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Einundzwanzigstes Kapitel

Das letzte Fest

Herr Minxit besaß eine jener vorsintflutlichen Konstitutionen, die aus einem haltbareren Stoff gemacht zu sein scheinen als die unsrigen. Er war eine jener lebenskräftigen Pflanzen, die noch eine starke Vegetation aufweisen, wenn die andern schon vom Winter entblättert sind. Die Runzeln hatten diese Stirn von Granit nicht zu furchen vermocht; die Jahre hatten sich auf seinem Haupt gehäuft, ohne eine Spur von Zerfall dort zu hinterlassen. Er war jung geblieben bis über sein sechzigstes Jahr hinaus, und sein Winter war, wie der der Tropen, voll von Saft und Blumen. Aber die Zeit und das Unglück vergessen niemand.

Der Tod seiner Tochter, ihre Flucht und die Entdeckung ihrer Schwangerschaft hatten diesen mächtigen Organismus als ein tödlicher Schlag getroffen; ein schleichendes Fieber untergrub ihn insgeheim. Er hatte auf die lauten Liebhabereien, die sein Leben zu einem einzigen langen Fest gemacht hatten, verzichtet. Die Medizin hatte er wie eine unnütze Last beiseite gesetzt. Die Genossen seiner langen Jugend achteten seinen Schmerz, und ohne aufzuhören, ihn zu lieben, hörten sie doch auf, ihn zu besuchen. Sein Haus war stumm und verschlossen wie ein Grab; kaum daß es durch ein paar halbgeöffnete Läden einige scheue Blicke auf die Straße warf. Die Höfe hallten nicht mehr von dem Lärm der Kommenden und Gehenden; das erste Frühlingsunkraut hatte sich der Einfahrt bemächtigt, und allerhand Rankenpflanzen kletterten an den Mauern in die Höhe und bildeten ringsherum eine Laubverkleidung.

Diese arme trauernde Seele hatte kein Bedürfnis mehr als Dunkel und Schweigen. Sie hatte es wie das Wild gemacht, das sich, wenn es sterben will, in die dunkelsten Tiefen seines Waldes birgt. Die Fröhlichkeit meines Onkels versagte gegen diese unheilbare Melancholie. Herr Minxit antwortete auf seine Aufheiterungen nur mit einem traurigen und schmerzlichen Lächeln, wie um ihm zu zeigen, daß er verstanden habe und ihm für seine gute Absicht danke.

Benjamin hatte auf den Frühling gerechnet, der den alten Freund dem Leben wieder zuführen würde; aber dieser Frühling, der die ganze dürre Erde neu mit Blumen und Grün bekleidet, findet in einer trostlosen Seele nichts, das er grünen lassen könnte, und während alles neu erstand, siechte dieser Arme langsam dahin.

Es war ein Abend im Mai. Er ging in seinen Wiesen spazieren, auf den Arm Benjamins gestützt. Der Himmel war durchsichtig, die Erde grün und voller Duft, die Nachtigallen schlugen, die Wasserjungfern schwebten mit harmonischem Schwirren ihrer Flügel zwischen dem Schilf des Baches, und das ganz von Schlehenblüten bedeckte Wasser murmelte unter den Wurzeln der Weiden.

»Das ist einmal ein schöner Abend!« sagte Benjamin, der Herrn Minxit aus jener düsteren Träumerei reißen wollte, die seinen Geist wie ein Leichentuch einhüllte.

»Ja«, sagte dieser, »ein schöner Abend für den armen Landmann, der zwischen zwei blühenden Hecken, die Hacke auf der Schulter, der rauchenden Hütte zugeht, wo ihn seine Kinder erwarten; aber für den Vater, der Trauer um seine Tochter trägt, gibt es keine schönen Abende mehr.«

