diesen zufälligen Begegnungen gewöhnlich kein ernsthafter Plan, keine auf Heirat abzielende Berechnung als heilsamer Ballast den Flug des reinen Empfindens hemmt, so schwingt sich unser Gefühl in die Lüfte und erhebt sich in wenigen Augenblicken zu wunderbarer Höhe.

Und nicht nur unser Herz beträgt sich so auf Reisen, sondern es ist sicher, daß auch ein junges Mädchen bei diesem Anlaß gewisse Gelegenheitsreize hat, die sie in einem Salon kaum besitzen dürfte. Zunächst ist sie allein; losgelöst von ihren schöneren oder ebenso liebenswürdigen Gefährtinnen, ist sie eine mehr oder weniger seltene, mehr oder weniger schimmernde Blume: aber diese selbe Blume, welche nichts bedeuten würde, wenn sie sich in dem hoffärtigen Glanz eines Straußes verlöre, gefällt, rührt, erscheint bezaubernd und anmutig, wenn sie verborgen auf einer einsame Wiese das Auge erquickt und ihren Duft verbreitet. Gibt es im Grunde etwas Dümmeres als einen Blumenstrauß? Gleicht er nicht einem unwürdigen Serail, in dem ein törichter Gebieter eine Schönheit neben der andern einschließt und sich aus den schnell welkenden Reizen einer jeden eine zwar strahlende aber anmutslose Vereinigung, aus dem zarten Duft jeder einzelnen einen beleidigenden Geruch schafft? Geh, geh, häßlicher Sultan, beschmutze, verwelke, vergrabe für deine Lüste die Frische von tausend Rosen ... Ich, ich will meine Blume an Orten suchen, wo sie einsam ihren Kelch wiegt, und, eifersüchtig auf ihre bescheidene Anmut, werde ich mich hüten, ihr Gefährtinnen zu geben; ja, ich werde mich scheuen, sie überhaupt zu pflücken.

Aber das ist nicht alles. Auf Reisen steht dir ein junges Mädchen von vornherein innerlich näher. Entweder hat ihr Herz schon entschieden, dann ist sie geneigt, die Gegenwart junger Leute überhaupt zu meiden; andernfalls muß deine Person ihr notwendigerweise interessant, deine Aufmerksamkeit ihr angenehm werden. Die Herrschaft, die sie auf dich ausübt, das Glück, das du an ihrer Seite empfindest, können ihr weder entgehen noch mißfallen, vorausgesetzt, daß du zart genug bist, deine Gefühle mehr erraten, als sie sichtbar werden zu lassen. Und wie viele zufällig auftauchende Gelegenheiten, wie viele Gegenstände bieten sich dar, um einen einschmeichelnden Eifer zu beweisen, um sich in demselben Gedankengange zu begegnen, um miteinander zu empfinden, um den Gleichklang der Seelen entstehen zu lassen, zu dem Alter und Neigung zwei junge Herzen mit unwiderstehlichem Zauber hinziehen. Diese Harmonie der Seelen wird vielleicht nur wenige Stunden, vielleicht einen ganzen Tag dauern; aber wenn sie auch nur flüchtig ist, sie ist lebhaft und rein; und statt des Bedauerns hinterläßt sie uns die reizvollste Erinnerung.

Und wie wird es erst sein, wenn die Gegenstände, die sich euren Augen bieten, Täler, Wälder, Berge, die unendlichen Gletscher sind, mit einem Wort, wenn es die bald lachende, bald erhabene Natur der Hochalpen ist? Wenn in jedem Augenblick ein fesselndes Schauspiel die aufrichtigste Bewunderung und das Bedürfnis hervorruft, die heftigen Bewegungen mitzuteilen, deren Flut das Herz nicht völlig im Busen zu bewahren vermag, und deren fromme Reinheit sie die Fessel schamhafter Zurückhaltung abstreifen läßt? Wie wird es erst sein, wenn das junge Mädchen in seinem Entzücken nicht mehr an ihr Reittier denkt und dir die holde Sorge überläßt, dessen Schritte zu lenken, seine Launen zu zügeln? Während du, den Zügel in der Faust, dich als lebendigen Wall zwischen das Maultier und den Abgrund stellst, darf sie bewundern, genießen. Das lebendige Empfinden verschönt ihr Antlitz; der Morgenwind, der von den Bergen weht, überhaucht sie mit rosigen Farben, er spielt in den Falten ihres Mantels und enthüllt dir den Reiz ihrer Formen. Ach, junger Mann, schon wird dein Herz, wird dein Auge den Bergen untreu, liebevoll beschäftigt es sich nur mit dem lieblichen Geschöpf. Nicht wahr, sie ist liebenswürdig, ist schön, ist bezaubernd ...? Das ist alles, was ich beweisen wollte. An jenem Tage empfand ich alle eben beschriebenen Gefühle. Ich hatte den Zügel in der Faust, ich machte aus meinem Körper einen Wall, nur war unglücklicherweise kein Abgrund vorhanden. Nahe am Gletscher du Tour machten wir halt. Wir entdeckten dicht vor uns die enge und wilde Talmulde, in welche nach den Abhängen des Col de Balme zu das Tal von Chamonix ausläuft. Dort wogte noch ein Schattenmeer. Aber hinter uns zeigte sich dasselbe Tal bereits in seinem ganzen schimmernden Morgenglanz. Die Sonne war schon über die Schluchten emporgestiegen; sie sandte ihre Strahlen durch die bläulichen Nebel hindurch, bestrich vom Gipfel bis zum Fuß die feingezackten Grate der Gletscher und ließ über den dunklen Vorhang der Wälder die unzähligen Nadelspitzen des Bois des Bossons und von Taconey erglänzen; und während sie das Tal der Arve mit ihren waldbewachsenen Inseln im Schatten ließ, vergoldete sie an den Wänden des Brévent die friedlichen Wiesen, auf denen die zerstreuten Hütten von Prieuré schimmern. »Welch ein Schauspiel,« sagte meine Begleiterin, »ich möchte absteigen...«

Sofort half ich ihr; mit der einen Hand lockerte ich den Steigbügel, mit der andern unterstützte ich sie beim Abspringen und empfand dabei den sanften Druck ihrer Hand. Nun setzten wir uns auf einen Granitblock, während das Maultier, dessen Zaum ich weiter festhielt, die Grasbüschel am Wegrande abfraß.

Es gibt Augenblicke, in denen die Naturbetrachtung vorgeschrieben ist, ohne darum gerade leichter zu sein. Es handelte sich jetzt darum, zu bewundern; nur darum hatten wir uns ja dort hingesetzt. Aber wenn meine Gefährtin noch wenig Anlage für ein Schäferstündchen zeigte und deshalb eine ziemliche Verlegenheit darüber empfand, auf einmal mit mir allein zu sein, so war ich meinerseits so vollständig durch ihre Gegenwart in Anspruch genommen, daß es mir nicht leicht gewesen wäre, jetzt plötzlich in beredter Weise über die Berge zu sprechen. Ich versuchte es gleichwohl, aber nach einigen Gemeinplätzen, deren Nichtigkeit mich selbst ärgerte, kehrte ich, so schnell ich konnte, zu einem Gegenstande zurück, der weit mehr zur Tagesordnung gehörte, als der Glanz des Morgens.

