Ludwig Tieck
Der Geheimnisvolle
Ludwig Tieck

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In der nächsten Stadt schrieb Kronenberg an den Baron Wildhausen und dessen Sohn. Im Brief an den ersten stand unter andern folgendes: »Atheisten, mein verehrter Freund, sind diese Leute wohl nicht zu nennen; aber freilich kümmern sie sich nur wenig um Gott oder Menschen. Die Tochter kann in einer glücklichen Ehe anders und besser werden, vorzüglich wenn es möglich ist, sie von der Langeweile zu erlösen, welche die ganze Familie zu Grunde richtet und sich auch dieser jungen Seele bemeistert hat. Ich bin aber überzeugt, daß ein so gründlicher Verstand als der Ihrige sie am ersten wiederherstellen kann, wenn sie noch irgend zu retten ist. So hoch, wie ich nach Ihrer Schilderung glauben mußte, wird die französische Litteratur von diesen Leuten gar nicht gestellt; sie tolerieren sie nur, wie sie es auch mit der grönländischen und japanischen thun würden, und Ihre verehrte Frau Gemahlin möchte eben an dieser geringschätzenden Gleichgültigkeit das größte Ärgernis nehmen.«

»Was Deine Geliebte betrifft« (so stand im Briefe an den Sohn), »so kann ich mir unmöglich denken, daß Du mit dieser glücklich sein würdest. Indessen läßt sich dergleichen freilich nicht berechnen. Ich besorge nur, wenn es noch einmal dahin kommt, Du mußt einen sehr trivialen Spaßmacher mit in den Kauf heiraten, der dem Seelenheile des Fräuleins bis jetzt noch unentbehrlich scheint. Er ist dieser Familie, was die Unruhe der Uhr – und gewiß, wenn sie von ihm nicht immer aufgezogen wird, so steht sie gar still. – Von mir mag ich kaum mehr sprechen, so lästig fängt mir an, der Umgang mit mir selbst zu werden. Ich fürchte, das Glück, welches ich in der Jugend so mutwillig verscherzt habe, wird mir niemals wieder entgegenkommen. Eine gewisse Summe von Erfahrungen ist jedem Menschen bestimmt; ich habe diese vielleicht schon früh vollständig empfangen und wie der verlorne Sohn zwecklos ausgegeben. Lange hätte ich wohl davon zehren sollen und muß nun um so früher beschließen.«

Er siegelte die Briefe. Sein Pferd war schon vorgeführt, weil er im Augenblicke abreisen wollte. Da eilte der Kellner noch herauf und rief: »Gnädigster Herr, da unten ist der junge Graf von Burchheim, der Sie in einem wichtigen Geschäfte sprechen will.« Kronenberg verfärbte sich. »So habe ich ihn doch nicht vermeiden können«, sprach er leise zu sich selbst; »es sei! Dies löst vielleicht in einem Augenblicke, woran ich sonst wohl noch viele Jahre hindurch aufzuwickeln hätte.« Er ging hinab; der Fremde zeigte sich nicht. Nachdem Kronenberg ein Weilchen gewartet hatte, bestieg er sein Pferd. »Wo ist Graf von Burchheim?« rief er noch einmal zum Fenster hinauf. »Hier!« rief jemand hinter dem Thorwege hervor, und im nämlichen Augenblicke sprang auch der junge Wehlen lachend zum Reiter hin. Dieser aber, im äußersten Grade zornig, holte mit der Reitgerte aus und gab mit dieser dem Spötter einen Hieb ins Gesicht. Wehlen, diese Begegnung nicht vermutend, sprang erst zurück, gab aber dann mit einem Stocke dem Pferde, das schon davonsprengte, einen so derben Schlag, daß es sich in seinen schnellsten Lauf setzte und mit Lebensgefahr des Reiters durch die Gassen und das Thor rannte. Die ganze Stadt geriet in Aufruhr und gab den jungen Mann verloren. Im Freien setzte das Tier über den Graben am Wege, rannte durch frisch geackertes Feld und stürzte endlich ermattet nieder. Kronenberg besann sich bald, half dem Gaule wieder auf und suchte über Wiesen, Fußstege und durch Wald die Landstraße wieder zu gewinnen.

Bei heiterm Sonnenwetter streifte er durch die schönen Gegenden, hielt sich zuweilen in den Städten länger auf, machte Bekanntschaften, verweilte an den Badeorten und suchte sich zu beschäftigen und zu zerstreuen. Jetzt war er in die Thäler eines romantischen Gebirges eingedrungen, und der Wechsel von Wald und Berg, Hügel und Wiese ergötzte ihn innig. Nur mußte er sich gestehn, daß das Verhältnis, in welchem er zu seinem Pferde stand, immer lockerer zu werden drohe; er konnte sich nicht verschweigen, daß das Tier fügsamer und verständiger gewesen sei, da er es erst überkommen. Keine der alten Tücken war ihm abgewöhnt worden; es hatte sich seitdem viele neue angeeignet und war jetzt in manchen Stunden kaum zu bezähmen. Im stillen war Kronenberg schon mit sich übereingekommen, es bei einer vorteilhaften Gelegenheit zu verkaufen oder umzutauschen.

