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Zweites Kapitel

Warum sich mein Onkel zum Heiraten entschloß

Ein schreckliches Geschehnis indessen, das ich sogleich erzählen werde, erschütterte die Entschließungen Benjamins.

Eines Tages kam mein Vetter Page, Advokat beim Amtsgericht von Clamecy, um meinen Onkel mit Beißkurz zur Feier des Sankt-Ives-Tages einzuladen. Das Diner sollte in seiner wohlberufenen Kneipe, zwei Flintenschüsse weit vor dem Tor, stattfinden; die Gäste waren übrigens lauter erlesene Leute. Benjamin würde diesen Abend nicht für eine ganze Woche seines gewöhnlichen Lebens hingegeben haben. So waren denn nach Vesper mein Großvater, mit seinem Hochzeitsfrack angetan, und mein Onkel, den Degen an der Seite, zur Stelle.

Die Geladenen waren beinahe alle versammelt. Der heilige Yves war prächtig vertreten in dieser Gesellschaft. Da war zuerst der Advokat Page, der nie anders als zwischen zwei Weinen, einem vor, einem nach dem Termine, plädierte; der Gerichtskanzlist, der es in der Gewohnheit hatte, im Schlafe zu schreiben; der Sachwalter Rapin, der als Geschenk von einem Klienten ein Fäßchen stichigen Wein erhalten hatte und ihn deshalb vorladen ließ, um ihn zur Lieferung eines besseren anzuhalten; der Notar Arthus, der einen Lachs zum Nachtisch verzehrt hatte; Millot-Rataut, Schneider und Poet, Verfasser der großen Christlitanei: ein alter Architekt, der seit zwanzig Jahren sich nicht ernüchtert hatte; Herr Minxit, Arzt aus der Nachbarschaft, der den Urin beschaute; zwei oder drei Handelsherren von Ansehen (wegen ihrer Lustigkeit und ihres Appetits) und einige Jäger, die die Tafel zum Biegen mit Wildbret versorgt hatten. Beim Anblick Benjamins stießen alle Mitschmauser ein Freudengeschrei aus und erklärten, es müsse zu Tisch gegangen werden. Während der ersten beiden Gänge verlief alles gut. Mein Onkel war bezaubernd in seinem Witz und seinen Ausfällen; aber beim Nachtisch erhitzten sich die Köpfe; alle schrien durcheinander. Bald war die Unterhaltung nichts mehr als ein Aufeinanderprasseln von Epigrammen, Kraftworten und Witzschüssen, die sich alle auf einmal entluden und sich gegenseitig zu übertäuben suchten. Alles das machte einen Lärm wie ein Dutzend beständig aufeinanderklirrender Gläser.

»Meine Herren«, rief der Advokat Page, »ich muß Ihnen unweigerlich meine letzte Verteidigungsrede zum besten geben. Die Sache ist die: Zwei Esel kriegten auf einer Wiese Händel. Der Herr des einen, ein schlechter Strick – wenn's einen gibt –, eilt herzu und bearbeitet den andern Esel mit seinem Stock. Aber dieser Vierfüßler war nicht langmütig und beißt unsern Mann in den kleinen Finger. Der Eigentümer des gebissen habenden Esels wurde vor den Herrn Amtmann geladen als verantwortlich für die Taten und Aufführungen seines Tieres. Ich war der Rechtsbeistand des Beklagten. ›Bevor ich in die Erörterung des Tatbestands eintrete‹, sagte ich zum Amtmann, ›muß ich Sie über die Moralität des Esels, den ich verteidige, und über die des Klägers aufklären. Unser Esel ist ein durchaus harmloser Quadruped; er erfreut sich der Achtung aller, die ihn kennen, und der Feldschütz hat eine hohe Meinung von ihm. Nun möchte ich bezweifeln, daß der Mann, der unsrer Partei gegenübersteht, dasselbe von sich sagen kann. Unser Esel ist Träger eines vom Schultheißen seiner Gemeinde ausgestellten Zeugnisses‹, – und dies Zeugnis existierte in der Tat –, ›welches seine Gesittung und seinen guten Lebenswandel bezeugt. Wenn der Kläger ein gleiches Zeugnis vorweisen kann, sind wir bereit, ihm tausend Taler Schadenersatz zu zahlen.‹«

»Der heilige Yves segne dich«! rief mein Onkel; »nun muß uns der Poet Millot-Rataut seine große Weihnachtslitanei singen: ›Kniet, ihr Christen, knieet alle!‹ Das ist doch unglaublich lyrisch. Nur der Heilige Geist kann ihn zu diesem schönen Vers begeistert haben.«

»Mach du nur auch so einen!« brüllte der Schneider, den der Burgunder reizbar machte.

