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Vierzehntes Kapitel

Die Rede meines Onkels vor dem Amtmann

Am folgenden Samstag – am Sonntag sollte die Taufe sein – wurde mein Onkel vor den Amtmann geladen, um sich dazu verurteilen zu hören, daß er leiblich verhaftet sei, Herrn Gutfärb die Summe von fünfzig Talern, zehn Groschen, sechs Hellern für gelieferte Waren zu bezahlen: so drückte sich die richterliche Verfügung aus, deren Kosten einen Taler sieben Groschen betrugen. Ein andrer als mein Onkel hätte über diesen ungeschickten Zufall Jammerlieder in allen Tonarten angestellt; aber die Seele dieses großen Mannes war gefeit gegen die Angriffe des Schicksals. Der Wirbelwind von Elend, der die Gesellschaft in einem Strudel umherjagt, die Nebelschwaden von Tränen, in die sie eingehüllt ist, drangen nicht zu ihm herauf. Wohl stak sein Leib mitten im Schlamme des Menschendaseins: wenn er zuviel getrunken hatte, so hatte er Schädelweh; wenn er zu lange marschiert war, brannten ihm die Füße; wenn der Weg schmutzig war, bespritzte er sich bis zum Kreuz; wenn er endlich kein Geld hatte, seine Zeche zu zahlen, setzte ihn der Wirt in die Kreide. Aber wie der Fels, dessen Fuß die Wellen bespülen, während sein Haupt von Sonne strahlt, wie der Vogel, der sein Nest im Gestrüpp am Wege hat und im Himmelsblau badet, schwang sich seine Seele in höhere Regionen von ewiger Ruhe und Heiterkeit. Er, er hatte nicht mehr als zwei Bedürfnisse: Hunger und Durst; und wenn der Himmel auf die Erde niedergestürzt wäre und nur eine Flasche unversehrt gelassen hätte, mein Onkel würde sie in Seelenruhe auf die Wiedererstehung des vernichteten Menschengeschlechtes auf irgendeinem rauchenden Boden irgendeines neuen Sterns geleert haben. Für ihn war die Vergangenheit nichts mehr und die Zukunft noch nichts. Er verglich die Vergangenheit einer geleerten Flasche und die Zukunft einem Huhn, das des Bratspießes wartet.

»Was liegt daran«, pflegte er zu sagen, »welche Flüssigkeit die Flasche enthielt? Und was das Huhn betrifft, warum soll ich mich selbst rösten lassen, um es über dem Feuer hin und her zuwenden? Vielleicht, wenn es gar ist und der Tisch gedeckt; ich mir schon die Serviette vorgebunden habe, kommt plötzlich irgendein Hund von Molosser und geht mit dem dampfenden Geflügel zwischen den Zähnen ab.

O Ewigkeit, o Nichts, Gewesenes dunkle Tiefen!

so ruft der Dichter aus; ich für mein Teil, alles, was ich aus diesen dunklen Tiefen retten möchte, wäre mein roter Frack, wenn er in der Nähe herumschwämme; das Leben ist ganz in der Gegenwart, und die Gegenwart ist die fliehende Minute. Was aber ist mir ein Glück oder Unglück einer Minute?