Am heutigen Tage war das Wetter besonders warm, und der abenteuernde Reisende fühlte sich wieder wohl und zufriedener, als er seit einiger Zeit mit sich selber gewesen war. »O du liebliche Natur«, sagte er fast laut, indem er langsam an Hügeln und Rebengeländern hinritt, »wie hast du doch Balsam und Trost für jeden Schmerz! O du erhabenste Lehrerin! Wer nur immer fähig und offenen Sinnes genug wäre, deine Worte zu vernehmen und zu verstehen! Wie bist du so lauter und so wahr! Vom heitern Himmel weht und tönt die reine Liebe, aus dem Walde klingt ein heiliges Rauschen, die Wässer plaudern mit süßer Geschwätzigkeit, die Bergströme brausen, und über Flur und Wiese und Wald weht ein Geist der Eintracht, Lauterkeit und Wahrheit. Die Tiere, die Vögel, das schwimmende Geschlecht, sie alle sind und bleiben ihrem Berufe getreu. Kaum, daß der hochbeinige Storch dort am Weiher mit seinem abgemessenen Gange etwas mehr Gravität affektiert, als er gerade nötig hätte, und die kleine Bachstelze mit einiger übertriebenen Munterkeit hin und her wippt und für witziger angesehen sein will, als ihr wohl zu Mute sein mag. Aber der Mensch – der arme Mensch! Kaum ist ihm die Zunge gelöst, so umfängt ihn schon im ersten Lallen die Lüge und läßt ihn auch nicht wieder los; selbst seine innersten Gedanken werden unwahr, seine Pulse heucheln, und er verliert im Labyrinth der Zweifel, der Entschuldigung, des Aufputzes, der Eitelkeit sich selbst. Und doch ist es so bequem, ehrlich und wahr zu sein. Die Sache selbst, wenn die Lüge kaum Schatten zu nennen ist. Hat denn wohl Affektation und durch Lüge erzwungenes Lob und Bewunderung meinem Herzen nur einige der Schmerzen, der Vernichtungen vergüten können, die es erdulden mußte, wenn man meiner Armseligkeit auf die Spur kam oder sie ganz entdeckte? Ja, von heut', von jetzt an will ich allen Täuschungen entsagen und das Leben selbst finden, das sich mir bisher immer hinter Schattengebilden verborgen hielt.«

Er sah in der Ferne einen angenehmen Landsitz vor sich liegen: ein geräumiges Haus, ziemlich in altem Stil gebaut, daneben ein Obst- und Gemüsegarten, Springbrunnen und hinten ein großer Park, das Ganze mit einer Mauer umschlossen. Als er näher kam, bemerkte er, daß die Landstraße links vor dem Hause neben der Mauer vorbeiführe; aber das große Thor in dieser war ganz geöffnet, und durch dieses übersah er schon den innern Hof. Auf einer großen Rampe des Schlosses waren viele Menschen versammelt; er unterschied einige hübsche Mädchengesichter; es that ihm schon leid, daß er nicht mit Schicklichkeit über den Hof reiten dürfe, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Als wenn sein Pferd diesen seinen Gedanken gefühlt hätte und ihm seinen Wunsch erleichtern wollte, setzte es sich jetzt, von seinen Tücken bestochen, in das stärkste Rennen und damit gerade auf den Thorweg zu. Sowie die versammelte Menschenmasse auf der breiten Treppe das bemerkte, sprangen einige von dieser herab; alle aber streckten die Arme aus und riefen: »Vetter! Kousin! teurer Vetter! Endlich da!« – Das Roß, von dieser Bewillkommnung aufgemuntert, achtete nun nicht mehr des Zaums und der Sporen, sondern stürzte schnell weiter, und schon war, allem seinen Ablenken zum Trotz, der beschämte Kronenberg im Hofe. Das Freudengeschrei der eingebildeten Verwandten nahm zu, und der geängstete Reiter fürchtete, das Pferd würde nun ebenso toll und blind mit ihm zu dem Thorwege gegenüber hinaussetzen und die schnell enttäuschte Vetterschaft der zu rasch vorübereilenden Erscheinung ein schallendes Gelächter nachsenden. Um dies zu verhüten, wandte er alle Mittel an; er wollte halten, die Gesellschaft um Verzeihung bitten und dann im ruhigen Schritt weiter reiten. So hatte er beschlossen, aber ganz ein anderes sein unbezähmbares Roß. Dieses bäumte, sprang von der Seite, und da Kronenberg jetzt selbst die kalte Fassung verlor, schlug es mit ihm über und warf ihn im Fall gegen den steinernen Brunnen des Hofes. Blut rann ihm in die Augen, und das letzte, was er hörte, war ein gellender Aufschrei. Alle liefen hinzu, aber schon war um ihn Nacht – er hatte die Besinnung verloren.