»An welchem Herd«, sagte mein Onkel, »ist nicht ein Platz leer? Wer hat nicht auf dem Friedhof einen Rasenhügel, wo er Jahr für Jahr fromme Tränen weinen mag zu Allerseelen? Die Menge in den Straßen der Stadt, so rosig und golden sie sein mag, sie hat immer ihre schwarzen Flecken. Wenn die Söhne alt werden, sind sie verdammt, ihre alten Eltern ins Grab zu legen; sterben sie in ihrer Blüte, hinterlassen sie eine verzweifelte Mutter, die bei ihrem Sarge kniet. Glauben Sie mir, die Augen des Menschen sind weit weniger dazu geschaffen, zu sehen als zu weinen, und jede Seele hat ihr Leid, wie jede Blume ihr Insekt, das an ihr nagt. Aber auf den Weg des Lebens hat Gott das Vergessen gesetzt, das mit langsamen Schritten dem Tode folgt, das die Grabschriften auslöscht, die er schrieb, und die Zerstörung wiedergutmacht, die er angerichtet hat. Wollen Sie, mein lieber Herr Minxit, einem guten Rat folgen? Glauben Sie mir: essen Sie Karpfen an den Ufern des Genfer Sees, Makkaroni in Neapel, trinken Sie Jerez in Cadix, und schlürfen Sie Eis in Konstantinopel; in einem Jahr kommen Sie so rund und vollbäckig wieder, wie Sie früher waren.«

Herr Minxit ließ meinen Onkel reden, soviel er wollte; als er geendet hatte, sagte er:

»Wieviel Tage habe ich noch zu leben, Benjamin?«

»Aber...« sagte mein Onkel förmlich betäubt von dieser Frage und im Glauben, er habe nicht recht verstanden, »was sagen Sie da, Herr Minxit?«

»Ich frage dich«, wiederholte Herr Minxit, »wieviel Tage mir noch zu leben bleiben.«

»Teufel!« sagte mein Onkel, »das ist eine Frage, die mich sehr in Verlegenheit bringt: auf der einen Seite möchte ich Sie damit nicht im Stich lassen, auf der andern weiß ich nicht, ob es mir die Klugheit erlaubt, Ihrem Wunsche zu willfahren. Man verkündigt dem zum Tode Verurteilten die Vollstreckung erst wenige Stunden vor dem Vollzug, und Sie...«

»Es ist das«, unterbrach Herr Minxit, »ein Dienst, den ich von deiner Freundschaft fordere, denn du allein vermagst ihn mir zu leisten. Es ist nur recht, daß der Reisende weiß, wann er abreisen muß, damit er sein Bündel schnüren kann.«

»Wollen Sie es also frei heraus, ehrlich, Herr Minxit? Werden Sie nicht erschrecken über das Urteil, das ich auszusprechen habe? Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

»Ich gebe dir mein Wort darauf«, sagte Herr Minxit.

»Gut denn! So werde ich verfahren, als ob es sich um mich selber handele.«

Mein Onkel sah prüfend in das ausgetrocknete Gesicht des Greises; er untersuchte die trübe und glanzlose Pupille, in der das Leben kaum noch einen Widerschein fand, er befragte den Puls, als ob er seine Schläge zwischen den Fingern hätte hören können, und verharrte eine Zeitlang in Schweigen; dann sagte er:

»Heute ist Donnerstag. Nun – Montag wird ein Haus mehr in Trauer stehen zu Corvol.«

»Sehr gut prognostiziert«, sagte Herr Minxit; »was du gesagt hast, dachte ich. Wenn du je Gelegenheit findest, dich hervorzutun, prophezeie ich dir, daß du eine unsrer medizinischen Berühmtheiten abgibst. Aber der Sonntag, gehört er mir ganz?«

»Er gehört Ihnen ganz und gar, vorausgesetzt, daß Sie nichts tun, was das Ende Ihrer Tage beschleunigt.«

»Mehr will ich nicht«, sagte Herr Minxit. »Tu mir den Gefallen, unsre Freunde für Sonntag zu einem festlichen Mittagessen einzuladen; ich will nicht in Zwiespalt mit dem Leben scheiden, sondern mit dem Glase in der Hand denke ich ihm Lebewohl zu sagen. Du wirst bei ihnen darauf bestehen, daß sie annehmen, und wirst ihnen, wenn nötig, eine Pflicht daraus machen.«

»Ich werde selbst gehen und sie einladen«, sagte mein Onkel, »und ich stehe dafür, daß keiner ausbleiben wird.« »Kommen wir nun zu einem andern Gedanken, der mich beschäftigt. Ich will nicht auf dem Kirchhof der Gemeinde begraben sein; er liegt tief, ist kalt und feucht, und der Schatten der Kirche deckt ihn wie ein Trauerflor. Ich würde mich an diesem Ort nicht wohlfühlen, und du weißt, daß ich gern meine Bequemlichkeiten habe. Ich wünsche, daß du mich auf meiner Wiese begräbst, am Rand des Baches hier, dessen harmonisches Lied mir lieb ist.«