»Sie bemerken, mein Fräulein,« sagte ich zu ihr, »daß die Straße sich hier gabelt. Darf ich so frei sein, Sie zu fragen, ob Ihre Eltern sich für die Tête-Noire oder für den Paß von Balme entschieden haben...?«

»Ich weiß es nicht, mein Herr,« antwortete sie. Dann drehte sie sich nach der anderen Seite um, um mir ihr Erröten zu verbergen. »Ich glaube, es sind meine Eltern, die man da unten wahrnehmen kann.«

In der Tat kam der Rest der Karawane, die wir hinter uns gelassen hatten, langsam näher. Ich bemerkte, daß der Vater und die Mutter meiner jungen Begleiterin jetzt ihrerseits an der Spitze vor den übrigen Reisenden marschierten, und daß sie, ohne uns zu sehen, den Schritt ihrer Maultiere zu beschleunigen suchten. Als sie uns erreicht hatten, sagte der Vater: »Nun, meine Damen, jetzt ist der Augenblick gekommen, uns zu entscheiden.« Dann wendete er sich an mich: »Und Sie, mein Herr, welchen Weg werden Sie nehmen?«

Diese hinterlistige Frage überraschte mich nicht so sehr, wie sie meine Absichten durchkreuzte. Schon am Abend vorher hatte ich dem Vater unvorsichtigerweise erzählt, daß es mein Plan wäre, über die Tête-Noire zu gehen. Ich hatte dabei geglaubt, sehr klug zu verfahren; denn da dieser Übergang leichter ist als der andere, wird er gewöhnlich von denjenigen Gesellschaften gewählt, bei denen sich Damen befinden. Allerdings hatte mich der Vater gleich am Abend vorher darauf aufmerksam gemacht, daß er sich noch nicht klar darüber wäre, welchen der beiden Übergänge er wählen sollte. Es war offenbar, daß der vorsichtige Vater sich alle Möglichkeiten offen halten wollte, darunter auch die, seine Tochter auf dem Wege gehen zu lassen, den ich nicht wählen würde. So verstand ich denn auch sofort die Tragweite seiner Frage, und nur noch bedacht, meine Würde zu wahren, antwortete ich: »Sie wissen es ja, mein Herr, mein Plan war, über die Tête-Noire zu gehen ...«

Er unterbrach mich: »Unglücklicherweise haben wir mehr Neigung für den Paß von Balme. Ich bedaure das aufrichtig. Gute Reise, mein Herr; ich bin entzückt, wenigstens während dieses Morgens den Vorzug Ihrer Begleitung gehabt zu haben.«

Ich erschöpfte mich in ebenso aufrichtigen Höflichkeiten, und wir trennten uns.

Ich blieb sehr traurig zurück im Angesicht der schönen Natur, die mir gar nicht mehr schön vorkam. Le Prieuré erschien mir mit einem Male finster, les Bossons langweilten mich.

Auf meinem Granitblock sitzend, hing ich grollenden Gedanken nach über die heuchlerische Tyrannei der Väter, die nur zu oft und zur Unzeit von der allzu engelhaften Unterwürfigkeit der Töchter unterstützt wird. In diesem Augenblick kam eine andere Karawane vorbei, der ich mich in Ermangelung von etwas Besserem anschloß, auch um durch die Zerstreuung mein beleidigtes Empfinden wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Diese Karawane setzte sich aus drei Herren zu Fuß und einem mit Steinen beladenen Maultier zusammen. Die drei Herren waren Geologen. Geologen sind reizende Gesellschafter, aber hauptsächlich für Geologen. Ihre Eigenart besteht darin, bei jedem Kiesel stehenzubleiben und jedem Erdhaufen ein Prognostikon zu stellen. Sie zerschlagen die Kiesel, um sie mitzunehmen; sie kratzen die Erdhaufen auf, um jedesmal ein neues System aufzustellen. All das dauert sehr lange. Sie sind nicht ohne Einbildungskraft; aber ihre Einbildungskraft hat als Gebiet den Meeresboden und das Erdinnere; sie erlischt, sobald sie an die Erdoberfläche gelangt. Man zeige ihnen einen herrlichen Gipfel – für sie ist es lediglich ein vulkanisches Gebilde: eine vergletscherte Schlucht –, sie sehen darin nur die Wirkung des Feuers: einen Wald – da hört ihr Verständnis völlig auf. Der elende Schimmer eines Granitblocks, auf dem ich mich halbwegs nach Valorsine ausruhte, vermochte meine drei Geologen in Aufregung zu versetzen. Ich mußte schnell aufstehen und ihnen meinen Sessel überlassen. Während sie ihn in Stücke schlugen, entfernte ich mich ganz sacht, und sie verloren mich aus den Augen. Sic me servavit Apollo.

Wenn ich aber auch gern den einzelnen Geologen vermeide, so liebe ich doch jederzeit die Geologie selbst. Besonders im Winter, in einer Ecke am Kaminfeuer, ist es dann reizvoll zuzuhören, wenn über die Bildungen der schönen Berge gestritten wird, die man während der Sommerszeit besucht hat, oder über die Sündflut und die Vulkane! Wenn man bei den Fossilien angelangt ist, verfehle ich nie, die Unterhaltung auf das große Mastodon von, ich weiß nicht von wem, oder auf den Megalosaurus von Cuvier zu lenken: das ist eine große Eidechse von hundert Fuß Länge, von der wir nur noch die Knochen ohne die Haut besitzen. Aber man stelle sich dieses königliche Tier vor, wie es durch die Welt spazieren ging und seine kleine Brut mit Elefanten fütterte! Hoch die Leute mit malerischen Anschauungen und Neigungen! Sie verbreiten die Wissenschaft, sie bringen sie unters Volk! Von ihnen habe ich alle meine Geologie gelernt! –

Und überdies, auch ohne die malerisch veranlagten Leute, wer ist heute nicht ein wenig Geologe!? Wer fragt sich nicht beim Anblick der Ereignisse und Wunder einer Berglandschaft, woher diese Schlünde und Höhlen der Abgründe kommen? Wie konnten diese Gipfel sich bis zu den Himmeln erheben? Woher diese sanften Abhänge und die trotzigen Felsen? Woher kommen die Granitkolosse, die schwer auf der Ebene lasten? Woher die aus dem Meer stammende Beute, die wir in den Bergen vergraben finden? Alle diese Fragen gehören der reinen Geologie an, der elementaren und zugleich der transzendentalen. Andere Fragen legen sich Geologen überhaupt nicht vor; über die Art, sie zu beantworten, sind sie sich niemals einig. Entweder ist es das Wasser, oder das Feuer, oder eine Ätzung, oder ein vulkanisches Gebläse. Überall Systeme, keine Wahrheiten! Viele Handlungen, kein Lehrmeister! Priester, aber kein Gott! So daß jeder seine Hypothese der Flamme des Altars näherbringt, und wenn er sie aufflammen sieht, sagen darf: »Rauch gegen Rauch, der meine, mein Herr, ist ebensoviel wert wie der Ihre.« – Und gerade darum liebe ich diese Wissenschaft so. Sie ist unendlich und unbestimmt, wie die Poesie. Wie die Poesie untersucht sie Geheimnisse, sie durchtränkt sich mit ihnen, sie gleitet auf ihnen, ohne zugrunde zu gehen. Sie hebt nicht den Schleier, aber sie bewegt ihn, und durch zufällige Löcher dringen einige Strahlen, die den Blick blenden. Statt daß sie die geschäftige Hilfe des Verstandes anruft, erwählt sie die Einbildungskraft zur Gefährtin und schleppt sie bald in die finsteren Tiefen der Erde, bald schweift sie mit ihr zurück zu den ersten Tagen der Welt und führt sie spazieren über junge und grünende Festländer, die eben erst dem Chaos entsprossen, in ihrem ersten Schmuck erglänzen, und auf denen untergegangene Rassen umherwimmeln, deren riesenhafte Überreste uns heute noch ihr einstiges Dasein zum Bewußtsein bringen. Wenn sie das erstrebte Ziel auch nicht erreicht, so durcheilt sie doch stets eine anziehende Bahn. Wenn sie abschweift und Erörterungen über ferner gelegene Gegenstände anstellt, so stellt sie uns doch immer wieder, und gerade infolge ihres Unvermögens eine Lösung zu finden, dem Urgrund aller Dinge gegenüber, und ebendarum wird diese Wissenschaft, die so alt ist wie die Menschheit selbst, überall geliebt und überall gepflegt. Die Schöpfungsgeschichte ist die älteste und erhabenste Abhandlung über Geologie und bei dem Volk der Dichter χατ εξοχην, den Griechen, sind Theogonien und Kosmogonien seit dem frühesten Zeitalter auf der Tagesordnung. Damals wie heute streiten sich die Anhänger der verschiedenen Systeme, die Jünger Vulkans und Neptuns, aber nicht um den Beifall und die Zustimmung der gelehrten Welt, sondern um die naive Bewunderung, um die müßige Neugier, um das poetische Empfinden der verständnisvollen wie der leichtgläubigen Menge. –

In Valorsine holte ich drei Touristen ein: es waren ein Franzose und zwei Engländer; sie hatten zueinander keine anderen Beziehungen als die, welche vorübergehend durch gute Umgangsformen und eine gewisse aristokratische Sympathie hervorgerufen werden, und vermöge deren Leute, die ein Gefühl gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit empfinden, gern miteinander verkehren mögen, zumal wenn der Verkehr mit anderen zurzeit ausgeschlossen ist.