Jene große Begebenheit, welche Deutschland völlig zu vernichten schien, war indessen eingetreten. Alle Dinge veränderten plötzlich ihre Gestalt, und man konnte voraussehn, daß binnen wenigen Jahren auch jene Einrichtungen, die für jetzt noch bestanden, dem neuen Geiste würden weichen müssen. Eine allgemeine Lähmung hatte die Gemüter ergriffen. Denn bei einer so ungeheuren und schnellen Umkehrung fühlen die meisten Menschen ihr Unglück weniger, als wenn sie vorbereitet zu sein scheinen und allgemach von der gewohnten Lage scheiden sollen. Die Notwendigkeit ist eine strenge Lehrerin, und man gesteht sich selber nicht, wie unbedingt man ihr folgt, da sie keine Einrede annimmt und keinen Aufschub gestattet. Waren die Patrioten einer Verzweiflung hingegeben, in der sie fast wie im Sturm alle übrigen Güter schnell mit dem Leben hätten über Bord werfen mögen, so triumphierten dagegen die Neuerungssüchtigen und konnten eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen, daß nun wenigstens alles das würde weichen müssen, wogegen sie so oft und manchmal vor tauben Ohren gepredigt hatten. Der gemeine Mann war betäubt; er litt und klagte, ohne viel zu denken, und Greise, die sich für erfahrner hielten, meinten unschuldig genug, dieser Krieg würde wie frühere mit allen seinen Folgen vorübergehn und dann den Dingen wieder Platz machen, die er nur auf einen gewissen Zeitraum verdrängt habe.

Manche Woche hindurch hatte Kronenberg auf seinem Krankenbett gelegen und weder von großen noch kleinen Begebenheiten Kunde empfangen; denn sein Bewußtsein war noch immer nicht zurückgekehrt, und der Arzt hatte ihn mehr wie einmal für verloren gehalten. Der Kranke sprach nicht und schien auch weder zu sehn, noch zu hören. Die ganze Familie war abwechselnd um ihn beschäftigt, am gütigsten die Mutter, die in seiner Pflege unermüdlich war. Dies war um so verdienstlicher, da der große Haushalt, dem sie selber vorstand, schon ihre ganze Thätigkeit forderte; um so mehr jetzt, da das Gut von täglichen Durchmärschen und Einquartierungen geplagt wurde. Oft war das große Haus so besetzt, daß das Getümmel sogar bis in die abgelegene Krankenstube drang, und wenn selbst die Wärter sich oft ängsteten, so ging dem Betäubten wenigstens für jetzt alle diese Unruhe unbewußt vorüber. Die Töchter des Hauses sowie der Vater sahen den Leidenden oft, den sie für ein Mitglied ihrer Familie hielten; aber manche gern gesehene Besuche aus der Nachbarschaft sowie Reisende, am meisten aber die unwillkommenen Gäste störten und schwächten die Teilnahme, die sich für den Kranken ohne diese Umstände noch stärker würde ausgesprochen haben.

Der erste Schnee fiel wieder. Der Arzt und die Gräfin waren nebst der Wärterin und einem alten Diener in der Krankenstube zugegen. Da erhob sich der Kranke plötzlich im Bett, setzte sich aufrecht, betrachtete die Umstehenden und schaute dann nach dem Fenster, das nur halb mit den Vorhängen verhüllt war. »Ha!« rief er aus, »ist die Equipage noch nicht da? Ich fürchte, der Christoph wird mit der Bärenmütze und seinem Schafpelz ganz allein ankommen; aber sorgen Sie doch wenigstens für den edlen Unbekannten dort in seinem Stübchen – ich will ja gerne alles vergüten, Frau Wirtin.«

»Himmel!« rief die Gräfin, »er hat den Verstand verloren.« – »Er phantasiert wohl nur«, meinte der Arzt; doch da er den Puls des Kranken untersuchte, zweifelte er auch daran und meinte, diese Reden entständen vielleicht nur durch Erinnerungen, die in Krankheiten oft plötzlich hervortreten, indessen andere, zwischenliegende Zustände auf lange wie verschüttet wären. So war es auch mit dem Patienten, der immer noch in jenem Gasthofe zu sein glaubte, in welchem er im ersten Frühjahr die Nachricht von seinem Freunde Wildhausen erwartet hatte; vielleicht war es das Schneegestöber, welches gerade diese Momente wieder hervorrief. Der Arzt erklärte ihn übrigens für gerettet und meinte, mit den zunehmenden Kräften würde das Gedächtnis auch wieder nach und nach zurückkehren.

