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Fünfzehntes Kapitel

Wie mein Onkel in seinen Patenverrichtungen gestört und ins Gefängnis gebracht wurde

Aber bald sah das Fest anders aus! Parlanta hatte von Gutfärb und dem Amtmann strikte Weisung erhalten, den Haftbefehl noch während der Feierlichkeit zu vollstrecken; er hatte seine Häscher im Vorhof des Gerichtsgebäudes in den Hinterhalt gelegt, während er selbst den Zug unter der Kirchentür erwartete.

Sobald er den Dreispitz meines Onkels sich aus der Altgasse herauf entwickeln sah, ging er auf ihn zu und forderte ihn im Namen des Königs auf, ihm ins Gefängnis zu folgen.

»Parlanta«, antwortete mein Onkel, »was du da tust, ist wenig den Regeln der französischen Höflichkeit entsprechend; könntest du nicht bis morgen warten, meine Beschlagnahme zu bewerkstelligen, und heute mit uns essen?«

»Wenn dir viel darauf ankommt, will ich warten; aber ich muß dir vermelden, daß die Anweisungen des Amtmanns ganz ausdrücklich sind und ich, wenn ich dagegen verstoße, Gefahr laufe, seinen Groll in diesem und im ewigen Leben auf mich zu laden.«

»Wenn dem so ist, tu deine Pflicht«, sagte Benjamin; und er bat Page, seinen Platz an der Seite der Jungfer Minxit einzunehmen; dann verbeugte er sich gegen diese mit aller Grazie, die seinen sechs Fuß drei Zoll zu Gebote stand:

»Sie sehen, mein Fräulein, daß ich gezwungen bin, mich von Ihnen zu trennen; ich bitte Sie, zu glauben, daß nichts Geringeres als eine Aufforderung im Namen Seiner Majestät mich dazu bringen kann. Ich hätte gewünscht, daß mich Parlanta das Glück dieser Feier bis zur Neige genießen lassen würde, aber diese Gerichtsvollzieher sind wie der Tod: sie packen ihr Opfer, wo immer es sich zeigt, sie reißen es vom Arm des geliebten Gegenstandes, wie ein Kind einen Schmetterling bei seinen zarten Flügeln vom Kelch einer Rose reißt.«

»Das ist für Sie und für mich gleich unangenehm«, sagte die Jungfer Minxit und machte ein gewaltig schiefes Maul; »Ihr Freund ist ein kleiner Mann, rund wie ein Nähstein, und trägt eine Perücke mit Puffen; ich werde an seiner Seite aussehen wie eine Meßstange.«

»Was soll ich machen?« erwiderte Benjamin trocken, von so viel Egoismus beleidigt, »ich kann weder Sie beschneiden noch Herrn Page strecken, noch ihm meinen Zopf leihen.« Benjamin nahm Abschied von der Gesellschaft und folgte Parlanta, indem er sein Lieblingslied pfiff:

Marlbrough zog aus zum Kriege,
Dideldum, dideldum, dideldum.

Auf der Schwelle des Gefängnisses blieb er einen Augenblick stehen, um einen letzten Blick auf die Gefilde der Freiheit zu werfen, die sich hinter ihm schließen sollten; er gewahrte seine Schwester, wie sie unbeweglich am Arm ihres Mannes stand und ihm einen verzweifelten Blick nachsandte; bei diesem Anblick zog er mit Heftigkeit die Tür hinter sich zu und sprang in den Hof.

Abends kam mein Großvater mit seiner Frau ihn besuchen; sie fanden ihn oben über die Stiege gelehnt, wie er den Genossen seiner Gefangenschaft den Rest seiner Zuckerbohnen hinunterwarf und wie ein Glückseliger darüber lachte, wie sie sich herumpufften, um sie zu erhaschen.

»Was Teufel machst du da?« sagte mein Großvater.

»Das siehst du ja«, antwortete Benjamin, »ich führe die Tauffeier zu Ende. Findest du nicht, daß diese Menschen, die sich da zu unsern Füßen wälzen, um ein paar fade Zuckersachen aufzulesen, treulich der Gesellschaft gleichen? Die armen Erdenbewohner, stoßen, treten, zerren sie sich nicht geradeso, um sich die Güter zu entreißen, die Gott unter sie wirft? Wirft nicht der Starke den Schwachen ebenso nieder, blutet und schreit nicht der Schwache ebenso? spottet nicht der, der alles genommen hat, von oben herab auf den, dem er nichts gelassen? und gibt nicht ebenso jener, wenn dieser sich zu beklagen wagt, ihm einen Tritt obendrein? Diese armen Teufel sind außer Atem, bedeckt mit Schweiß; ihre Finger sind gequetscht, ihre Gesichter zerschunden, keiner ist aus dem Kampf ohne eine Schramme hervorgegangen. Wenn sie mehr auf ihr vernünftiges Interesse gehört hätten als auf die wilden Instinkte ihrer Habgier, hätten sie nicht, anstatt über diese Zuckerbohnen als Feinde zu streiten, sie als Brüder teilen können?«

»Das ist möglich«, sagte Beißkurz; »aber trachte dich heute abend nicht allzusehr zu langweilen und diese Nacht gut zu schlafen, denn morgen früh bist du frei.«

»Wie das?« rief Benjamin.