Er riß eine Handvoll Gras ab und sagte:

»Sieh, hier möchte ich, daß man mir mein letztes Lager bereitet. Du wirst eine Laube von Wein und Geißblatt darüber pflanzen, damit ihr Grün mit Blüten untermischt sei, und du wirst manchmal hierhergehen, um an deinen alten Freund zu denken. Damit du öfters kommst und auch, damit man meinen Schlaf nicht stört, hinterlasse ich dir dieses Besitztum und alle meine andern Habseligkeiten; dies jedoch unter zwei Bedingungen; die erste ist, daß du das Haus bewohnst, das ich nun leer lasse; die zweite, daß du für meine Kranken sorgst, wie ich dreißig Jahre für sie gesorgt habe.« »Ich nehme diese doppelte Erbschaft mit Dank an«, sagte mein Onkel, »aber ich bemerke gleich, daß ich nicht auf die Märkte gehe.«

»Einverstanden«, antwortete Herr Minxit.

»Was Ihre Klienten betrifft«, fügte Benjamin hinzu, »so werde ich sie nach bestem Wissen und Gewissen behandeln. Sie sollen sehn: der erste, der hinuntergeht, wird Ihnen von mir zu erzählen wissen.«

»Ich spüre die Abendkühle, die mich ergreift; es ist Zeit, diesem Himmel, diesen alten Bäumen, die mich nicht wiedersehen werden, diesen kleinen singenden Vögeln Lebewohl zu sagen; denn erst Montag früh kommen wir wieder hierher.«

Am folgenden Tage schloß er sich mit seinem Freunde, dem Amtsschreiber, ein; am Samstag schwanden seine Kräfte mehr und mehr; aber als der Sonntag gekommen war, erhob er sich, ließ sich pudern und legte seinen schönsten Rock an. Benjamin war, wie er es versprochen hatte, selbst nach Clamecy gegangen, um die Einladung zu bestellen; nicht einer seiner Freunde fehlte bei seinem Todesappell, und um vier Uhr fanden sie sich alle im Saale beisammen.

Herr Minxit ließ nicht lange auf sich warten. Er wankte, auf den Arm meines Onkels gestützt, herein, schüttelte allen die Hand und dankte ihnen freundlich, seinem letzten Wunsche gefolgt zu sein, der, wie er sagte, die Laune eines Sterbenden sei.

Diesen Mann, den sie, es war noch nicht lange her, so vergnügt, so glücklich, so voller Leben gesehen hatten, hatte der Schmerz gebrochen, und das Alter war für ihn mit einem Schlage gekommen. Bei seinem Anblick vergossen alle Tränen, und selbst Arthus fühlte plötzlich, wie es ihm den Appetit versetzte.

Ein Bedienter kündigte an, daß das Diner bereit sei. Herr Minxit setzte sich wie gewöhnlich ans Kopfende der Tafel. »Meine Herren«, sagte er zu seinen Gästen, »dieses Mahl ist für mich ein Abschiedsmahl; ich will, daß meine letzten Blicke nur volle Gläser und lachende Gesichter sehen. Wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, so laßt eurer gewohnten Fröhlichkeit freien Lauf.«

Er goß sich ein paar Schluck Burgunder ein und hielt sein Glas den Tafelgenossen hin.

»Auf das Wohl des Herrn Minxit!« sagten alle zugleich.

»Nein«, sagte Herr Minxit, »nicht auf mein Wohl; was nützt ein Wunsch, der sich nicht erfüllen kann? Aber auf euer Wohl, auf euch alle, auf euer Gedeihen, auf euer Glück; und Gott möge alle die unter euch, die Kinder haben, davor bewahren, sie zu verlieren.«

»Herr Minxit«, sagte Guillerand, »hat sich die Ereignisse auch zu sehr zu Herzen genommen; ich hätte ihn nicht für fähig gehalten, vor Kummer zu sterben. Auch ich habe eine Tochter verloren, eine Tochter, die ich ins Kloster in Pension geben wollte. Es hat mir Schmerz verursacht für den Augenblick, aber ich habe mich darum nicht schlechter befunden, und manchmal, ich gestehe es, dachte ich, daß ich nun kein Monatsgeld mehr für sie zu bezahlen hätte.«

»Eine zerbrochene Flasche in deinem Keller«, sagte Arthus, »oder ein deiner Pension entgangener Zögling hätte dir mehr Kummer gemacht.«

»Das kommt dir gerade zu, Arthus, so zu sprechen«, sagte Millot, »der du kein anderes Unglück fürchtest, als den Appetit zu verlieren!«

»Ich habe mehr Eingeweide als du, Litaneienmacher«, antwortete Arthus.