Am folgenden Tage fand der Arzt den Kranken schon um vieles besser. Er konnte seine Erinnerungen schon deutlicher und sicherer verknüpfen; nur wie er hieher gekommen sei, unter welchen Umständen, dies blieb ihm noch völlig dunkel. »Nächst dem Himmel«, sagte der Arzt, »haben Sie der verehrungswürdigen Gräfin Ihre Rettung zu danken; eine solche mütterliche Pflege vermag mehr als alle Ärzte.« Die Gräfin kam wieder und leistete dem Patienten Gesellschaft, als der Doktor sich entfernt hatte. Sie freute sich, ihn gerettet, ihn selbst schon in der Besserung zu finden. »Aber«, rief Kronenberg, »wie komm' ich nur hierher? Wie verdiene ich diese Güte? Wer sind Sie, Verehrte? Wie kann ich nur danken für alle diese Liebe?«

»Schweigen Sie«, antwortete die Gräfin, »der Arzt hat Ihnen das Reden noch strenge verboten. Können Sie Ihre Erinnerung denn immer noch nicht sammeln, daß wir Sie, teurer Vetter, schon seit lange erwarteten? Endlich schreiben uns entfernte Verwandte, welchen Tag Sie eintreffen werden; Sie erscheinen, und indem wir Ihnen schon die Arme entgegenstrecken, wirft ein entsetzliches Schicksal Sie blutend, zertrümmert vor unsere Füße hin. Was wir dabei gelitten, können Sie ermessen – ich, mein Mann, alle meine Kinder, die wir uns so herzlich auf Ihre Bekanntschaft freuten. Von Cäcilien will ich gar schweigen.«

»Cäcilie?« rief der Kranke, wie entsetzt: »sie ist hier?«

»Wo sollte sie sonst sein?« fuhr die Gräfin fort. »Doch davon, wenn Sie besser sind. Das arme Mädchen hat unendlichen Kummer geduldet. Wie sonderbar, wie schmerzhaft haben wir uns müssen kennen lernen.«

Durch öftere Besuche, sowohl vom Arzt wie von der Familie, konnte der Leidende endlich sich soviel zusammensetzen, daß man ihn für einen Baron Feldheim halte, den man an jenem Tage erwartet habe. Er mußte vermuten, daß es ein Plan gewesen sei, ihn mit der ältesten Tochter dieses gräflichen Hauses Werthheim zu verbinden. Er lernte nach und nach alle Mitglieder der Familie kennen, und als er sich schon wohler fühlte, besuchten ihn selbst die Töchter auf Augenblicke, und diese sowie die Söhne fand er liebenswürdig; die Eltern mußte er verehren, aber eine selige Empfindung durchdrang ihn, wenn er auf Minuten Cäcilien erblickte; denn ihm war alsdann, als wenn sich eine himmlische Erscheinung seinem Lager nähere.

Die Krankheit machte es ihm unmöglich, viel über seine sonderbare Lage nachzudenken, noch weniger über sie zu sprechen; er ließ sich also schweigend alle Pflege und die herzliche Liebe gefallen, die ihm mit dem natürlichsten Ausdrucke entgegengebracht wurde. In einsamen Stunden nahm er sich vor, den Irrtum, in welchem alle befangen waren, aufzuklären, sowie er sich nur stärker fühlte; aber er schauderte schon jetzt vor diesem Augenblick und ließ also im wohlthuenden Leichtsinn Stunden, Tage und Wochen hinschwinden. Wenn ihn sein Gewissen mahnte, so beschwichtigte er es mit der schwachen Ausrede, daß er diesen Zustand nicht herbeigeführt habe, daß er den Irrtum nicht ersonnen, die Familie also auch nicht hintergangen habe.