Man nehme einen Bettler und einen Millionär. Gott sagt zu ihnen: Ihr habt nicht mehr als eine Minute Bleibens auf der Erde. Ist sie abgelaufen, billigt er ihnen eine zweite, dann eine dritte zu und läßt sie so neunzig Jahre alt werden. Glaubt ihr, daß der eine viel glücklicher ist als der andere? Alles Elend, das den Menschen betrifft, er allein ist daran schuld; die Genüsse, die er sich erarbeitet, wiegen nicht das Viertel des Schweißes auf, den er darangesetzt hat. Er gleicht einem Jäger, der einen ganzen Tag ein Feld wegen eines mageren Hasen oder eines dürren Rebhuhns abklappert. Wir brüsten uns mit der Überlegenheit unserer Intelligenz, aber was hilft es, daß wir den Lauf der Gestirne berechnen, daß wir fast auf die Minute genau angeben können, wann der Mond zwischen Erde und Sonne tritt, daß wir die Einöden des Ozeans mit hölzernen Flossen oder hänfernen Flügeln durcheilen, wenn wir uns der Güter nicht zu freuen wissen, die Gott in unser Dasein gelegt hat? Die Tiere, die wir mit dem Namen Vieh beleidigen, verstehen sich weit besser als wir auf die Dinge des Lebens. Der Esel ergeht sich im Gras und weidet es ab, ohne sich darüber zu beunruhigen, ob es wieder wachsen wird. Dem Bären fällt es nicht ein, die Herden eines Pächters zu hüten, damit dieser warme Handschuhe und eine Pelzmütze für den Winter hat; der Hase schlägt nicht die Trommel bei irgendeinem Regiment in der Hoffnung, auf seine alten Tage versorgt zu sein; der Geier läßt sich nicht als Briefträger anstellen, um ein paar rote Litzen an seinen kahlen Hals zu bekommen: alle sind mit dem zufrieden, was ihnen die Natur gegeben hat, mit dem Bett, das sie ihnen im Gras, mit dem Dach, das sie ihnen unter dem blauen Sternenhimmel bereitet hat.

Sobald ein Sonnenstrahl die Ebene bestrahlt, beginnt der Vogel auf seinem Ast zu zwitschern, das Insekt summt um den Blütenbusch, der Fisch spielt an der Oberfläche seines Teichs, die Eidechse sonnt sich auf den heißen Steinen ihres Gemäuers; kommt ein Regenguß, so birgt sich jedes in seinem Schlupfwinkel und schläft friedlich in Erwartung der Sonne, die da morgen scheinen wird. Warum macht es der Mensch nicht ebenso? Der große König Salomo nehme mir's nicht übel, aber die Ameise ist das törichteste von allen Tieren: anstatt während der schönen Jahreszeit auf der Heide zu spielen, teilzunehmen an diesem wundervollen Feste, das der Himmel sechs Monate lang der Erde gibt, verliert sie ihren ganzen Sommer damit, Blättchen auf Blättchen zu häufen, und endlich, wenn die Stadt fertig ist, geht ein Wind darüberhin und fegt sie mit seinem Flügel hinweg.

Benjamin also machte Gutfärbs Gerichtsboten betrunken und wickelte Muttersalbe in das Stempelpapier der Vorladung.

Der Herr Amtmann, vor dem mein Onkel erscheinen sollte, ist eine zu gewichtige Persönlichkeit, als daß ich es versäumen möchte, euch sein Konterfei zu geben. Übrigens hat mir auch mein Großvater auf seinem Totenbett noch ans Herz gelegt, das zu tun, und um nichts in der Welt möchte ich mich dieser frommen Pflicht entziehen.

Der Herr Amtmann also war, wie so viele andere, von armen Eltern gebürtig. Sein erster Kinderwickel war aus einem alten Gendarmenumhang geschnitten worden, und er hatte seine juristischen Studien damit begonnen, daß er den großen Säbel seines Herrn Vaters putzte und dessen roten Gaul striegelte. Ich wüßte nicht auseinanderzusetzen, wie sich, von der untersten Stufe der gerichtlichen Hierarchie, der Herr Amtmann zu der höchsten Magistratur im Lande emporgeschwungen hatte; alles, was ich sagen kann, ist, daß die Blindschleiche so gut wie der Adler auf den höchsten Felsgipfeln anzutreffen ist.