Die Engländer waren zwei schöne, große Jungen, Studenten, noch nicht zum Manne gereift, die ihr Herr Vater, kaum daß sie von Cambridge fort sind, auf die erste Festlandsreise schickt, in Begleitung eines untergeordneten Hofmeisters, der ihre Stiefel wichst und ihren Champagner bezahlt. Ich war ihnen bereits an den Tagen vorher begegnet. Im Gasthof, bei Tisch hatten sie, wie es mir schien, allen Anstand eines englischen Gentleman beobachtet. Unterwegs hatte ich bemerkt, wie sie untereinander und mit den Vorübergehenden ihren Scherz trieben. Sie erinnerten mich an die großen Neufundländer Hunde, die, im Begriff ernst und würdig zu werden, sich selbst dabei überraschen, daß sie noch einmal vor Vergnügen umherspringen und mit den kleinen Spitzhunden spielen.

Der Franzose war ein seiner junger Mann, nach Überzeugung, Sprache und Schnurrbart ein Karlist; Das heißt Anhänger des eben aus Frankreich vertriebenen Königs Charles X. Anm. d. Übersetzers. einer von den Salonpolitikern, die sich einbilden, in der Vendée gekämpft zu haben, und die sich einreden, daß sie nach der im Lande eingetretenen Beruhigung es ihrer Familie schuldig sind, eine Reise durch die Schweiz zu machen, um der Regierung einen anständigen Vorwand zu geben, über ihr allzukühnes Vorleben beide Augen zuzudrücken. Im übrigen war er ein fröhlicher Gesell, der beste Kerl von der Welt und – hatte weiße Handschuhe an.

Die beiden Engländer waren sparsam mit Worten, linkisch in ihren Bewegungen, aber ziemlich verständnisvoll für die Schönheiten der Gegend. Die Frische des Graswuchses, die durchsichtige Klarheit der Bäche, vor allem die kühn geschwungenen Linien der Berggipfel erfüllten sie mit einer innerlichen Befriedigung, für deren Ausdruck die Anforderungen ihrer natürlichen Würde nicht immer ausreichten. »Beautiful« murmelten sie von Zeit zu Zeit, indem sie einen Blick miteinander austauschten. Im übrigen waren sie mit der behaglichen und kostspieligen Einfachheit ausgerüstet, durch die sich Touristen ihres Landes auszeichnen: schöne Strohhüte mit breiten Krempen, vollkommen sauber, aber durch den Gebrauch zerknittert und nachlässig aufgesetzt; Jacketts aus grauer Leinwand, von bequemem Schnitt, in deren tiefen Taschen sich ein Fernrohr von Dollond, ein silbernes Zigarrenetui und das ganze Zubehör von Gegenständen verbargen, die bei einer Reise in den Bergen nötig oder nützlich werden können. Dieselbe Einfachheit, die gleiche ausgesuchte Sauberkeit in der Wäsche; und bei aller linkischen Schwerfälligkeit in ihren Bewegungen das sichere Auftreten der jungen Lords, die für das Ziel, das sie sich gesetzt, ausgerüstet sind, und die auf ihren Schneider vertrauen, um sich behaglich zu fühlen, auf ihr nettes Gesicht, um überall bemerkt und ausgezeichnet zu werden, und vor allem und stets auf ihre Guineen, um von den Wirten des Festlandes geehrt und geliebt zu werden.

Der Franzose war im Gegenteil außerordentlich mitteilsam, ungezwungen und lebhaft in seinen Manieren; für die alpinen Schönheiten schwärmte er riesig, besaß aber nicht das geringste Verständnis für sie. Wie die Engländer, war er entzückt über die Durchsichtigkeit des Wassers, aber nur, um es mit der Frische des lauwarmen Wassers zu vergleichen, das man in Paris trinkt. Die Felsspitzen entzückten ihn, aber nur in Hinsicht auf die wunderbaren Sprünge, welche die Gemsen vollführten, um von einer auf die andere zu gelangen, vor allem aber in der Hoffnung, ihrer bald habhaft zu werden, sowie er seine ausgezeichnete Jagdflinte von Lepage erhalten haben würde, die er sich eiligst aus Paris herbestellt hatte. »Die erste, die ich erlege,« sagte er, »schicke ich nach Prag.« Aufenthalt des entthronten Königs Charles X. Anm. d. Übers. Im übrigen war er gekleidet wie Robinson, wenn ein moderner Schneider seine Ausrüstung besorgt hätte: ein reizender wasserdichter Hut mit schmalem Rande saß kokett auf seinem schimmernden Haargelock; eine gleichfalls wasserdichte Krawatte schnürte ihm den Hals zusammen. Sein langer Überrock war aus Samt; er hatte vorn ausgeschweifte Schöße, um den Gang zu erleichtern und einen niedrigen, sehr engen Taillenschnitt, offenbar, um der Erscheinung einen Anflug von Leichtigkeit zu geben; er war versehen mit Taschen und Nebentaschen, in denen eine Unzahl von Nichtigkeiten steckte, von denen die meisten nutzlos waren, teils wegen ihrer Beschaffenheit, teils wegen ihrer Geringfügigkeit. Aber ein Meisterwerk der Kunst war sein Stock. Dieser Stock ließ sich als Stuhl auseinanderfalten, um bequemer die Aussichtspunkte genießen zu können; er öffnete sich als Schirm, um vor dem Sonnenbrand zu schützen, und er ließ sich wieder als Stock zusammenklappen, um damit die Berge zu erklimmen. Der Stock war so schwer wie ein Balken, der Sonnenschirm ausgeschweift wie ein Fledermausflügel, der Stuhl so bequem wie ein Sessel ohne Lehne und Stroh; und trotzdem war der Eigentümer zufrieden und strahlte vor Glück über die Fülle unentbehrlicher Annehmlichkeiten, deren Genuß ihm dieses Meisterstück gewährleistete.

Ich fand die Herren unweit von ihren Maultieren, die ihre Tagesration erhielten, gelagert und in einer Unterhaltung begriffen, deren Kosten der Franzose wenigstens zu neunzehn Zwanzigsteln allein trug. Er hatte soeben alle dynastischen Fragen behandelt, vom republikanischen und vom doktrinären Standpunkte aus; von da war er auf Henri V., von diesem auf die Gemsen gekommen; das letztere gelegentlich eines Flintenschusses, der aus den Bergen herübergerollt war. Über diese Vierfüßler wie über die Politik war seine Erziehung abgeschlossen, seine Ansicht fest gebildet, seine Grundsätze formuliert; offenbar hatte er seine Kenntnisse über die Gemsen aus den Büchern von Alexandre Dumas, Raoul Rochette und anderen Theoretikern; aber er fühlte sich als ein Schüler, der weiter kommt als seine Lehrmeister, für den die von jenen in die Welt gesetzten Theorien bald nur noch eine kindische Tändelei im Vergleich zu derjenigen sein werden, die er an Ort und Stelle festlegen würde. Nichts war spaßiger, als diesen ungestümen Redner zu beobachten, wie er auf die beiden phlegmatischen Engländer einsprach, die zu verständig waren, um ihm leichthin zu glauben, zu höflich, um ihm zu widersprechen, ob sie sich schon im übrigen bei seinem abgebrochenen, reißend schnellen, unerschöpflichen Geschwätz tüchtig langweilten. Ohne sich durch zu große Aufmerksamkeit zu ermüden, rauchten sie ihre Zigarre und dachten behaglich bei sich selbst, wie doch die französische Nation vollkommen ›foolish‹, geschwätzig und gar und ganz angezogen sei, wie eine Tanzmeister.