»O Cäcilie!« sprach er in einer stillen Nacht zu sich selber; »jetzt bist du gerächt, denn dieser Engel hier zerreißt mir Herz und Seele; ich kann nicht gesunden; ich kann nicht bleiben und nicht reisen. Ach, welch ein armer, elender Mensch, wie nichtig bin ich doch zeit meines Lebens gewesen! Kann nicht Reue, ernster Wille alles wieder gut machen? Ja, ich fühle neue Kräfte in meinem Innern erwachen; vielleicht ist mir noch nicht alles Heil verloren.«


Mit den zunehmenden Kräften kehrte dem Kranken immer mehr die Erinnerung zurück. Er durfte es jetzt schon wagen, anfangs nur auf kurze Zeit, die Wohnzimmer und den Saal zu besuchen, in welchem die ganze Gesellschaft zuzeiten versammelt war. Das erste Mal war Kronenberg einer Ohnmacht nahe, als er bei den vielfachen Reden, unter den verschiedenartigen Gestalten, auch seinen Teil am Gespräch nehmen und durchführen sollte. Die Familie, welche er schon kannte, war zugegen; Cäcilie saß einsam an einem Fenster und leuchtete ihm wieder wie eine Erscheinung entgegen; die zweite Tochter, blond und voll und immer heiter, spielte mit einem alten, mürrischen Offizier der Fremden Schach. Die Mutter erklärte dem Kranken, es geschähe hauptsächlich, um diesen bösen Menschen, der als Kommandant auf diesem Schlosse wohnte, in guter Laune zu erhalten. Die jüngste Tochter, Leonore, sprach mit einem jüngern, sehr höflichen, feinen Franzosen, und die beiden Brüder hatten sich dieser Gruppe ebenfalls zugesellt, um den Fremden von seinen Feldzügen erzählen zu hören. Die Mutter, mit ihrer Arbeit beschäftigt, sprach mit einem Musiker, einem Freund des Hauses, der oft zum Besuch hinkam und als geistreicher Freund besonders in diesen bedrängten Zeiten der Familie fast notwendig geworden war. Der Vater ging ab und zu und war oft im Gespräch mit einem stillen jungen Manne, einem entfernten Verwandten des Hauses, dem auch Cäcilie viele Aufmerksamkeit schenkte, indes der Musiker ihn oft mit scheelen Blicken von der Seite betrachtete.

Natürlich gratulierten alle dem Genesenden, und die vielen Danksagungen, die Rührungen, die er erwidern, die vielseitigen Teilnahmen, auch der ganz Fremden, die er beachten mußte, dies alles erschöpfte ihn so, daß er kaum zu diesen Anstrengungen die gehörigen Kräfte aufbieten konnte. Man bedachte nicht, daß es für den Schwachen die größte Aufmerksamkeit sein würde, ihm Ruhe zu gönnen. Doch war alles leichter zu überstehen als die Zärtlichkeit eines alten greisen Mannes, der nicht müde werden konnte, ihn zu umarmen, ihn gerührt und mit Thränen an seine Brust zu drücken und mit zitternder Stimme zu erzählen, wie sehr er an jenem Tage erschrocken sei. Er ward endlich fast mit Gewalt entfernt, und die Mutter sagte halb scherzend: »Sie müssen meinem guten alten Bruder schon verzeihen; er macht freilich die Verwandtschaft etwas zu sehr geltend; man muß ihn bei seinem Alter schon gewähren lassen.«

Als Kronenberg länger im Saale blieb, bemerkte er, durch Krankheit und lange Entfernung von den Menschen an allen Sinnen geschärft, daß der junge Verwandte, Emmerich, eine Leidenschaft für Cäcilien zu verbergen suche und dies um so mehr, da der Musiker jeden seiner Blicke bewachte; Cäcilie schien dem Liebenden mit einer gewissen Ängstlichkeit auszuweichen und ergriff die erste Gelegenheit, sich recht vertraut zum Kranken hinzusetzen, um viel und angelegentlich mit ihm zu sprechen. In diesem Gespräch entwickelte sie den Reiz eines schönen Gemütes, die Rührung eines Herzens, das bis dahin noch keinen gefunden hatte, dem es ganz im vollen Vertrauen entgegenkommen konnte. Kronenberg fühlte sich beschämt, da er nicht begriff, wodurch er diesen Vorzug verdiene; aber doch war ihm im Leben noch nie so wohl geworden. Der jüngere Offizier näherte sich ihnen ebenfalls und sprach so freundlich zu Kronenberg, als wenn er diesen schon seit vielen Jahren gekannt hätte, Cäcilie nahm die erste Gelegenheit wahr, sich zu entfernen. Als sich hierauf der Musiker in das Gespräch mischte und auf bittere Weise von den Mitgliedern der Familie sprach, ward Kronenberg ängstlich und wünschte sich zu entfernen. Aber bald gewann alles eine andere Gestalt, denn Adjutanten sprengten vor das Schloß und meldeten, daß der Marschall auf seiner Reise für diese Nacht hier einkehren werde. Die Offiziere gingen ihm entgegen, der Herr des Hauses ward gerufen, alles geriet in Bewegung, und nach einiger Zeit erschien ein stattlicher Mann, der höflich und mit feiner Lebensart den Grafen und die Gräfin begrüßte und diese, da schon angerichtet war, zur Tafel führte. Sein Betragen war so fein, daß er niemand in Verlegenheit setzte; vielmehr fühlten sich alle behaglicher als gewöhnlich, und alle waren in unbefangener Heiterkeit auch liebenswürdiger als sonst. Nach aufgehobenem Tische benutzte Kronenberg die allgemeine Verwirrung, um sich unbemerkt wieder auf sein einsames Zimmer zurückzuziehn, Erschöpft warf er sich auf das Bett und überdachte seinen sonderbaren Zustand. Noch niemals in seinem Leben war ihm so wohl und weh gewesen: ihm dünkte, er sei noch niemals mit Menschen umgegangen; alle seine bisherigen Bekannten und Freunde erschienen ihm nur als hohle Larven, die er nicht begriff, und die ihn nicht verstanden, bei denen es sich auch des Verständnisses nicht verlohnte. Glaubte er doch auch erst jetzt aus einem dumpfen Schlafe erwacht zu sein, der bis dahin alle seine Sinne gefesselt hatte. Wenn ihm die Freundlichkeit der übrigen Menschen nur als eingelernte Grimasse erschien, so lernte er jetzt erst fühlen, was Vertrauen, Glauben und Liebe sei. »Und doch«, fuhr er in seinen Betrachtungen fort, »ist es vielleicht nur eine kranke Stimmung, die mir die Dinge in diesem Lichte zeigt, und eine künftige Gewöhnlichkeit wird mich wohl wieder eines andern belehren und hofmeisternd meinen jetzigen Zustand Überspannung schelten. Und kann ich denn diese zarte Liebe, dieses holde Entgegenkommen mir aneignen? Gilt es denn nicht vielmehr einer erlogenen Maske, einem unbekannten Fremden? Wie qualvoll ist mein Zustand, daß ich nicht der sein darf, der ich seit dem Erwachen meiner bessern Kräfte sein möchte!«