»Ja, zum Verdauen«, sagte der Poet.

»Das ist zu etwas gut, gut verdauen«, gab Arthus zurück; »wenigstens haben dann auf einer Wagenpartie die Freunde nicht nötig, einen an die Wagenleitern festzubinden, um einen nicht unterwegs zu verlieren.«

»Arthus«, sagte Millot, »keine Anzüglichkeiten, bitte!«

»Ich weiß«, erwiderte Arthus, »daß du mich noch scheel ansiehst, weil ich damals auf dem Heimweg von Corvol auf dich fiel. Aber singe mir deine große Christlitanei, und wir sind quitt.«

»Und ich bleibe dabei, daß meine Christlitanei ein schönes Stück Poesie ist; willst du, daß ich dir einen Brief vom Herrn Erzbischof zeige, worin er mir darüber ein Kompliment macht?«

»Ja, leg deine Litanei auf den Rost, und du wirst sehen, was sie wert ist.«

»Ich kenne dich darin, Arthus; bei dir gilt nur, was geröstet oder gebraten ist.«

»Was willst du? Meine Gefühle residieren in den Wärzchen meines Gaumens, und es ist mir ebenso lieb, daß sie dort sind, wie anderswo. Hat ein geordneter Verdauungsapparat, um glücklich zu sein, weniger zu sagen als ein breit entwickeltes Gehirn? Das ist die Frage.«

»Wenn wir uns an eine Ente oder an ein Schwein wendeten, so zweifle ich nicht, daß sie zu deinen Gunsten entschieden; aber ich nehme Benjamin zum Schiedsrichter.«

»Dein Christgedicht sagt mir sehr zu«, sagte mein Onkel; »›Kniet, ihr Christen, knieet nieder!‹ Das ist prachtvoll. Welcher Christ könnte sich weigern, niederzuknien, wenn du ihn zweimal im Verlauf eines Verses von vier Füßen dazu invitierst? Trotzdem bin ich der Meinung von Arthus: ein Kotelett-Papillot ist mir lieber.«

»Ein Spaß ist keine Antwort«, sagte Millot.

»Nun wohl! Glaubst du, daß es einen moralischen Schmerz gibt, der dich so leiden läßt, wie es Zahnweh oder Ohrweh vermag? Wenn der Körper lebhafter leidet als die Seele, so muß er auch energischer genießen können; das ist nur logisch. Schmerz und Lust entspringen der gleichen Anlage.«

»Tatsache ist«, sagte Herr Minxit, »daß, wenn ich die Wahl hätte zwischen dem Magen des Herrn Arthus und dem überoxydierten Gehirn von Jean-Jacques Rousseau, ich mich für den Magen des Herrn Arthus entschiede. Die Empfindsamkeit ist die Fähigkeit, zu leiden; Empfindung haben heißt mit nackten Füßen über die schneidenden Kiesel des Lebens wandeln, heißt durch die stoßende und puffende Menge gehn mit einer offenen Wunde an der Seite. Was das Unglück der Menschen ausmacht, das sind ihre unerfüllten Wünsche. So ist jede Seele, die zu sehr empfindet, ein Ballon, der in den Himmel steigen möchte, aber über die Schranken der Atmosphäre nicht hinauskann. Man gebe einem Menschen eine gute Gesundheit, einen guten Appetit und versenke seine Seele in einen unaufhörlichen Schlafzustand, so wird er das glücklichste aller Wesen sein. Seine Intelligenz entwickeln heißt Dornen in sein Leben säen. Der Bauer, der Kegel spielt, ist glücklicher als der Mann von Geist, der ein schönes Buch liest.«

Alle Tischgenossen schwiegen zu diesen Ausführungen.

»Parlanta«, sagte Herr Minxit, »wie weit ist meine Angelegenheit mit Malthus?«

»Wir haben eine Verfügung auf Schuldhaft erlangt«, sagte der Vollstreckungsbeamte.