»Meine Herren,« sagte ihnen der Franzose gerade, »noch eine eigenartige Tatsache, die Sie nicht kennen. ... Ich habe sie von einem Jäger, der in einem Jahre zwanzig Steinböcke und neunundneunzig Gemsen getötet hat, unter anderen einmal zwei durch einen Schuß; doch das erzähle ich Ihnen später ... Eine Tatsache, die nur dieser Jagd eigen ist, die einzige übrigens, die ich noch nicht selbst ausgeübt habe: ich habe auf Rehböcke, auf Eber gejagt; einen Eber hätte ich beinahe erlegt, wäre nicht der König, dem man natürlich die Jagdehre läßt, gewesen –... Also die merkwürdige Tatsache ist die, daß man auf Gemsen nicht wie auf Schnepfen in gerader Richtung, genau dem Schützen gegenüber, schießt; die Gemse hat feine Sinne und ist mißtrauisch; sowie sie das Ende eines Flintenlaufs sieht, ist sie auf und davon und es ist vergeblich, ihr nachzusetzen. Was tut nun der Jäger? Sehen Sie, hier steht die Gemse auf ihrem Felsblock. Nun wohl, der Jäger, der sich verborgen aufgestellt hat, zielt nach einem benachbarten Felsblock, etwas näher, etwas weiter, je nachdem: der Schuß geht los, die Kugel schlägt auf, prallt ab und die Gemse fällt, ohne zu wissen, woher sie die blaue Pflaume bekommen hat... Ein starkes Stück, möchte ich glauben, nicht wahr?« »Führer,« unterbrach ihn in diesem Augenblick einer der Engländer, »mach' Sie schnell, ich glaub' Sie, wir bekommen die Regen; wir woll' Sie aufbrech´.«

Damit erhoben wir uns alle vier, um weiterzugehen, und gleichzeitig kamen die Geologen von Valorsine an. Jenseits dieses Weilers schiebt sich das Tal zusammen; bald danach gelangt man in den wilden Engpaß der Tête-Noire.

Das Wetter, das am Morgen so strahlend gewesen war, hatte tatsächlich umgeschlagen. Weißliche, schmale Nebelstreife hatten unbemerkt das Blau des Himmels verschleiert und den Glanz der Sonne verdunkelt; um diese Zeit ballten sie sich zu drohenden Regenwolken zusammen, die sich um die Berggipfel herum anhäuften. Ein kühler Wind kam aus dem Rhonetal, stieg durch die enge Schlucht herauf, trieb Sandmassen vor sich her, beugte das Gras nieder und pfiff durch die Nadeln der Fichten. Unsere Unterhaltung hörte auf, wir beschleunigten unsere Schritte; von Zeit zu Zeit kamen wir an kleinen Kreuzen vorüber, die am Rande des Fußpfades in die Erde eingelassen waren. Diese Kreuze bezeichnen die Stellen, wo während des Winters oder der ersten Frühlingsstürme Bergbewohner erfroren oder von einer Lawine verschüttet sind. Am Fuße eines derselben kniete eine arme Frau und murmelte Gebete für den Hingeschiedenen, während ihre Ziege, durch unsere Annäherung erschreckt, von Stein zu Stein sprang, bis zum Rande eines kleinen Abhangs, von wo aus sie uns neugierig beobachtete. Gleich darauf brach das Gewitter mit einem Platzregen los; inzwischen gelangten wir jedoch zu dem »Stein der Engländer«, wo wir Schutz fanden.

Dieser Stein ist ein riesiger Felsblock, der wie ein Vorsprung über den Fußweg hinausragt. Eine an sichtbarer Stelle eingemeißelte Inschrift besagt, daß dieser Stein in aller Form Rechtens seitens einer englischen Dame angekauft ist. »Sehn Sie mal,« fagte unser Franzose, als er die Inschrift von fern bemerkte, »ist das ein Denkstein oder ein Grabmal?« Als er aber gelesen, rief er laut lachend: »Das ist gut, das nenn' ich mir noch ein Spielzeug, das werden die Geologen nicht fortschleppen können; und die Gemeinde ist nicht dumm gewesen. Na, meinetwegen! Also sind wir hier nun in England! Sehr verbunden meine Herren,« wandte er sich an die Engländer, »für Ihre Gastfreundschaft. Nun möchte ich bloß noch ein Roastbeef und eine Flasche Bordeaux.«

Den beiden Engländern mißfiel durchaus der unehrerbietige Ton, mit dem der Franzose ein Ereignis behandelte, dessen Überspanntheit ihnen im Grunde »als einer großen Sach'«, und dessen Absonderlichkeit ihnen gar »als einer nationalen Sach'« erscheinen mochte; sie hüllten sich deshalb in ein zugleich geringschätziges und verstimmtes Schweigen. Es war klar, es hätte nur einer kleinen schmeichelnden Aufmunterung bedurft, um ihre geheimen Gedanken eine äußere Form finden, um sie sich begeistern zu lassen für diesen »beautiful and enthousiastic« Zug, um sie erklären zu lassen, daß die Engländerinnen » der erste people von der Erde« seien und was weiß ich noch? Vielleicht hätten sie gar mit rauher und feierlicher Stimme ein God save the king angestimmt, und das alles wäre sicher viel amüsanter gewesen, als das Schweigen, in dem sie jetzt beharrten. Aber wie beleidigt sie sich auch fühlen mochten, es ward ihnen eine rasche und gründliche Genugtuung zuteil. Um die Aussicht besser zu genießen, hatte unser Begleiter seinen künstlichen Stuhl auseinandergefaltet. Kaum saß er darauf, da brachen die drei Beine auf einmal zusammen, er fiel hintenüber, mit dem Rücken in den Staub, mit dem Kopf in eine Wasserlache... Nein, nie wieder habe ich zwei Engländer so herzlich zusammen lachen sehen, nie wieder einen so kraftvollen Klang innerster Befriedigung vernommen. Der Franzose erhob sich, fluchte, warf die Trümmer seines Stocks in den Gießbach und war dann so gescheit, in der frischesten und harmlosesten Weise mit uns um die Wette zu lachen.

Unterdessen hörte der Regen nicht nur nicht auf, sondern fiel mit wachsender Gewalt auf uns nieder. »Wir sind hier zwar in England,« sagte der Franzose, »aber es gefällt mir darum nicht um ein Haar besser ... schließlich zieh' ich's noch vor, unterwegs durchnäßt zu werden, als hier zu trocknen. Wer mich liebhat, folge mir.«

Und damit machte er sich frohgemut auf den Weg. Die Engländer machten es bald ebenso, und ich folgte ihrem Beispiel.

Wenn man jung und gesund ist, wenn man an Fußreisen Gefallen findet und eine gewisse Übung darin besitzt, so ist es gar keine so traurige Situation, wie man vielleicht denken mag, wenn man dem Unwetter trotzt und seinen Weg fortsetzt. Man ist durch und durch naß; das Wasser tritt, wie Panurg sagt, beim Hals ein und bei der Ferse wieder heraus; aber das sind nun einmal die Zugaben zu den lebhaften Freuden, die uns später erwarten: die Herberge zu erreichen, sich der nassen Kleider zu entledigen, die steifen Glieder vor der hellen Flamme des Herdes auszustrecken, den ermüdeten Körper auszuruhen und die Kräfte an einem wohlbesetzten Tisch zu ergänzen. Und außerdem bedeutet das nichts, dem großen Naturschauspiel beizuwohnen? Empfindet dabei unser Herz, das ständig nach Bewegung, Aufregung, Beschäftigung verlangt, nicht einen eigenen Zauber? Wie in einem durchsichtigen See spiegelt sich in ihm zuerst die tauige Morgenfrische, dann der glühende Mittagsbrand, jetzt die grauen Regenwolken und der heulende Gewitterwind. Die ganze Aufregung der Natur nimmt es in sich auf, und inmitten all dieses Tumults empfindet es geheimnisvolle Freuden, die dem versagt bleiben, der in stumpfem Wohlbehagen dahinlebt.