Der Herr Amtmann hatte unter anderem die tolle Vorstellung, eine hohe Persönlichkeit zu sein. Die Niedrigkeit seiner Herkunft war sein Hauptschmerz. Er begriff nicht, wie ein Mann wie er nicht als Edelmann auf die Welt gekommen wäre. Er schrieb das einem Irrtum des Schöpfers zu. Er würde seine Frau, seine Kinder und seinen Schreiber hingegeben haben um ein winziges Stückchen von einem Wappen. Die Natur war eine recht wohlwollende Mutter gegen den Herrn Amtmann gewesen; in Wahrheit, sie hatte ihm sein Teil Intelligenz nicht zu groß und nicht zu klein gemacht, aber sie hatte ihm ein gutes Teil Hinterlist und Unbedenklichkeit dazugegeben. Der Herr Amtmann war weder dumm noch geistreich; er hielt sich auf der Grenze, nur mit der kleinen Eigenheit, daß er niemals den Fuß in das Lager der Leute von Geist setzte, wogegen er sich in häufigen Ausflügen in das leicht zugängliche und offene Gefilde der andern Seite erging. Da er nicht den Witz der Geistreichen haben konnte, begnügte sich der Herr Amtmann damit, den der Dummen zu haben: er machte Wortspiele. Diese Wortspiele allerliebst zu finden, machten sich die Prokuratoren nebst ihren Weibern zur Pflicht; sein Amtsdiener hatte die Obliegenheit, sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten und sie sogar den minderen Intelligenzen zu erklären, die ihren Sinn nicht gleich verstanden. Dank diesem angenehmen gesellschaftlichen Talent hatte sich der Herr Amtmann in gewissen Kreisen den Ruf eines Mannes von Geist erworben; aber diese Reputation hatte er, wie mein Onkel sagte, mit falscher Münze bezahlt.

Der Herr Amtmann war ... ja, war er ein rechtschaffener Mann? Ich wage nicht, das Gegenteil zu behaupten. Wie man weiß, definiert das Strafgesetzbuch die Diebe, und die Gesellschaft hält alle die für ehrliche Leute, die nicht unter diese Definition fallen; nun, der Herr Amtmann war nicht definiert vom Strafgesetzbuch. Der Herr Amtmann war, kraft allerhand Intrigen, dazu gelangt, nicht nur die Amtsgeschäfte, sondern auch die Vergnügungen der Stadt zu leiten. Als Magistrat war der Herr Amtmann eine recht wenig empfehlenswerte Persönlichkeit. Er verstand sich wohl auf das Gesetz, aber wenn es seinen Zu- oder Abneigungen widerstritt, ließ er es reden, was es wollte. Man sagte ihm nach, er habe an seiner Waage eine goldene und eine hölzerne Schale, und in der Tat, ich weiß nicht, wie es kam, aber seine Freunde hatten immer recht und seine Feinde immer unrecht. Wenn es sich um ein Vergehen handelte, so hätten die letzteren immer das höchste Strafmaß verdient, und wenn er es noch größer hätte machen können, er hätte es mit Wonne getan. Freilich, das Gesetz ist nicht immer zu beugen: wenn sich der Herr Amtmann in der Notlage befand, gegen einen Menschen zu erkennen, von dem er etwas fürchtete oder hoffte, so zog er sich aus der Affäre, indem er sich selbst als unzuständig ablehnte, und ließ von seinen Parteigängern seine Unparteilichkeit preisen.

Der Herr Amtmann liebäugelte mit der allgemeinen Bewunderung: er haßte herzlich, aber insgeheim alle die, die ihn durch irgendeine Überlegenheit verdunkelten. Wenn man sich den Anschein gab, an seine Wichtigkeit zu glauben, wenn man ihn um sein geneigtes Wohlwollen bat, machte man ihn zum glücklichsten Mann der Welt. Aber wenn man ihm ein Hutanrühren versagte, fraß sich diese Beleidigung tief in sein Gedächtnis ein, verursachte dort eine Wunde, und nie, selbst wenn der Beleidiger hundert Jahre alt geworden wäre und er selbst auch, hätte er sie ihm verziehen. Wehe dem Unglücklichen also, der es unterließ, den Herrn Amtmann zu grüßen. Wenn ihn irgendein Verfahren vor sein Tribunal führte, so piesackte ihn der Herr Amtmann durch irgendeine wohlausgedachte Plackerei so lange, bis er den Respekt vergaß. Dann wurde die Rache Pflicht, und er ließ unsern Mann ins Gefängnis setzen, alles unter den Beteuerungen äußersten Bedauerns über die fatale Notwendigkeit, in die ihn sein Amt bringe. Oft sogar, um seinen Schmerz glaubhafter zu machen, beging er die Heuchelei, sich als krank zu Bett zu legen, und bei großen Gelegenheiten ging er bis zum Aderlaß.