»Nun denn, du wirst die gesamten Prozeßakten ins Feuer werfen, und Benjamin wird dir die Auslagen erstatten. Und du, Rapin, wie steht es mit meinem Prozeß mit der Geistlichkeit von wegen meiner Musik?«

»Die Sache ist um eine Woche vertagt«, sagte Rapin. »Dann werden sie das Urteil in Abwesenheit des Angeklagten fällen müssen«, antwortete Herr Minxit.

»Aber«, sagte Rapin, »es wird sich vielleicht um eine beträchtliche Buße handeln: der Sakristan hat gesagt, der Sergeant habe den Vikar beleidigt, als dieser ihn aufforderte, den Kirchplatz mit seiner Musik zu räumen.«

»Das ist nicht wahr«, sagte der Sergeant, »ich habe nur der Musik befohlen, das Lied: ›Wohin, wohin, mein Herr Abbé?‹ zu spielen.«

»Wenn dem so ist«, sagte Herr Minxit, »so wird Benjamin den Sakristan bei der ersten Gelegenheit mit dem Stock traktieren; ich will, der Bursche soll ein Andenken von mir haben.«

Man war beim Nachtisch angelangt. Herr Minxit ließ einen Punsch bereiten und goß einige Tropfen der flammenden Flüssigkeit in sein Glas.

»Das kann Ihnen Schaden tun, Herr Minxit«, sagte Beißkurz zu ihm.

»Und was könnte mir augenblicklich noch Schaden tun, mein guter Beißkurz? Es heißt ja doch Abschied nehmen von allem, was mir teuer war im Leben.«

Indessen nahmen seine Kräfte rasch ab, und er konnte sich nur noch mit schwacher Stimme vernehmen lassen.

»Sie wissen, meine Herren«, sagte er, »daß es mein Begräbnis ist, zu dem ich Sie geladen habe; ich habe für Sie alle Betten bereiten lassen, damit Sie morgen früh bereit sein möchten, mich zu meiner letzten Wohnung zu geleiten. Ich will ganz und gar nicht, daß man meinen Tod beweine: anstatt des Trauerflors mögen Sie eine Rose am Rock tragen, und Sie mögen sie über meinem Grabe entblättern, nachdem Sie sie in Champagner eingetaucht haben; es ist die Genesung eines Kranken, die Erlösung eines Gefangenen, die Sie feiern. – Beiläufig«, fügte er hinzu, »wer von euch übernimmt es, mir die Trauerrede zuhalten?«

»Page doch wohl«, sagten einige.

»Nein«, antwortete Herr Minxit, »Page ist Advokat, und über Gräbern soll man die Wahrheit sprechen. Ich würde es vorziehn, wenn Benjamin es täte.«

»Ich?« sagte mein Onkel, »Sie wissen wohl, daß ich kein Redner bin.«

»Du bist es genug für mich«, antwortete Herr Minxit.

»Sehen wir einmal zu: sprich mir, als ob ich in meinem Sarge läge; ich hätte gute Lust, noch bei Lebzeiten zu hören, was die Nachwelt von mir redet.«

»Wahrhaftig«, erwiderte Benjamin, »ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.«

»Was du willst; aber beeile dich, denn ich fühle, daß es das letzte ist.«

»Gut denn!« sagte mein Onkel: »Der, den wir unter diesem Laub bestatten, hinterläßt einmütige Trauer.«

»›Einmütige Trauer‹ geht nicht«, sagte Herr Minxit; »kein Mensch wird einmütig betrauert. Das ist eine Lüge, die man nur von der Kanzel verschleißen kann.«

»Zögen Sie vor: hinterläßt Freunde, die ihn lange beweinen?«

»Das ist weniger anspruchsvoll, aber es ist darum nicht zutreffender. Auf einen Freund, der uns ehrlich liebt, haben wir zwanzig Feinde, die im Schatten lauern und wie ein Jäger im Hinterhalt die Gelegenheit erwarten, uns Schaden zuzufügen. Ich bin sicher, daß es genug Leute im Ort gibt, die glücklich über meinen Tod sind.«

»Also: hinterläßt untröstliche Freunde«, sagte mein Onkel.