»So dumm!« antwortete mein Onkel.

»Silentium!« unterbrach der Advokat Page, indem er aus Leibeskräften auf den Tisch schlug; »ich erkläre dem Gerichtshof, daß ich mein Plaidoyer zu Ende führen will.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte mein Onkel; »du bist noch nicht betrunken genug, um zu plaidieren.«

»Und ich sage dir, daß ich auf der Stelle plaidieren werde. Wer bist du, du Sechs-Fuß-drei-Zoll, daß du einen Advokaten am Sprechen hindern willst?«

»Nimm dich in acht, Page«, machte der Notar Arthus, »du bist nur ein Mann der Feder und hast es mit einem Mann des Degens zu tun.«

»Es steht dir schon an, du Mann der Gabel, Lachsfresser, von Männern des Degens zu reden; wenn du einem Angst machen wolltest, du, dann müßte er schon gebraten sein.«

»Benjamin ist in der Tat fürchterlich«, sagte der Architekt. »Er ist wie der Löwe: mit einem Schlag seines geschwänzten Endes könnte er einen Menschen zu Boden strecken.«

»Mein Herren«, sagte mein Großvater und erhob sich, »ich bürge für meinen Schwager; er hat hoch nie Blut vergossen, außer mit seiner Lanzette.«

»Wagst du wirklich, das aufrechtzuerhalten, Beißkurz?« »Und du, Benjamin, wagst du wohl das Gegenteil zu behaupten?«

»Dann wirst du mir auf der Stelle Satisfaktion für diese Beleidigung geben; und da wir nur einen Degen hier haben, will sagen den meinigen, werde ich die Scheide behalten, und du wirst die Klinge nehmen.«

Mein Großvater, der seinen Schwager zu sehr liebte, um ihm zu widersprechen, nahm die Forderung an. Als die beiden Gegner sich erhoben, rief der Advokat Page:

»Einen Augenblick, meine Herren; man muß die Kampfregeln festsetzen.

Ich schlage vor, daß jeder der beiden Gegner, um nicht umzufallen, bevor es losgeht, seinen Zeugen am Arme packt.«

»Angenommen!« riefen alle Tafelgenossen. Bald standen sich Benjamin und Beißkurz gegenüber.

»Bist du's, Benjamin?«

»Und du, Beißkurz?«

Mit seinem ersten Degenstreich hieb mein Großvater die Scheide Benjamins mittendurch, als wäre sie eine Schwarzwurzel gewesen, und brachte ihm einen Blutigen am Handgelenk bei, der ihn mindestens acht Tage zwang, mit der Linken zu trinken.

»Der Ungeschickte!« rief Benjamin, »er hat mich angeschnitten.«

»Na, warum«, antwortete mein Großvater mit bezaubernder Herzlichkeit, »warum hast du auch einen Degen, der schneidet?«

»Das ist gleich; ich will meine Revanche; und ich habe genug an der Hälfte dieser Scheide, um dich um Gnade flehen zumachen.«

»Nein, Benjamin«, versetzte mein Großvater, »jetzt bist du daran, den Degen zu nehmen. Wenn du mich anspießt, sind wir quitt und geben das Spiel auf.«

Die Zechgenossen, von dem Zwischenfall ernüchtert, wollten zur Stadt zurückkehren.