Um alle diese inneren Erregungen besser auszukosten, war ich etwas hinter meinen Begleitern zurückgeblieben. Es war mir lieb, allein zu sein in dem Schlund der Tête-Noire, gepeitscht vom Regen, betäubt von dem Getöse des Gießbachs, von dem Lärm der Steine, die in Absätzen von den Abhängen herunterprasselten, von dem Donner, dessen ruckweise Schläge in majestätischem Grollen, bald in der Ferne, bald ganz nahe, über meinem Haupte verhallten. Das Schauspiel war so großartig und ich so ganz hingenommen davon, daß ich fast enttäuscht war, als ich in meiner Nähe die Hütten von Trient erblickte, von denen ich mich noch weit entfernt wähnte. Von dem Balkon eines kleinen Hauses tönte Lachen zu mir herüber. Es war der Franzose, der mich bemerkt hatte. »Hier gibt's Wein,« rief er mir zu, »kommen Sie herein und lassen Sie sich etwas trocknen.« Ich folgte ihm und trat in das Häuschen ein.

Die Hütten von Trient liegen in einem kleinen Tal, dessen Anblick auffallend und charaktervoll ist. Das Tal hat nach keiner Seite eine Ausdehnung von mehr als einer Wegstunde und liegt so tief eingeschachtelt zwischen Berggipfeln von ungeheurer Höhe, daß die Sonne den Talgrund erst gegen die Mitte des Tages und nur während weniger Stunden bescheint. An dem einen Ende liegt zwischen engen Granitwänden der Gletscher von Trient; unter dumpfem Krachen speit er aus seinem geöffneten untersten Teil wie aus einer azurblauen Schnauze, schwarze wirbelnde Fluten aus, die bald in sanfterem Lauf über die Wiesen dahineilen. Am anderen Ende des Tales gestattet ein Berg, der von oben bis unten senkrecht gespalten ist, dem Bach einen schmalen Durchgang; er stürzt sich in neblige, dem menschlichen Auge entrückte Abgründe und kommt erst wieder bei Mattigny im Wallis zum Vorschein, wo er sich in die Rhone ergießt. Die Lage des Tals, der beständige Schatten der Gletscher, die Wasser verleihen ihm eine entzückende Frische, und wenn man die Wiesen, die den Grund bedecken, von der Höhe des Gebirges zum erstenmal erblickt, so erglänzen sie in einem unvergleichlichen Grün. Man entdeckt gleichsam von neuem ein bis dahin unbekannt gebliebenes Paradies, in dem seit Jahrhunderten die Ureinwohner der Gegend ein verborgenes Dasein führen. Man steigt herab, man tritt ein in den kühlen Schatten, man atmet die erquickende Luft, man vernimmt die kräftige, beständige Stimme der Wasser, die kommen und fliehen, ein ungeahnter Glanz blendet das Auge und bewegt sanft das Herz.

In dieses kleine Tal münden die beiden Übergänge der Tête-Noire und des Passes von Balme. Die beiden Fußpfade vereinigen sich am Fuß der Forilaz, die man noch erklimmen und wieder herabsteigen muß, um nach Martigny zu gelangen. Es gibt dort als Unterschlupf nur die kleine Herberge, in die ich eben eingetreten war. Im Erdgeschoß befinden sich der Stall und ein Heuschuppen; darüber die Gaststube, zu der man über einige Stufen aus Fichtenholz gelangt, die auf die Galerie münden, von der aus mich der Franzose gerufen hatte. Da sich zuweilen ein Reisender hierher verirrt, der von der Nacht oder einem Gewitter überrascht und genötigt wird, in Trient zu bleiben, so haben die Wirtsleute in der Gaststube auch noch zwei einfache Betten aufgestellt. Als ich eintrat, hatten die beiden Engländer es aufgegeben, bei dem schlechten Wetter noch bis Martigny zu kommen; sie hatten sich deshalb die Betten gesichert, die Wäsche gewechselt, ihre Zigarren angezündet und sich auf ihrem Lager behaglich ausgestreckt.

Das Unwetter war so heftig geworden, daß ich mich lebhaft um das Schicksal der Karawane beunruhigte, die ich am Morgen verlassen hatte; ich hätte gern erfahren, ob sie den Paß überschritten und schon durch Trient durchgekommen wäre. Als ich mich deshalb an den Wirt wenden wollte, fuhr ein Blitz, gefolgt von einem furchtbaren Donner nieder und ließ uns alle erzittern. Der Wirt bekreuzte sich, seine Frau lief ans Fenster und rief: »Das war im Bois Maguin.« Wir sahen ebenfalls hinaus. Aus dem Wäldchen trat ein Mann heraus und floh in der Richtung auf uns zu. Als er näher kam, riefen wir ihn an. Ich erinnerte mich alsbald, ihn am Morgen bei den Eltern meiner jungen Gefährtin gesehen zu haben, und fragte ihn angsterfüllt aus. Doch erfuhr ich nichts von ihm. Auf der Paßhöhe hatte man ihn gebeten, vorzugehen, nach Martigny zu eilen und dort Nachtquartiere zu bestellen. Eine Stunde später war der Regen, dann das Gewitter, schließlich der Blitz gekommen. »Es hat eingeschlagen in dem Häuschen von Privas,« fügte er hinzu; »es steht in Flammen, das Vieh irrt umher, zumal eine Färse, die bei mir vorbeilief, blökte, daß einem das Herz brechen konnte. Sie folgte mir bis ein Blitz niederging, daß ich glaubte, der Weltuntergang wäre da.«

Plötzlich rief der Franzose, der zugehört hatte: »Was, Damen sind in dem Wäldchen ..., Damen bei diesem Unwetter! Bei Gott, man soll nicht sagen, daß ich sie nicht herausgeholt hätte. Wer kommt mit mir?«

»Ich bin Ihr Mann, und Sie sind der meine,« antwortete ich. »Vorwärts! Ich nehme diese beiden Hammelhäute, die an der Wand hängen.«

»Und ich diese Herzstärkung,« sagte der Franzose und goß den Landwein aus unserm Schoppen in seine Feldflasche.

Ohne weitere Vorbereitungen brachen wir auf. In dem Augenblick kamen die drei Geologen an... Aber in welchem Zustande! guter Gott...! Von den Ellbogen, durch die Taschen, aus der Nase, zwischen den fünf Fingern rann das Wasser; wie Maikäfer, die in einer Pfütze zappeln, wie Schiffbrüchige aus der Sintflut, die der Arche zuschwimmen ...! und trotzdem voll gespannter Aufmerksamkeit die Kiesel betrachtend, und nach den Erdschichten schielend; so traten sie in das Häuschen ein.

Wir beide befanden uns bald mitten in dem Tal des Col de Balme.

»Diese Kaufleute,« sagte der Franzose, »mit ihren wasserdichten Sachen sind die reinen Räuber. Das Wasser des ganzen Himmels hat sich in meinem Hut angesammelt...! Übrigens, sind Ihre Damen hübsch?«

Ein neuer Donnerschlag, von unheimlichem Rollen begleitet, überhob mich der Antwort; zudem war es ohnehin unendlich schwer, sich zu verständigen. Aus dem Fußsteg war das Bett eines reißenden Baches geworden; von allen Seiten stürzte das Wasser in Absätzen herab, und je höher wir stiegen, desto empfindlicher wurde die Kälte. Oberhalb Bois Magnin war der eisige Regen mit Hagelschloßen vermengt; eine Stunde später befanden wir uns mitten im Schnee. Nun folgte dem Lärm des herabstürzenden Wassers und dem Pfeifen des Windes im Walde plötzlich ein tiefes Stillschweigen.

Man konnte den Fußweg nicht mehr erkennen, auch antwortete niemand auf die Rufe, die wir von Zeit zu Zeit hören ließen. Wir verzweifelten schon am Gelingen unseres Versuchs, als wir über uns ein Maultier bemerkten, das von der Paßhöhe herunterkam. Es war allein, völlig gesattelt; der Zügel schleifte an der Erde. Um es nicht zu erschrecken, versteckten wir uns hinter einem Felsvorsprung; als es dann bei uns vorbeikam, verlegte ihm mein Begleiter den Weg, während ich auf den Zügel trat, an welchem ich das Tier wiedererkannte, das ich am Morgen geführt hatte; es war Emilies Reittier. Nun ergingen wir uns in den schlimmsten Vermutungen. Ohne Zeit zu verlieren, sprang der Franzose auf das Tier, während ich dahinterblieb, um es durch Peitschenhiebe zu zwingen, weiterzugehen und gleichzeitig uns zu führen. Als wir aber ein wenig weiter oberhalb auf eine nach allen Seiten freigelegene ebene Stelle gekommen waren, wandte sich das Maultier plötzlich nach links, suchte mit der denkbar größten Schnelligkeit zu entkommen und sich dabei seines Herren zu entledigen. Der Franzose war aber ein guter Reiter, auch reizte es ihn, sich vor mir als solcher zu zeigen; er blieb im Sattel, und nach einigen Augenblicken verlor ich ihn aus dem Gesicht. Ich blieb nun allein, von der quälendsten Unruhe verzehrt, und wußte nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte. Nachdem ich einige Zeit umhergeirrt war, fand ich die Spuren, die das Maultier beim Abstieg im Schnee zurückgelassen hatte, und entschloß mich, denselben aufwärts zu folgen. Das war ein glücklicher Gedanke, denn nach einer Viertelstunde sah ich mich plötzlich einem Manne gegenüber, der abwärts steigend, den gleichen Spuren folgte.