»Untröstlich – das ist wieder eine Lüge«, antwortete Herr Minxit. »Wir Ärzte wissen nicht, welchen Teil unseres Organismus der Schmerz ergreift, noch wie das Leiden zustande kommt; aber es ist doch immer nur eine Krankheit, die schnell und ohne Behandlung heilt. Die meisten Schmerzen sind für das Herz des Menschen nur leichte Verwundungen, von denen der Schorf schnell wieder abfällt, sobald sie geschlossen sind; nur Väter und Mütter, die ein Kind in den Sarg legten, sind wohl untröstlich.«

»Die sein Andenken lange bewahren werden – würde Ihnen das besser zusagen?«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte Herr Minxit; »und damit dieses Andenken lange währe in eurem Gedächtnis, gründe ich auf ewige Zeit ein Essen, das am Jahrestag meines Todes stattfinden soll und an dem ihr alle teilnehmen sollt, die ihr im Lande seid. Benjamin ist mit der Vollstreckung dieses meines Willens beauftragt.«

»Das ist besser als eine Messe«, meinte mein Onkel; und er fuhr fort: »Ich spreche euch nicht von seinen Tugenden!«

»Setze ›Eigenschaften‹«, sagte Herr Minxit, »das schmeckt weniger nach Salbaderei.«

»...noch von seinen Talenten: ihr habt selbst Gelegenheit genug gehabt, sie zu würdigen.«

»Besonders Arthus, dem ich im vorigen Jahre fünfundvierzig Flaschen Bier im Billard abgewonnen habe.«

»Ich sage euch auch nicht, daß er ein guter Vater war; ihr wißt alle, daß er gestorben ist, weil er seine Tochter zu sehr geliebt hat.«

»Ach, wollte der Himmel, das wäre wahr!« antwortete Herr Minxit, »aber es ist eine traurige Wahrheit, die ich mir nicht verhehlen kann, daß meine Tochter gestorben ist, weil ich sie nicht genug geliebt habe. Ich habe gegen sie wie ein unverbesserlicher Egoist gehandelt: sie liebte einen Adligen, und ich wollte nicht, daß sie ihn heirate, weil ich die Adligen verachte. Sie liebte Benjamin nicht, und ich wollte, er solle mein Schwiegersohn werden, weil ich ihn liebte. Aber ich hoffe, daß Gott mir vergeben wird. Wir sind es ja nicht, die unsere Leidenschaften geschaffen haben, und unsere Leidenschaften sind immer die Herren über unsere Vernunft. Wir müssen Instinkten gehorchen, die uns gegeben sind, wie die Ente dem gebieterischen Instinkt folgt, der sie zum Bache treibt.«

»Er war ein guter Sohn«, fuhr mein Onkel fort.

»Was weißt du davon?« antwortete Herr Minxit. »Das ist so die Art, wie man Grabschriften und Leichenreden macht! Jene Alleen von Grabsteinen und Zypressen, die sich auf unsern Friedhöfen dehnen, sind nichts als lange Kolumnen von Lügen und Falschheiten, wie die Spalten einer Zeitung. In Wahrheit habe ich weder Vater noch Mutter gekannt, und es ist nicht hinreichend erwiesen, ob ich der Verbindung eines Mannes mit einem Weibe entstamme; aber ich habe mich nie über die Verlassenheit beklagt, in der man mich gelassen hatte. Es hat mich nicht gehindert, meinen Weg zu gehn, und wenn ich eine Familie gehabt hätte, so wäre ich vielleicht nicht so weit gekommen: eine Familie beengt euch, kommt euch hundertfältig in die Quere; ihr habt ihren Vorstellungen zu gehorchen, nicht den euren; ihr seid nicht frei, eurer Bestimmung zu folgen, und auf der Bahn, in die sie euch wirft, seht ihr euch oft genug vom ersten Schritt an gehemmt und festgehalten.«

»Er war ein guter Gatte«, sagte mein Onkel.

»Bei Gott, das weiß ich selbst nicht recht«, erwiderte Herr Minxit; »ich habe meine Frau geheiratet, ohne sie zu lieben, und habe sie auch später nie übermäßig geliebt; aber sie hat bei mir stets ihren Willen gehabt: wenn sie ein Kleid wollte, kaufte sie es sich; wenn ihr ein Dienstbote mißfiel, entließ sie ihn. Wenn man bei dieser Rechnung ein guter Gatte ist, desto besser! Aber ich werde bald wissen, was Gott darüber denkt.«

»Er war ein guter Bürger«, sagte mein Onkel; »ihr seid alle Zeugen des Eifers gewesen, mit dem er für die Ausbreitung der Ideen von Freiheit und Reform im Volke gearbeitet hat.«

»Du kannst das jetzt sagen, ohne mich zu kompromittieren.«

»Ich werde auch nicht davon sprechen, daß er ein guter Freund war!...«

»Aber was willst du denn anderes sagen?« fragte Herr Minxit.