»Nein, meine Herren«, rief Benjamin mit seiner Stentorstimme, »jeder gehe wieder an seinen Platz. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen: Beißkurz hat sich, für seinen ersten Waffengang, aufs glänzendste geschlagen; er ist befähigt, sich mit dem mörderischsten aller Barbiere zu messen, vorausgesetzt, daß dieser ihm den Degen überläßt und die Scheide behält. Ich beantrage, ihn zum Oberstgewaltigen des Waffenwesens zu ernennen; nur unter dieser Bedingung könnte ich mich dazu verstehen, ihn am Leben zu lassen; ja ich würde mich, wenn ihr euch meinem Vorschlag fügt, sogar bereit erklären, ihm meine linke Hand zu reichen, sintemal er mir die rechte verstümmelt hat.«

»Benjamin hat recht!« schrie eine Menge Stimmen; »bravo, Benjamin! Man muß Beißkurz zum Waffenobersten erheben.«

Und jeder rannte an seinen Platz, und Benjamin verlangte einen zweiten Nachtisch.

Indessen hatte sich die Nachricht von diesem Zwischenfall in Clamecy verbreitet. Auf ihrer Wanderung von Mund zu Mund hatte sie sich wunderbar vergrößert, und als sie bei meiner Großmutter anlangte, hatte sie die riesenhaften Dimensionen eines Totschlags, begangen von ihrem Mann an der Person ihres Bruders, angenommen.

Meine Großmutter trug in einem Körper von der Länge einer Elle ein Herz von Festigkeit und Tatkraft. Sie ging nicht zu ihren Nachbarn, um in ein Klagegeheul auszubrechen und sich Essig ins Gesicht spritzen zu lassen. Mit jener Geistesgegenwart, die der Schmerz starken Seelen verleiht, sah sie sofort, was sie zu tun hatte. Sie brachte die Kinder zu Bett, nahm alles Geld, was im Hause war, und das bißchen von Schmuckstücken, das sie besaß, um ihrem Mann die Mittel zu verschaffen, das Land zu verlassen, falls es nötig sei; machte einen Pack saubere Leinwand zurecht, um Binden und Scharpie für den Verwundeten herzustellen, falls er noch am Leben sei; zog eine Matratze aus ihrem Bett und bat einen Nachbarn, ihr damit zu folgen. Dann wickelte sie sich in ihre Kapuze und setzte sich, ohne Wanken, auf die verhängnisvolle Kneipe zu in Bewegung. An den ersten Häusern der Vorstadt traf sie ihren Gatten, den man im Triumph daherführte, mit einem Diadem von Weinpfropfen gekrönt. Er stützte sich auf den linken Arm von Benjamin, der aus vollem Halse schrie: »Allen Gegenwärtigen tun wir kund und zu wissen, daß der edle Herr Beißkurz, Gerichtsbote seiner Majestät, soeben zum Oberstgewaltigen des Waffenwesens ernannt worden ist, in Anerkennung ...«

»Du Hund von einem Saufaus!« rief meine Großmutter, als sie Benjamin erblickte; und unfähig, der Erregung, die sie seit einer Stunde erstickte, länger zu widerstehen, stürzte sie aufs Pflaster nieder. Man mußte sie auf der Matratze nach Hause tragen, die sie für ihren Bruder bestimmt hatte.

Was diesen letzteren betrifft, so erinnerte er sich seiner Wunde erst am andern Tag, als er seinen Frack anziehen wollte; seine Schwester aber hatte ein heftiges Fieber. Sie war acht Tage gefährlich krank, und während dieser ganzen Zeit wich Benjamin nicht von ihrem Bett. Als sie wieder fähig war, ihn anzuhören, gelobte er ihr, daß er hinfürder ein geregeltes Leben führen wolle, daß er mit Entschiedenheit daran denke, seine Schulden zu bezahlen und zu heiraten.

Meine Großmutter war bald wieder hergestellt. Sie beauftragte ihren Mann, sich nach einer Frau für Benjamin umzutun.

Einige Zeit darauf, an einem Novemberabend, kam mein Großvater nach Hause, bespritzt bis ans Kreuz, aber strahlend.

»Ich habe etwas gefunden, was über alle unsere Erwartung geht«, rief der Prächtige, indem er seinem Schwager die Hände drückte; »Benjamin, nun bist du reich und kannst Fischragouts essen, soviel du willst.«

»Aber was hast du denn gefunden?« riefen meine Großmutter und Benjamin zugleich.