Indem er so mit sich selber schalt und eine Wehmut sich seines ganzen Wesens bemächtigte, hörte er leise an seiner Thür, die er verschlossen hatte, rascheln. Nicht lange, so ward ein Schlüssel umgedreht, vorsichtig, aber doch mit einigem Geräusch, und sie öffnete sich. Kronenberg, von einem Schirme verdeckt, konnte das ganze Gemach überschauen. Der alte Verwandte, der ihm heut' mit seiner Zärtlichkeit so lästig gefallen war, trat leise herein! »Nun ist er doch einmal in der Gesellschaft«, flüsterte er für sich. Er sah sich behutsam um; dann ging er an den Schrank, öffnete die Schubladen und kramte in der Wäsche und den wenigen Büchern. Der Mantelsack, der im Winkel lag, entging seiner Aufmerksamkeit nicht; aber diesen fand er leer, »Er hat auch«, sprach er wieder zu sich selber, »verdammt wenig Sachen bei sich: hätte mein Schwager nicht sein Geld aufgehoben, so könnte man ihn für einen armen Schlucker halten. Und keine Brieftasche! keine Papiere! keine Schatulle!« Er wiederholte seine Nachforschung, und da er wirklich nichts weiter entdecken konnte, entfernte er sich mit einem unzufriednen Gemurmel. – Kronenberg, der mit stummem Erstaunen diesen unvermuteten Besuch angesehen hatte, dachte noch lange über dessen Bedeutung nach, bis ihn endlich ein wohlthätiger Schlummer von diesen sowie allen übrigen Betrachtungen befreite.


Am folgenden Morgen traf Kronenberg den Musiker allein im Saal. Er konnte sich nicht enthalten, ihm die gestrige sonderbare Begebenheit mitzuteilen. »O«, rief jener aus, »über dergleichen müssen Sie sich gar nicht wundern, denn das kann Ihnen noch oft begegnen. Dieser alte Baron Mannlich, der Bruder der Gräfin, hat in seinem Müßiggange, der ihm Langeweile macht, nicht eher geruht, bis er sich einen Hauptschlüssel zuwege gebracht hat; wie er die Gäste des Hauses spricht, so hält er es auch für notwendig, ihr Zimmer, wenn sie nicht zugegen sind, genau zu untersuchen. Und Gnade dem, der irgend Papiere und Briefe umherliegen läßt! Denn er nimmt sie mit, um sie zu studieren und gelegentlich zu verlieren, oder sich die dunkeln Stellen vom Schulmeister erklären zu lassen. Auf elegante Kleinigkeiten, wie Nadelbüchsen, Scheren, Riechfläschchen, macht er ordentlich Jagd und hat davon schon wirklich ein Arsenal angelegt, aus welchem er manchmal bedürftige Kammerjungfern unterstützt, um sich ihrer Dankbarkeit zu erfreuen.«