»Nur ein wenig Geduld«, sagte Benjamin. »Er hat es durch seine Intelligenz verstanden, die Gunst des Glücks an sich zu fesseln.«

»Nicht gerade durch meine Intelligenz«, sagte Herr Minxit, »obgleich sie soviel wert war wie die irgendeines andern; ich habe von der Leichtgläubigkeit der Menschen Nutzen gezogen; dazu braucht es mehr Dreistigkeit als Intelligenz.«

»Und sein Reichtum stand immer im Dienste der Unglücklichen.«

Herr Minxit machte ein Zeichen der Zustimmung.

»Er hat als Philosoph gelebt, indem er sein Leben genoß und diejenigen an diesem Genuß teilnehmen ließ, die ihm nahestanden; und so ist er auch gestorben, umgeben von seinen Freunden, zum Ende eines Festes, Ihr, die ihr vorübergeht, werft eine Blume auf sein Grab!«

»Das ist es ungefähr«, sagte Herr Minxit. »Jetzt, meine Herren, wollen wir den Abschiedstrunk leeren, und wünschen Sie mir eine glückliche Reise.«

Darauf befahl er dem Sergeanten, ihn ins Bett zu bringen. Mein Onkel wollte ihm folgen, aber er widersetzte sich dem und verlangte, man solle bis zur Frühe bei Tisch bleiben.

Eine Stunde später ließ er Benjamin rufen; dieser eilte an sein Lager; Herr Minxit hatte noch Zeit, seine Hand zu ergreifen, dann verschied er.

Am folgenden Morgen bereitete man den Sarg des Herrn Minxit; und umgeben von seinen Freunden, gefolgt von einem langen Zug der Dorfbewohner, verließ man das Haus. Da erschien der Pfarrer an der Tür und befahl den Trägern, ihn auf den Friedhof zu bringen.

»Aber«, sagte mein Onkel, »nicht auf den Friedhof hat Herr Minxit die Absicht zu gehn, er geht auf seine Wiese, und kein Mensch hat das Recht, ihn daran zu hindern.«

Der Pfarrer wandte ein, daß die Hülle eines Christen nur in geweihter Erde ruhen dürfe.

»Ist denn die Erde, wohin wir Herrn Minxit tragen wollen, weniger geweiht als die Ihre? Wachsen nicht Gras und Blumen darauf wie auf dem Friedhof der Gemeinde?«

»Sie wollen also, daß Ihr Freund verdammt sei?«

»Erlauben Sie!« sagte mein Onkel; »Herr Minxit ist seit gestern vor Gott, und wenn die Sache nicht eine Woche vertagt worden ist, so hat er sein Urteil empfangen. Für den Fall, daß er verdammt sein sollte, wird es nicht Ihre Trauerhandlung sein, die das Urteil rückgängig machen kann; und für den Fall, daß er gerettet ist, wozu wäre sie gut?«

Der Herr Pfarrer schrie, Benjamin sei ein Gottloser, und befahl den Bauern, sich zurückzuziehen. Alle gehorchten, und auch die Träger zeigten Neigung, dies zu tun. Aber mein Onkel zog seinen Degen und sagte:

»Die Träger sind bezahlt, den Leichnam zu seiner letzten Ruhestatt zu tragen, und sie sollen ihr Geld verdienen. Wenn sie ihr Geschäft gut verrichten, erhält jeder einen Taler; wenn sich dagegen der oder jener weigern sollte zu gehn, werde ich ihn so lange mit der flachen Klinge bearbeiten, bis er am Boden liegt.«

Die Träger, mehr von den Drohungen Benjamins als denen des Pfarrers eingeschüchtert, beschieden sich, vorwärts zu gehn, und Herr Minxit wurde mit allen den Feierlichkeiten in seinem Grabe beigesetzt, die er Benjamin bezeichnet hatte.

Bei seiner Rückkehr von dem Leichenbegängnis besaß mein Onkel dreitausend Taler Einkommen. Vielleicht werden wir später sehen, welchen Gebrauch er von dem ihm überwiesenen Gut machte.


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