»Wir haben nämlich«, antwortete Beißkurz, »um dich aus der Affäre zu ziehen, unsern kleinen Weinberg in Choulot verkauft.«

»Ist der Vertrag schon unterzeichnet?« fragte Benjamin ängstlich.

»Noch nicht«, sagte mein Großvater, »aber wir treffen uns heute abend, um ihn zu unterzeichnen.«

»Also denn! Du, Beißkurz, und du, meine liebe Schwester, gebt wohl acht, was ich euch sage: Wenn ihr euern Weinberg verkauft, um mich den Krallen Gutfärbs zu entreißen, so wird der erste Gebrauch, den ich von meiner Freiheit mache, der sein, euer Haus zu verlassen, und nie im Leben werdet ihr mich wiedersehn.«

»Es muß aber doch so sein«, sagte Beißkurz; »man ist Bruder, oder man ist es nicht. Ich kann dich nicht im Gefängnis sitzenlassen, wenn ich die Mittel in Händen habe, dich in Freiheit zu setzen. Du nimmst die Dinge wie ein Philosoph, aber ich bin kein Philosoph. Solange du hier bist, kann ich nicht einen Bissen Brot essen noch einen Schluck Wein trinken, der mir schmeckt.«

»Und ich«, sagte meine Großmutter, »glaubst du, ich könnte mich daran gewöhnen, dich nicht mehr zu sehn? Hat nicht gerade mir unsere Mutter dich auf dem Totenbett anvertraut? Habe ich dich nicht großgezogen? Betrachte ich dich nicht als das älteste meiner Kinder? Und diese armen Kinder, es ist ein Jammer, sie zu sehn; seit du nicht mehr bei uns bist, möchte man meinen, ein Sarg wäre im Haus. Alle wollten sie mitgehen, um dich zu sehn, und die kleine Nanette hat ihr Weißbrötchen nicht anrühren wollen, weil sie sagte, sie hebe es für ihren Onkel Benjamin auf, der im Gefängnis sei und nur trocknes schwarzes Brot zu essen habe.«

»Das ist zuviel«, sagte Benjamin, indem er meinen Großvater bei den Schultern hinauszuschieben suchte, »mach, daß du gehst, Beißkurz, und du auch, meine teure Schwester! Macht, daß ihr fortkommt, denn ich bin schon ganz schwach; aber ich sage es noch einmal: Wenn ihr euch bestimmen laßt, euern Weinberg zu verkaufen, um meine Schuld zu zahlen, so seh ich euch nie im Leben wieder.«

»Laß gut sein, lange Einfalt«, beschwichtigte meine Großmutter; »ist nicht ein Bruder mehr wert als ein Weinberg? Würdest du nicht für uns das tun, was wir jetzt für dich tun, wenn die Gelegenheit käme? Und wenn du reich bist, wirst du uns nicht helfen, unsern Kindern ihr Fortkommen zu ermöglichen? Mit deinem Stand und deinen Talenten kannst du uns hundertfach heimzahlen, was wir dir heute geben. Und was würde man von uns sagen, mein Gott! wenn wir dich hinter Schloß und Riegel ließen für eine Schuld von fünfzig Talern? Komm, Benjamin, sei ein guter Bruder! Mach uns nicht alle unglücklich, indem du dich darauf versteifst, hierzubleiben.«

Während meine Großmutter redete, hatte Benjamin sein Gesicht zwischen den Händen verborgen und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken, die unter seinen Lidern hervorbrachen.

»Beißkurz«, stieß er plötzlich hervor, »ich kann nicht mehr! Laß mir von Boutron, dem Schließer, einen kleinen Bittern bringen und laß dich küssen. Sieh«, sagte er, indem er ihn an die Brust drückte, daß er hätte schreien mögen, »du bist der erste Mann, den ich küsse, und seit ich das letztemal die Rute bekam, sind das die ersten Tränen, die ich vergieße.« Und in der Tat, er löste sich in Tränen auf, mein armer Onkel; aber nachdem der Gefängniswärter zwei Gläschen Bittern gebracht, hatte er das seine nicht so bald geleert, als er wieder gefaßt und heiter wurde wie ein Maihimmel nach einem Regenschauer.

Meine Großmutter suchte ihn aufs neue zu erweichen; aber er blieb kalt bei ihren Worten wie ein Gletscher unter den Strahlen des Mondes.

Das einzige, was ihm zu schaffen machte, war, daß der Gefängniswärter ihn hatte weinen sehen; es mußte also dabei bleiben, daß Beißkurz seinen Weinberg behielt, ob er wollte oder nicht.


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