Der Herr Amtmann machte dem lieben Gott den Hof, so gut wie den irdischen Gewalten: er versäumte nie das Hochamt und pflanzte sich immer schön mitten auf die Bank der Kirchenvorsteher. Das brachte ihm jeden Sonntag ein Stück geweihtes Brot und die Huld des Pfarrers ein. Wenn er durch ein Protokoll hätte feststellen lassen können, daß er der Messe beigewohnt habe, er hätte es ohne Zweifel getan. Aber diese kleinen Fehler wurden durch glänzende Eigenschaften anderer Art aufgewogen. Niemand verstand es besser als er, auf Kosten der Stadt einen Ball zu arrangieren oder ein Bankett zu Ehren des Herzogs von Nevers. An solchen feierlichen Tagen strahlte er von Majestät, Appetit und Wortspielen; Lamoignon oder der Präsident Molé wären recht klein neben ihm gewesen. Zur Belohnung der hervorragenden Dienste, die er der Stadt leistete, hoffte er seit zehn Jahren auf das Sankt-Ludwigs-Kreuz; und als nach seinen amerikanischen Feldzügen Lafayette damit ausgezeichnet wurde, schrie er ganz leise über Ungerechtigkeit.

Derart war der Herr Amtmann nach seiner Moral; nach leiblicher Beschaffenheit war er ein gewichtiger Mann, obwohl er seine ganze Majestät noch nicht erreicht hatte. Seine Gestalt glich einer nach unten bauchiger werdenden Ellipse; man hätte sie einem Straußenei mit zwei Beinen vergleichen können. Die perfide Natur, die dem giftigen Manzenillenbaum unter einem glühenden Himmel einen breiten, dichten Schatten verliehen hat, hatte dem Herrn Amtman die Miene eines ehrlichen Mannes gegeben; so liebte er es denn auch sehr, sich zu zeigen, und es war ein schöner Tag in seinem Leben, wenn er, von Pompiers eskortiert, von der Gerichtsstätte zur Kirche ging.

Der Herr Amtmann hielt sich allezeit so steif wie eine Statue auf ihrer Standsäule; wer ihn nicht kannte, hätte meinen können, er habe ein blasenziehendes Pflaster oder etwas Derartiges zwischen den Schultern. Er ging durch die Straßen, als trüge er ein Sakrament; sein Schritt war unveränderlich wie eine Elle: ein Hagelwetter von Hellebarden hätte ihn nicht dazu bringen können, ihn zu verlängern; mit dem Herrn Amtmann als einzigem Instrument hätte ein Astronom einen Längengrad ausmessen können.

Mein Onkel haßte den Herrn Amtmann nicht; er tat ihm nicht die Ehre an, ihn zu verachten; aber in Gegenwart dieser moralischen Verworfenheit hatte er die Empfindung, als drehe sich ihm das Herz um, und er pflegte zu sagen, dieser Mensch mute ihn an wie eine in einem samtenen Sessel hockende Kröte.

Was den Herrn Amtmann betrifft, so haßte er Benjamin mit aller Kraft seiner galligen Seele. Das wußte dieser wohl, aber er machte sich wenig daraus.

Meine Großmutter, die einen Zusammenstoß dieser beiden so verschiedenen Naturen fürchtete, wollte, Benjamin solle zu dem Verhör nicht erscheinen; aber dieser große Mann, der der Kraft seines Willens vertraute, hatte diesen furchtsamen Rat von sich gewiesen; das einzige war, daß er sich am Sonntagmorgen seiner gewohnten Ration warmen Weines enthielt.