Es war der Führer, der seinem Tier nacheilte. »Wir haben Ihr Maultier,« rief ich ihm zu, »aber wo sind Ihre Leute?«

»Wo sie sind, ja, wo sind sie? Weiß ich's? Dieser Schnee jetzt, das ist ja wie die Sonne nach dem Unwetter von vor einer Stunde. Kein Fußsteg mehr, nichts mehr zu erkennen! Ein Wind, um die Fichten zu entwurzeln, und Donner und Blitz aus allen vier Windrichtungen. Wir saßen ein jeder auf seinem Tier; ich vornüber gebeugt auf den Hals des meinigen. Hab' niemanden mehr gesehen. Zum Glück hab' ich mich schließlich nach einer Höhle, nicht weit von hier, hingefunden; da hab' ich wenigstens das Fräulein unter Dach und Fach bringen können; ängstigen tut sie sich so noch genug, und ohne mein Maultier werd' ich sie nicht einmal von da fortschaffen können.«

Die letzten Worte, die viel zu langsam aus seinem Munde kamen, versetzten mich nach der gräßlichen Angst in einen wahren Freudentaumel. Nicht nur, daß Emilie in Sicherheit war, ich kam ja auch noch gerade im allergünstigsten Augenblick. »Guter Mann,« sagte ich, »Sie werden weiter suchen, bis Sie alle Ihre Leute zusammengefunden haben, und ich rühre mich nicht aus der Höhle, bis Sie wiedergekommen sind. Wo ist sie?« –

Er zeigte mir in einiger Entfernung einen schwarzen Fels. »Gerade darunter,« sagte er, »Sie können den Weg nicht verfehlen.«

Und er eilte weiter. –

Ich ging auf den Felsen zu. Aber was sagst du zu meiner Lage, Leser? Wenn schon das Reiseleben an sich, die Trennung von den Begleitern, die ungezwungene Annäherung, die Gelegenheit, sich mit ihr zu unterhalten, die Reize einer jungen Dame in deinen Augen steigert, ihre Anmut verdoppelt, ihre Schönheit erhöht, – wie wird es erst sein, wenn du als Befreier herbeieilst, sie im Schatten einer Grotte überraschst, sie allein, zitternd und doch durch deinen Anblick beruhigt findest, und ihr dankbares Lächeln als Lohn dafür empfängst, daß du mit solchem Eifer zu ihrer Rettung herbeigeeilt bist? Es ist nur zu fürchten, daß du selbst, verwirrt durch deine Freude, kühn gemacht durch den erreichten Vorteil, eine Geschäftigkeit zeigst, die dir unter den obwaltenden Umständen als Zudringlichkeit ausgelegt werden könnte! – Alles dies ließ ich mir sorglich immer wieder durch den Kopf gehen, als ich zu dem Felsen emporstieg.

Aber was er auch tun möge, um sich in den Schranken ehrerbietigster Höflichkeit zu halten, ein junger Mann kann nicht plötzlich am Eingang einer Grotte erscheinen, in der ein junges Mädchen Zuflucht gefunden hat, ohne daß dieses eine schamhafte Verlegenheit empfände, die schon vorher in dem Bewußtsein der Einsamkeit aufkommen wollte. Bei meinem Anblick färbte eine lebhafte Röte die Wangen Emilies; sie verließ alsbald ihren Platz im Hintergrund der Grotte und eilte nach dem Ausgang zu, um sich gewissermaßen unter den Schutz des Tageslichts und des Himmels zu stellen. So natürlich diese Bewegung war, so wenig vermochte sie mich zu erfreuen. Denn die Furcht, sei es auch die flüchtigste, verletzt ein zartes und ehrbares Gefühl. Immerhin, das Mißvergnügen, das ich darüber empfand, half mir, meinem Erscheinen die prosaische Erklärung zu geben, die der Anstand verlangte. Ich erzählte Emilie, welcher Folge von Umständen ich das Glück verdankte, mich ihr gegenüber zu befinden. Ich teilte ihr mit, welche Maßregeln ich getroffen, um die Vereinigung mit ihren Eltern zu beschleunigen, und daß diese inzwischen zweifellos bereits durch die Ankunft meines Freundes bei ihnen beruhigt seien. Die sichtliche Freude, die ihr diese guten Nachrichten machten, ermutigte mich, und ich richtete nun meine Worte so ein, sie immer mehr zu beruhigen, um diese kurzen Augenblicke eines so unverhofften téte-á-téte nicht durch Empfindungen der Unruhe und Angst vergiften zu lassen. Emilie lächelte auch schon wieder: und wenn wirklich noch einige Verlegenheit bei ihr zurückblieb, so war es jetzt nur noch die schüchterne Zurückhaltung, die sie hinderte, mir ihre Dankesgefühle so lebhaft zu zeigen, wie sie sie empfand.

In diesem Augenblick hatte der Schneefall aufgehört und der Wind, Herr des Passes und der Höhen, hielt die schweren Wolken gefesselt, die hoch in den Lüften hingen. Ein trauriges, bleiches Tageslicht erleuchtete die Fläche der Hochebene, während ein feuchtes Dunkel in den Schluchten wogte, aus denen zerrissene Fetzen grauer, unbestimmter Nebel emporstiegen. Wir ließen uns an der Stelle nieder, auf der wir uns befanden, und, die Augen auf das Schauspiel vor uns gerichtet, begannen wir, uns von den Abenteuern des Tages zu unterhalten, von der Wut des Gewitters, von den wundervollen Gegensätzen, die sich unsern Blicken im Zeitraum von wenigen Stunden dargeboten. Dabei konnten wir in der reizendsten Weise feststellen, daß wir, wenn auch voneinander getrennt, doch zahllose Eindrücke in der gleichen Weise auf uns hatten wirken lassen, und so wurde unsere Unterhaltung schließlich immer weniger zurückhaltend und gewann an Innigkeit. Emilie gestand mir, daß, wenn sie erst mit ihren Eltern wieder vereinigt wäre, sie diesen Tag, an dem sie so viel Aufregungen, so viel Schrecken und Freude empfunden hätte, zu den schönsten ihres Lebens zählen würde. Ich wagte es darauf, ihr zu antworten, daß der Augenblick, da ich das Glück gehabt, sie allein zu treffen und ihr die Gefühle zu gestehen, die mein Herz erfüllten, sich überhaupt nicht mit einem andern meines verflossenen Lebens vergleichen ließe, und daß ich fern von ihr auch keinen ähnlichen je wieder finden würde. Diese Worte versetzten sie in äußerste Verwirrung. Um sie abzulenken, und da sie infolge der auf der Höhe herrschenden Kälte ganz erstarrt war, drang ich in sie, sich mit dem einen Hammelfell zu bekleiden, das ich von Trient mitgebracht hatte. Es ist das eine Art grober Mantel, in den sich die Hirten der Gegend einhüllen. Sie gab mir lächelnd nach, und während ich mit der einen Hand das Hirtengewand hochhielt, ging ich mit der andern durch die Armelöffnung der ihrigen entgegen. Aber unter der ländlichen Vermummung leuchtete ihr Antlitz so anmutsvoll hervor, daß mein Gefühl mich hinriß; meine Lippen verirrten sich und drückten auf die Finger, die ich umschlossen hielt, einen Kuß. Verwirrt zog Emilie ihre Hand zurück, da ließen sich auch schon Stimmen vernehmen. Wir sprangen auf: es war der Führer ... und hinter ihm der Vater.