Kronenberg mußte lachen. Der Name Mannlich schien ihm bekannt, doch konnte er sich nicht erinnern, wo er ihm vorgekommen sei. Der Musiker, welcher einmal ins Sprechen geraten war, fuhr, auch unaufgefordert, in seiner Schilderung der Familie fort: »Sie, mein Herr von Feldheim«, sagte er mit bitterm Ausdrucke, »haben den Weg gefunden, sich der Liebe der Gräfin, wenn Sie auch nicht ihr Verwandter wären, auf ewig zu versichern. Wo die alte gute Dame nur pflegen und wohlthun kann, da ist sie in ihrem Elemente; sie spielt so gern den Doktor, und da ich ihre Leidenschaft kenne, so fingiere ich zuzeiten eine Unpäßlichkeit, vorzüglich nach einem kleinen Gezänk (denn sie kann mich eigentlich nicht leiden), um mich nur wieder in Gunst zu setzen. Aber freilich, so mit ganz eingeschlagenem Kopf, unter einem zerschmetterten Pferde tot und ohnmächtig liegen, aus Stirn, Nase und Auge bluten, heißt die Sache ins Große spielen, und dagegen nehmen sich meine kleine Hülfsbedürftigkeiten nur armselig aus.«

»Es scheint mir grausam«, sagte Kronenberg empfindlich, »diesen schönen Trieb ins Lächerliche ziehn zu wollen.«

»So?« antwortete der Musikus; »Sie sind wohl auch human, empfindsam und sentimental? Lassen Sie sich von aller Welt kurieren und verweichlichen, ich habe gar nichts dagegen; ich sage ja nur, Ihr Auftritt hier im Hause oder Ihr Hereinfall in die Familie war eben durch diesen Unfall auffallend genug, und die Gräfin genoß trotz ihres Schrecks die Freude, alle ihre Künste an Ihrem Leichname entwickeln zu können. Sie möchte die Töchter auch gern zu Wohlthäterinnen erziehn – die halten es aber mehr mit den gesunden Männern, und bei denen haben Sie sich durch Ihre Krankheit nicht so sehr empfohlen. Die beiden jüngern Gräfinnen sind voll Übermut und Schalkheit, gefallen sich nur, wenn sie andern gefallen, und schonen mit ihren Reizen weder Feind noch Freund. Welch Lamentieren, welch Schelten, welch patriotisches Verzweifeln, als die Schlacht verloren war! Sie wollten bis Norwegen und Grönland flüchten, um nur keinem von diesen verruchten Feinden in sein undeutsches Auge sehen zu müssen. Und jetzt! Sidonchen gefällt sich außerordentlich in der Gesellschaft des jungen, freundlichen Majors; sie nimmt alle seine Huldigungen mit Freuden an und ist verdrüßlich, wenn sie ihn einen Tag nicht sieht. Und die kleine Leonore hilft ihrer verständigen Schwester treulich, den liebenswürdigen tapfern Mann bewundern. Wenn wir Musik machen, geschieht es eigentlich nur seinetwegen; seine Favoritstücke, die gemeiniglich die schlechtesten sind, müssen vorgetragen werden; er schmeichelt und lügt, und sie verehren, heucheln und bewundern. Das ist so der Lauf der Welt.«

»Aber der Vater? Unmöglich kann er ein solches Verhältnis gern sehn.«

»Es ist auch nichts Ernsthaftes«, erwiderte jener, »die liebe, leidige, beseligende Koketterie, das, was bei den meisten Mädchen das Glück ihrer Jugend macht! Und der alte Herr ist so gut und brav, so ohne Arg, daß er nur heiter ist, wenn seine Kinder gefallen. Er hat seinen Zorn gegen die Franzosen, die er nicht begreift, auch beiseite packen müssen und sucht wieder seine feinen Redensarten hervor, die er seit lange vergessen hatte. Er kann es aber doch nicht lassen, jede Einquartierung mit seinen deutschen Drohungen und der Schilderung unserer Tapferkeit zu erschrecken, die ihn immer heimlich oder öffentlich verlacht. Darum ist auch jener Tückmäuser, der blasse Anverwandte, sein Liebling, weil der manchmal den Dämpfer vom Instrument nimmt und in recht lauten und heroischen Tönen seinem Widerwillen Luft macht. Der prophezeit uns allen und den Fremden zugleich sehr oft den Fall Frankreichs und das Wiedererwachen unserer Nation. Der junge Major Duplessis lacht nur darüber, aber der alte mürrische Kapitän Liancourt runzelt oft gewaltig die Stirn, und zwischen ihm und Emmerich wird es gewiß einmal etwas geben; auch wäre es wohl schon geschehn, wenn der älteste Sohn, Konrad, nicht so oft mit dem Franzosen auf die Jagd ginge und der jüngste, Anton, nicht mit ihm auf seine läppische Weise schäkerte. Die jungen Herren konnten auch erst nicht Haß genug gegen die Feinde in allen Winkeln ihres Wesens auftreiben, und nun sind ihnen diese und täglich neue Besuche so notwendig, daß sie ohne sie vor Langeweile nicht aus noch ein wüßten.«