Der Anwalt Gutfärbs bewies, daß sein Klient das Recht habe, einen Haftbefehl gegen meinen Onkel zu verlangen. Als er seine Darlegungen ausgeführt und noch einmal ausgeführt hatte, fragte der Amtmann meinen Onkel, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen habe. »Ich habe nur eine einfache Bemerkung zu machen«, sagte mein Onkel, »aber sie ist gewichtiger als das ganze Plaidoyer dieses Herrn, denn sie unterliegt keinem Einwand, ich habe sechs Fuß drei Zoll über dem Meeresspiegel und sechs Zoll über dem allgemeinen Menschenniveau, ich dächte...«

»Herr Rathery«, unterbrach ihn der Amtmann, »so groß Sie sein mögen, so haben Sie doch nicht das Recht, mit der Justiz zu spaßen.«

»Wenn ich Lust hätte zu spaßen«, sagte mein Onkel, »so wäre es doch nicht mit einer so mächtigen Person, wie es der Herr Amtmann ist, dessen Justiz übrigens keineswegs spaßt; aber wenn ich sage, daß ich sechs Fuß drei Zoll über dem Meeresspiegel habe, so ist das gar kein Spaß, den ich mache, sondern ein sehr ernsthafter Verteidigungsgrund, den ich vorbringe. Der Herr Amtmann kann mich messen lassen, wenn er in die Wahrheit meiner Bemerkung Zweifel setzt. Ich denke also...«

»Herr Rathery«, warf der Amtmann lebhaft ein, »wenn Sie in diesem Tone fortfahren, würde ich genötigt sein, Ihnen das Wort zu entziehen.«

»Das ist nicht der Mühe wert«, antwortete mein Onkel, »denn ich bin schon zu Ende. Ich denke also«, sagte er, indem er den Silben Beine machte, »daß man einen Mann von meinem Maß nicht für lumpige fünfzig Taler festnehmen kann.«

»Nach Ihrer Berechnung«, sagte der Amtmann, »könnte sich die Haft nur auf einen Ihrer Arme, eines Ihrer Beine, vielleicht gar nur auf Ihren Zopf erstrecken.«

»Zunächst«, erwiderte mein Onkel, »mache ich dem Herrn Amtmann bemerklich, daß mein Zopf nicht im Rechtsstreit begriffen ist, sodann aber habe ich keineswegs die Anmaßung, die mir der Herr Amtmann zuschreibt: ich bin unteilbar und beabsichtige, mein Lebtag lang unteilbar zu bleiben; da jedoch das Pfand mindestens das Doppelte der Schuld wiegt, so bitte ich den Herrn Amtmann, zu erkennen, daß die Schuldhaft nicht eher Platz zu greifen habe, als bis Gutfärb mir drei weitere rote Fräcke geliefert hat.«

»Herr Rathery, Sie sind hier nicht in der Schenke; ich bitte, sich zu erinnern, zu wem Sie sprechen; Ihre Vorschläge werden so unachtbar wie Ihre Person.«

»Herr Amtmann«, antwortete mein Onkel, »ich erfreue mich eines guten Gedächtnisses und weiß sehr wohl, mit wem ich spreche. Ich bin von meiner teuern Schwester zu sorgfältig in der Furcht des Herrn und der Gendarmen erzogen worden, als daß ich das vergessen könnte. Was die Schenke anlangt, wenn hier von einer Schenke die Rede sein kann, so ist sie zu wohlangesehen bei allen rechtschaffenen Leuten, als daß ich nötig hätte, sie zu rehabilitieren. Wenn wir in die Schenke gehen, so geschieht es, weil wir, wenn wir Durst haben, nicht das Privileg haben, uns auf Kosten der Stadt zu erfrischen. Die Schenke, das ist der Keller derer, die keinen haben; und der Keller derer, die einen haben, ist nichts anderes als eine Schenke ohne Schild. Es steht denen, die eine Flasche Burgunder und noch etwas zum Mittagessen trinken, schlecht an, den armen Teufel zu verunglimpfen, der sich dann und wann in der Schenke einen Schoppen Krätzer gönnt. Solche offiziellen Orgien, wo man sich bei Reden auf den König und den Herzog von Nevers betrinkt, sind, den Euphemismus beiseite gesetzt, ganz einfach das, was das Volk ein Saufgelage nennt. Sich an seinem Tische zu betrinken ist anständiger; aber sich in der Schenke zu berauschen ist edler und besonders dem Staatsschatz zuträglicher. Was die Achtung anlangt, die meiner Person anhaftet, so ist sie nicht so allgemein wie die, deren der Herr Amtmann für die seine sich rühmen darf, in Anbetracht dessen, daß ich nur von den rechtschaffenen Leuten geachtet werde. Aber...«