Nie habe ich bei einem Vater die Freude, seine Tochter wiederzufinden, so mit dem Ärger, sie nicht allein zu finden, vermischt gesehen. Um ihm ihr Erröten zu verbergen, hatte sich Emilie in seine Arme geworfen; ich selbst war beflissen, ihm zu zeigen, welch innigen Anteil ich an der glücklichen Wiedervereinigung nahm; trotzdem konnte er sich weder in seinen Worten, noch in seinem Benehmen in Einklang mit dem unseren setzen, obgleich es nach den Umständen geboten war, daß er sich zärtlich gegen seine Tochter, und vor allem dankbar gegen mich zeigte. Schon wollte seine beinahe zu deutliche Verlegenheit sich auch unserer bemächtigen, als er, um seine Fassung wiederzufinden, über die ländliche Verkleidung Emilies laut zu lachen begann. Damit war ein sehr glücklicher Ausweg gefunden, der uns allen die gute Laune wiedergab, so daß wir nun um die Wette lachten, obgleich wir eigentlich kein Bedürfnis danach hatten. Nun kamen die gegenseitigen Erklärungen über die Zwischenfälle des Tages. Mein Freund, der Franzose, hatte wahre Wunder vollbracht. Er hatte den Führer getroffen, er hatte den Vater ausfindig gemacht, er hatte die Mutter gefunden, und beide über das Schicksal ihrer Tochter beruhigt, die sich seit einer Stunde in meiner Hut, im Innern einer Grotte befände. Bei dieser Mitteilung hatte Herr Desalle (der Vater Emilies) aber gar keine Erleichterung gefunden, sondern war jäh aufgesprungen, um uns in aller Eile zu erreichen.

Ich habe nämlich vergessen, den Lesern mitzuteilen, daß ich das junge Mädchen schon lange vorher in Genf bei den Wintervergnügen bemerkt hatte. Dann hatte ich sie auch an den ersten schönen Tagen gesehen, wenn die jungen Damen die wollenen Kleider und Winterumhänge gegen leichte Gewänder und flatternde Schärpen vertauschen, wenn sie wie frisch erblühte Blumen erscheinen, die sich eben von der neidischen Hülle befreit haben, die ihren Glanz verbarg. Und endlich hatte ich sie gesehen, als sie im August mit ihren Eltern zum Besuch des Hochgebirges aufbrach und ich mich entschloß, ihren Spuren zu folgen. Bleibt es wohl noch fraglich, ob auch sie mich bemerkt hatte? Ich will es nicht entscheiden, aber eins kann ich versichern, daß die Eltern ihrerseits mich unzähligemal gesehen hatten. Meine Beharrlichkeit störte ihre Ruhe und durchkreuzte ihre Pläne; ich allein hatte sie zu einer Luftveränderung bestimmt; ich war es, um dessentwillen sie den mühsamen Übergang über den Paß von Balme dem leichten Wege über die Tête-Noire vorgezogen hatten. Diese kurze Erläuterung wird manches erklären. Ich könnte sie vervollständigen, wenn ich eine ziemlich nahe Zukunft vorweg nehmen wollte; aber ich fürchte, dem Interesse, das man an meiner Erzählung nehmen kann, Abbruch zu tun, wenn ich durchblicken lasse, wie mein poetisches Abenteuer sechs Monate später eine zwar glückliche, aber doch schließlich prosaische Lösung fand.

Doch ich will meinen Bericht wieder aufnehmen.

Das Wetter blieb zwar noch düster, aber das Gewitter hatte aufgehört. Die geringe Menge Schnee, die noch gefallen war, begann zu verschwinden, und wir durften auf einen ruhigen Abend hoffen. Wir verließen die Grotte und richteten unsere Schritte auf eine Rauchsäule zu, die hinter einem Lärchengehölz aufstieg und uns die Stelle zeigte, an der wir erwartet wurden. Der Franzose war im Augenblick gerade abwesend, aber wir fanden Frau Desalle so behaglich wie nur denkbar untergebracht. »Ihr Freund, mein Herr, ist ein reizender Mensch,« sagte sie zu mir, sowie sie mich bemerkte. Und in der Tat, mit der hilfsbereiten und zuvorkommenden Geschäftigkeit, die der Franzose alsbald entwickelt, wenn er das andere Geschlecht in Not sieht, hatte mein Begleiter in wenigen Augenblicken aus einigen nebeneinander gesetzten Steinen und darübergelegten Moosschichten eine Art Chaiselongue hergerichtet. Über ihr hatte er die Lärchenzweige so durcheinander geschlungen, daß sie gegen den Schnee einen undurchdringlichen Wall bildeten. Daneben hatte er ein kleines Feuer zur Erwärmung für Frau Desalle angezündet; etwas entfernt davon hatte er eine Menge großer Zweige aufgehäuft und aus ihnen eine Art gewaltiger Kohlenpfanne gemacht; ringsherum hatte er Stecken aufgestellt, die er von den nächsten Lärchenbäumen entnommen hatte, und an denen die Kleider der Karawane zum Trocknen aufgehängt werden sollten. Diese Rücksichten für eine nicht mehr junge Dame, diese vorausdenkende Sorge, um unserer kleinen Kolonie ein behagliches Dasein zu verschaffen, riefen in uns allen ein Gefühl von Dankbarkeit hervor, das so ganz dazu angetan war, die unerfreuliche Situation zu einer Quelle der heitersten Freuden zu machen. Aber beim Anblick eines kleinen silbernen Geräts, das aus drei oder vier Stücken kunstvoll ineinandergefügt war, und in dem sich eine siedende Flüssigkeit befand, konnte ich mich des Lachens nicht erwehren. Ich erkannte nämlich eine mechanisch arbeitende Kaffeemaschine wieder, deren Eigenheiten unser Begleiter uns in Valorsine auseinandergesetzt hatte; in diese hatte er einige Tropfen einer in Paris erstandenen Kaffee-Essenz gegossen und darauf einige Hände voll Schnee vom Col de Balme getan.

In diesem Augenblick bemerkten wir ihn selbst, wie er den Hügel, auf dem wir uns befanden, heraufstieg und eine Milchkuh hinter sich herzog, die ihm ohne allzu großen Widerstand folgte. »Bravo,« rief er, als er uns alle vereinigt sah, »hiervon bringe ich für alle Welt, aber Kaffee ist nur für die Damen da. Ich begrüße Sie, mein Fräulein! Meine Herren, haben Sie die Güte, Ihre Mäntel und den Schal an jenen Stecken aufzuhängen. Das übrige ist meine Sache.«

Nun öffnete er eine kleine Taschenzuckerdose und stellte sie neben die beiden Damen hin. Dann machte er sich daran, die Kuh in zwei seiner Kokostrinkbecher zu melken, goß den Kaffee dazu und bot das Getränk mit einem eifrigen und selbstzufriedenen Ausdruck an, der zum Totlachen war. So lachte ich denn auch; aber es war ein frohes zufriedenes Lachen, ohne jede Beimischung von Spott, wie es in Valorsine der Fall gewesen war. Ich begriff nämlich erst jetzt, was doch so unendlich einfach ist, daß auf Reisen, wie auch anderswo, nur diejenige Neuausrüstung einen häßlichen Eindruck macht, die lediglich ihrem Eigentümer dient, ohne anderen zugute zu kommen.

Ein von Angst befreites Herz ist gern bereit, Nachsicht zu üben und alle nachtragenden Empfindungen zu verbannen. Herr und Frau Desalle schienen schon gar nicht mehr an die Grotte oder an frühere Widerwärtigkeiten zu denken. Ich meinerseits war ihnen zu dankbar für ihre Haltung, als daß ich durch allzu eifrige Bemühungen um ihre Tochter einen neuen Schatten auf unsere junge Freundschaft hätte heraufbeschwören wollen. Emilie hatte ihre Erregung wenigstens äußerlich überwunden; sie verbarg das, was sie innerlich beschäftigte, hinter einer erhöhten Munterkeit; mein neuer Freund, der Franzose, hatte die Küchenbatterie wieder in seine Tasche versenkt und traf mit den Führern die Vorbereitungen zum Aufbruch.