»Sie haben nun«, sagte Kronenberg, »die ganze Familie charakterisiert und nicht mit liebevoller Hand gezeichnet; nur Cäcilien erwähnen Sie nicht.«

»Weil diese gar nicht zu den andern gehört!« rief der Musikus bewegt und zornig aus; »weil dieses alberne Wesen, die gar nicht weiß, was sie will, wie eine Erscheinung aus dem dritten Himmel ist. Sie sieht und hört nicht, was um sie vorgeht, sie liebt und haßt nicht, sie ist zu schön, so daß man verzweifeln möchte, und sie weiß von ihrer Schönheit so wenig Gebrauch zu machen, daß sie wie ein einfältiges Kind herumwandelt. Ei, dieses Wesen, diese Augen, diese Stimme – ja, das Herz könnte sie mir umwenden und einen andern Menschen aus mir machen. Aber Liebe? – Nein, sie läßt sich nicht träumen, daß es dergleichen geben könne, wenn nicht in ihrem innersten Herzen eine dumme Verehrung für jenen ernsthaften und langweiligen Vetter wohnt, dem ich wünschte, daß er noch schlimmer da draußen gegen den Brunnen stürzen möchte, um niemals wieder aufzustehn.«

Mit wilden Gebärden rannte der grimmige Mensch fort, und Kronenberg fühlte, wie bei der letzten Äußerung ein empfindlicher Schmerz durch seinen Busen zuckte. Er fürchtete, daß Cäcilie wohl schon lieben könne, vielleicht ohne es zu wissen, und ein Gefühl von Verzweiflung tauchte in ihm auf: seine Nichtigkeit ergriff ihn, und er sehnte sich fort in die Weite, ja in den Tod, um nur diese Bedrängnis von sich zu schütteln. Der alte Graf Werthheim überraschte ihn und störte seine Gedanken. Er erzählte vom Marschall, dessen Erscheinung ihm in dieser traurigen Zeit eine reine Freude gewährt hatte. Dieser schon bejahrte Mann hatte das Unglück des Landes empfunden und ebenso mild als verständig über die neuesten Begebenheiten gesprochen. Der Graf war gerührt, daß er bei Feinden gewissermaßen mehr Trost finde als so oft bei Eingebornen, ja nahe Befreundeten; denn seine eignen Söhne waren, wie er klagte, nur selten, vom Geschwätz jenes Musikers verleitet, mit ihm einig. Denn es gibt Güter, die sich oft, eben weil sie unsichtbar und die höchsten sind, der Schätzung der Menge entziehn; dagegen diese gewöhnlichen Menschen so oft andere erringen wollen, deren Wert sie viel zu hoch anschlagen, weil ihr Inhalt namhaft gemacht werden kann und ihre äußere Erscheinung mit blendendem Glanze auftritt. Dieses stille Glück, diese echte Deutschheit war es, welche der Graf so oft verteidigen mußte und sich immer trotz des stärkeren Beistandes seines Verwandten nur schwach fühlte und gewöhnlich aus dem Felde geschlagen wurde, wenn man ihm gegenüber den Ruhm der großen Nation, ihre Eroberungen, ihre politische und militärische Ausbildung, ihre Gerichtsverfassung und alles das, was die Bewundrung der neuesten Zeiten erregt hat, entgegensetzte. Es schien, daß er und der Marschall, der nur wenige Meilen davon und, wie man glaubte, auf länger seinen Sitz aufgeschlagen hatte, sich in wirklicher Freundschaft gefunden und erkannt hatten. Der alte Mann erzählte nicht ohne Bewegung, wie auch Kronenberg, dessen Krankheit und Gesicht, vorzüglich aber seine verständigen, wenn auch nur wenigen Worte den Heerführer innig interessiert hätten. Es war die Aussicht, daß man ihn öfter sehn würde, und damit die Hoffnung gewonnen, daß Offiziere und Soldaten sich in diesem Distrikte gut würden betragen müssen.

Die Gesellschaft versammelte sich wieder zu Musik und Spiel; Kronenberg beobachtete noch aufmerksamer den melancholischen Verwandten, wie ihn der Musikus nannte, und es blieb ihm nicht zweifelhaft, daß er Cäcilien liebe, auch sie schien ihm geneigter wie allen übrigen. Mit bittern Gefühlen zog sich der Kranke auf sein einsames Lager zurück.



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