»Herr Rathery!« brüllte der Amtmann, da er auf die Epigramme, mit denen ihn mein Onkel heimsuchte, keine bessere und bequemere Antwort fand, »Sie sind ein Unverschämter!«

»Mag sein«, versetzte Benjamin und las ein Fädchen von seinem Frackaufschlag, das sich dort angeheftet hatte, »aber ich fühle mich verpflichtet, den Herrn Amtmann darauf aufmerksam zu machen, daß ich mich diesen Morgen in den Grenzen völliger Enthaltsamkeit verschlossen hielt, daß er sich demnach, wenn er versuchen sollte, mich aus der respektablen Haltung, die ich seiner Robe schulde, herauszulocken, vergebliche Unkosten machen würde.«

»Herr Rathery!« rief der Amtmann, »Ihre Anspielungen sind Beleidigungen der Justiz; ich verurteile Sie zu fünfzehn Groschen Strafe.«

»Hier ist ein Taler«, sagte mein Onkel und legte das Geldstück auf den grünen Richtertisch, »machen Sie sich bezahlt.«

»Herr Rathery«, schrie der Amtmann außer sich, »gehen Sie hinaus!«

»Herr Amtmann! ich empfehle mich. Meine Komplimente an die Frau Amtmännin, wenn ich bitten darf.«

»Weitere zwanzig Groschen Strafe!« heulte der Amtmann.

»Wie«, sagte mein Onkel, »zwanzig Groschen Strafe, weil ich der Frau Amtmännin mein Kompliment mache?«

Und hinaus war er.

»Dieser Teufelskerl«, sagte abends der Herr Amtmann zu seiner Frau, »niemals hätte ich geglaubt, daß er so an sich halten würde. Aber er soll sich hüten; ich habe einen Haftbefehl gegen ihn erlassen und werde mit Gutfärb sprechen, daß er ihn sofort vollstrecken läßt. Er soll sehen, was es heißt, mir zu trotzen. Bis ich ihn zu den Festen einlade, die die Stadt gibt, soll er schwarz werden; und wenn ich ihm seine Kundschaft beschneiden kann...«

»Pfui doch, Herr Amtmann!« antwortete seine Frau, »sind das die Grundsätze eines Mannes, der in der Kirche vornan sitzt? Und was hat Ihnen Herr Rathery getan? Er ist ein so fröhlicher, so artiger, so liebenswürdiger Mann!«

»Was er mir getan hat, Frau Amtmännin? Er hat gewagt, mich daran zu erinnern, daß Ihr Schwiegervater ein Gendarm war, und übrigens hat er mehr Geist und ist ein rechtschaffenerer Mann als ich. Glauben sie, daß das nichts ist?« Am andern Tage dachte mein Onkel nicht mehr an den gegen ihn erlassenen Haftbefehl. Er steuerte nach der Kirche, gepudert und feierlich, die Jungfer Minxit an der rechten Seite und seinen Degen an der linken; er war gefolgt von Page, der in seinem haselbraunen Frack daherschwänzelte; von Arthus, dessen Bauchgekugel bis über den Äquator hinab von einer großgeblümten Weste umhüllt war, in deren Ranken sich kleine Vögel wiegten; von Millot-Rataut, der eine ziegelrote Perücke trug und dessen grauzwirnene Schienbeine schwarz getupft waren, und von einer großen Menge anderer, deren Namen der Nachwelt zu überliefern ich keine Lust habe. Parlanta allein fehlte beim Appell. Zwei Geigen quietschten an der Spitze des Zuges, Beißkurz und seine Frau schlossen ihn. Benjamin, immer großartig, streute Zuckerzeug und Pfennige auf seinem Wege. Kaspar, stolz, ihm als Tasche zu dienen, hielt sich an seiner Seite und trug in einer großen Tüte die Zuckerbohnen für die Feierlichkeit.


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