»Eine einzige Tochter, eine reiche Erbin, die Tochter des Vaters Minxit, mit dem wir vor einem Monat Sankt Yves gefeiert haben.«

»Des Dorfarztes, der den Urin beschaut?«

»Richtig! Er nimmt dich ohne weiteres, er ist bezaubert von deinem Geist; er hält dich für sehr geeignet, durch deine Verbindlichkeit und deine Redefertigkeit, ihm in seinem Geschäft zur Seite zu stehen.«

»Den Teufel!« knurrte Benjamin und kratzte sich den Kopf, »ich schwärme nicht gerade für Urinbeschauungen.«

»Ach was, du großer Kindskopf! Bist du einmal Vater Minxits Schwiegersohn, so wirst du ihn samt seinen Phiolen zum Kuckuck jagen und deine Frau nach Clamecy bringen.«

»Ja, aber die Jungfer Minxit ist rothaarig.«

»Sie ist nicht mehr als blond, Benjamin; ich gebe dir mein Ehrenwort darauf.«

»Sie ist so sommersprossig, als hätte man ihr eine Handvoll Kleie ins Gesicht geworfen.«

»Ich habe sie heute abend gesehn; ich versichere dich, es ist fast gar nichts.«

»Zudem hat sie fünf Fuß neun Zoll; ich fürchte wahrhaftig, die menschliche Rasse zu verderben; wir werden Kinder zuwege bringen, lang wie Hopfenstangen.«

»Was du da sagst, sind lauter schlechte Scherze«, warf meine Großmutter ein; »ich bin gestern deinem Tuchhändler begegnet, er will durchaus bezahlt sein, und du weißt wohl, daß dein Haarkräusler dich nicht mehr bedienen will.«

»Du verlangst also, teure Schwester, daß ich die Jungfer Minxit heirate; aber du weißt nicht, du, was das heißen will: Minxit. Und du, Beißkurz, weißt du's?«

»Gewiß doch weiß ich's; das will heißen: Vater Minxit.«

»Hast du Horaz gelesen, Beißkurz?«

»Nein, Benjamin.«

»Na also, Horaz hat gesagt: Num minxit patrios cineres. Dieses niederträchtige Perfektum ist es, was mich aufsässig macht: Herr Minxit, Frau Minxit, Herr Rathery, Benjamin Minxit, der kleine Johann Rathery Minxit, der kleine Peter Rathery Minxit – mit so einer Familie könnte man eine Mühle treiben. Und dann, offen gestanden, ich habe keine Lust zu heiraten. Es gibt zwar ein Lied, das sagt:

Ach, wie so wonnig
Sind die Bande der Ehe!

Aber dieses Lied weiß nicht, was es singt. Nur ein Hagestolz kann sein Verfasser sein:

Ach, wie so wonnig
Sind die Bande der Ehe!

Das wäre ganz gut und schön, wenn der Mann frei wäre in der Wahl seiner Gefährtin; aber die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zwingen uns immer, lächerlich und unseren Neigungen zuwider zu heiraten. Der Mann heiratet eine Mitgift und die Frau eine Profession. Dann, wenn man die Hochzeit mit ihren schönen Feiertagen hinter sich hat, wenn man in die Zurückgezogenheit seines Haushalts eingezogen ist, merkt man, daß man nicht zueinander paßt. Sie ist geizig, er verschwenderisch; die Frau ist gefallsüchtig, der Mann ist eifersüchtig; das eine liebt wie ein zartes Lüftchen, das andere wie ein steifer Wind. Man wünscht sich tausend Meilen auseinander, aber man muß in dem eisernen Ring leben, in den man sich eingeschlossen hat, und beisammenbleiben usque ad vitam aeternam.«

»Ist er grau«? sagte mein Großvater meiner Großmutter ins Ohr.

»Warum?« fragte diese.

» Weil er so vernünftig spricht.«

Nichtsdestoweniger brachte man meinem Onkel Gefügigkeit bei, und es wurde ausgemacht, daß er am morgigen Sonntag der Jungfer Minxit einen Besuch abstatten solle.


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