In dem Augenblick, als wir uns aufmachten, kam die Sonne am Horizont noch einmal zum Vorschein; das Dach grauer Regenwolken, das bis dahin über unsern Häuptern geschwebt hatte, überzog sich auf einmal unter den Strahlen des untergehenden Tagesgestirns mit Purpur und verwandelte sich in einen Riesendom von überirdischem Glanz. Unmerklich erlosch dann dieser Schimmer, das bleiche Licht der Sterne zuckte hier und da am Himmel auf und die Nacht überraschte uns auf unserm Abstieg. Bis nach Martigny zu gelangen, davon konnte keine Rede mehr sein; anderseits schien es ein fast verzweifeltes Beginnen, in Trient schlafen zu wollen. Selbst die Führer konnten dazu nicht raten. »Keine Schlafgelegenheit,« sagten sie, »und als Nahrungsmittel nur Eier.«

»Eier,« fiel der Franzose ein; »dann übernehme ich die Verantwortung für das Nachtmahl« (er überlegte einen Augenblick) »... und auch für das Nachtlager. Aber ich muß vorauseilen; also, glückliche Reise und auf Wiedersehen!«

Wir wollten ihn zurückhalten, ihm wenigstens danken; aber er war uns schon aus den Augen. Nach anderthalb Stunden kamen wir aus dem Bois Maguin heraus. An dem hellen Licht, das uns aus einem Hause entgegenstrahlte, erkannten wir von weitem die Hütten von Trient und, daß unser Gefährte an der Arbeit war. Als wir uns näherten, kreuzten wir den Pfad zweier Wanderer, die zu unserem Erstaunen in dieser vorgerückten Stunde den Fußpfad nach der Forilaz einschlugen. Es waren unsere beiden Engländer. Bei seiner Ankunft hatte der Franzose nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sie aufzuwecken und ihnen die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß er, auf ihre Höflichkeit bauend, ihre Betten zwei Damen versprochen hätte, die sofort eintreffen würden. Sichtlich verstimmt, aber stillschweigend waren die Engländer aufgestanden, hatten sich gegen die Wirtin ereifert, die ihnen vorschlug, im Schuppen zu schlafen, und sich dann entschlossen, weiterzuwandern.

Ich habe den Gasthof schon oben beschrieben. Wir kamen gegen zehn Uhr an. Als wir an der Küchentür vorbeigingen, sahen wir dort ein fortwährendes Kommen und Gehen von Leuten, und mitten zwischen ihnen unsern Franzosen, der, vom Herdfeuer beleuchtet, seine Befehle erteilte und gleichzeitig eine Kasserolle bewachte, in der ein schäumendes Gericht brodelte. »Gehen Sie nur herauf, gehen Sie herauf,« rief er uns zu. »Ich kann unmöglich jetzt meinen Sambayon Ein hauptsächlich aus Eiern bestehendes Gericht. verlassen. Mein Ruf und Ihr Nachtisch stehen auf dem Spiele.« So begaben wir uns in den oberen Saal, wo die drei Geologen, die er ebenfalls zu dem Festmahl geladen hatte, uns mit herzgewinnender Freundlichkeit empfingen. Ich fand den Saal völlig verwandelt. Die Betten hatten zwar nicht entfernt werden können, aber sie waren schicklich in den Hintergrund geschoben worden; außerdem hatte sich der Franzose alle Tischtücher des Hauses geben lassen und damit die Fenster wie mit Vorhängen verhangen; dabei hatte er mit glücklichem Geschick die Größe der Leinwandtücher benutzt, um sie an den Seiten nach Art von Festons aufzunehmen. Durch diese Anordnung hatte er der Gaststube jede Erinnerung an ihre Bestimmung als Schlafraum genommen und ihr ein so ansprechendes und sauberes Ansehen verliehen, daß der freundliche Eindruck, besonders bei den Damen, noch erhöht wurde. Was man aber geradezu bewundern mußte, das war die Festtafel. Sechs Kerzen, sauber in Flaschen befestigt, beleuchteten den Tisch, der mit ländlichen Gerichten und malerischen Geräten besetzt war. In der Mitte dampfte eine Suppe; zu beiden Seiten standen drei oder vier verschiedene Eiergerichte; dazwischen waren in regelmäßigen Abständen Zinnkrüge aufgestellt, die einen mit Walliser Landwein, die anderen mit Gletscherwasser gefüllt. Mit Entzücken setzten wir uns hin. Die Freude, glücklich angekommen zu sein, die Überraschung, so viele gute Dinge anzutreffen, und mehr noch die Empfindung, daß dies alles, wie mittels eines Zauberstabes, durch liebenswürdigen Eifer aus dem Nichts geschaffen war, ließen unsere Befriedigung und unsere Dankbarkeit den Höhepunkt erreichen.

Nun erschien auch bald der Franzose. Hinter ihm trug die Wirtin, die vor Gehorsam und gutem Willen geradezu erstarb, den Sambayon. Wir überboten uns alle in freudigen Ausrufen über die uns bereitete Überraschung und die geschickte Anordnung des Mahles. »Nicht wahr? Dazu gehört aber auch,« wendete er sich an die Wirtin, »daß man so wackere Leute trifft, die ihren Keller öffnen und ihre Eier und Tischtücher preisgeben. Und nun, gute Frau, schicken Sie Ihre Leute ins Bett, und wenn der Wein kocht, rufen Sie mich. Es wird nämlich ein ›Negus‹ Eine Art Punsch erklärte er uns. »Und nun zu Tische. Hier Frau Desalle, da Fräulein Emilie, Herr Desalle dort oben, ich hier unten; Sie und die andern Herren in den Zwischenräumen; es lebe das Wirtshaus von Trient!«

Wir stimmten alle ein, zumal ich, der ich mir einen Platz zwischen Emilie und ihrer Mutter hatte sichern können.

Das Abendessen war, wie man sich denken kann, reizend. Von der Suppe an, die gut aber etwas dünn war, erneuerten sich die Ausrufe der Überraschung bei jedem Gericht; ich will gar nicht davon sprechen, wieviel hierbei auf die Stimmung der einzelnen in Rechnung zu setzen war; aber jeder, der einen Tag voller Ermüdung und Entbehrungen in den Bergen zugebracht hat, weiß, wie wertvoll einem selbst eine mäßige Suppe ist, und wie gern man geneigt ist, die einfachsten Gerichte besonders wohlschmeckend zu finden. Als nun gar der »Sambayon« an die Reihe kam, erneuten sich die begeisterten Zurufe. Der Franzose, der vergnügter war als wir alle zusammen, antwortete mit Einfällen von sprudelnder Lustigkeit, so daß der Lärm, der mit Glückwünschen begonnen hatte, sich zu wahren Lachsalven steigerte. Das Erscheinen des »Negus« machte dem Lärm vorläufig ein Ende. Sobald er herumgereicht war, nahm jeder, auch der Franzose, das Recht für sich in Anspruch, einen Toast auszubringen. Aber Herr Desalle erteilte sich selbst im Hinblick auf sein Alter das Wort: »Ich bringe,« sagte er, »die Gesundheit meines Wirtes aus. Er möge entschuldigen, wenn ich ihn so nenne, bis ich seinen Namen erfahre, der uns allen teuer bleiben wird, und meiner Familie ganz besonders. Einen Tag der Ermüdung und Furcht hat er uns zu einem Tage des Vergnügens und der Erholung gemacht; ich spreche ihm dafür unsern lebhaften, von Herzen kommenden Dank aus.«

Wir standen alle auf, um mit dem Franzosen anzustoßen, der sofort antwortete: »Die Bescheidenheit verbietet mir, mich zu nennen; aber hier ist mein Hut, in dessen Innern mein Name geschrieben steht. Es sei mir gestattet, meinerseits zu versichern, daß seit ich reise, ich noch nie so vergnügt gewesen bin wie heute; daraus wollen Sie schließen, daß ich mich noch nie in so liebenswürdiger Gesellschaft befunden habe. Meine Damen und Herren, ich trinke auf Ihre Gesundheit!«

Bald darauf beurlaubten wir uns von den Damen und betteten uns auf unserer ländlichen Lagerstätte, wo wir dank den Anstrengungen des Tages in einem Zuge bis zur Morgenröte durchschliefen.


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