Ludwig Tieck
Der Geheimnisvolle
Ludwig Tieck

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Es zeigte sich am folgenden Mittage, wie sehr der junge Wildhausen in seiner Schilderung die richtigen Farben gewählt hatte. Die gnädige Frau war sehr hochfahrend, kurz und bemühte sich gar nicht, ihre Verstimmung zu verbergen; der Herr des Hauses war so scheu und demütig, daß er kaum die Augen aufzuschlagen wagte, und ebenso wie jedes lauten Wortes enthielt er sich auch heute des Weins. Es wollte sich keine Veranlassung finden, daß die Dame ihren Unmut hätte auslassen können; nur als der Bediente Zeitungen und Broschüren hereinbrachte, rief sie mit einem gellenden Ton: »Tragt das Zeug alles sogleich wieder fort! Ich bin es endlich überdrüssig, so einfältigen Plunder in meinem Hause herumliegen zu sehn, in welchem der größte Mann der neuern Jahrhunderte so armselig gemißhandelt wird! Wenn die französischen Blätter kommen, so bringt sie mir!« – Herr von Wildhausen sah mit wehmütig kläglichem Blicke dem Diener nach und schickte ein verschämt bittendes Auge hinter ihm drein, wagte aber kein Wort, um seine Lieblingslektüre zu retten. Ja, auch jenes gestern so hoch gepriesene Werk war nicht zu erblicken, und die Vermutung Karls, daß die despotische Laune der Mutter es wohl verschlossen halten möchte, schien sich zu bestätigen. Es herrschte oft Stille am Mittagstische; denn die Erzählungen des Sohnes, noch weniger aber die Scherze und Anekdoten, welche Kronenberg wagte, fanden Beifall oder Unterstützung. Als man sich vom Tische erhob, entfernte sich die gnädige Frau sogleich, und indem der alte Herr mit gesenkten Blicken folgte, stieß er im Vorbeigehn an Kronenberg und flüsterte: »Kommen Sie in einem Viertelstündchen auf mein Zimmer!« – Die beiden jungen Freunde machten indes einen Spaziergang durch den Garten.

Nach kurzer Zeit ging Kronenberg, der sich der Hausordnung schon fügen lernte, mit leisen Schritten nach der Stube des Herrn von Wildhausen. Er fand den alten Mann noch immer verlegen, der in seinen Papieren kramte und sich ängstigte, wie er seine Rede anfangen sollte. – »Tugend wird nicht immer erkannt, mein teurer junger Freund«, so stotterte er endlich, »und ich werde auch oft nicht verstanden. Der Mensch ist ein schwaches Wesen. Wenn ich meinem Gemüt folgen dürfte – indessen – wer weiß – in Zukunft – ich höre, daß Sie in Verlegenheit sind und leicht an Ihrer vorhabenden Reise gehindert werden könnten. Ist es mir nicht möglich, alles für Sie zu thun, was ich wünsche, so nehmen Sie wenigstens dies Darlehn, das Sie mir nach Ihrer Bequemlichkeit in bessern Zeiten zurückzahlen können.«

Mit diesen Worten überreichte er ihm einen Beutel mit zweihundert Goldstücken. »Und«, fuhr er fort, »ein Andenken müssen Sie von mir annehmen; ich dachte erst, Ihnen meine Equipage – aber es sind – kurz, ich gebe Ihnen ein treffliches, gut gerittenes Pferd, das mir nur etwas zu mutig ist. In der Jugend und bei fester Gesundheit, wie die Ihrige, ist dies die angenehmste Art zu reisen.«

»Sie beschämen, Sie überhäufen mich«, sagte der junge Mann.

»Ohne Umstände«, eiferte der Alte, »denn meine Frau ängstigt sich auch um dieses Tier, weil es uns allen zu wild ist. Glauben Sie aber nicht, daß ich so ganz ohne Eigennutz handle. Ich habe eine große Bitte an Sie, durch deren Erfüllung Sie mich sehr verpflichten, und wenn Ihnen die Sache gelingt, die ich wünsche, so machen Sie mich wahrhaftig glücklich.«

»Nennen Sie Ihre Wünsche.«

»Solange es Ihnen bei uns gefällt, sind Sie mir der willkommenste Gast; aber wenn Sie abreisen, erzeigen Sie mir die Freundschaft, über Neuhaus zu gehen. Dort werden Sie eine Familie sehn, die aus den widerwärtigsten Mitgliedern besteht, die die Einbildung nur ersinnen könnte; am gehässigsten aber ist die Tochter des Hauses, ohne Grundsätze, eitel, kokett, allem Guten, vorzüglich allen deutschen Gesinnungen abhold, und Vater, Mutter, Sohn und Tochter bilden ein Nest von ausgemachten Atheisten, denen nichts höher steht als Voltaire, Diderot und die traurige Gesellschaft jener jetzt fast schon veralteten Freigeister.Gemeint sind die sogenannten französischen Encyklopädisten, d. h. die Herausgeber und Mitarbeiter an Denis Diderots (1713–84) und Jean Lerond d'Alemberts (1717–83) berühmter »Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et métiers« (Paris 1751 f.), in der die freigeistige Weltanschauung der bedeutendsten französischen Denker des 18. Jahrhunderts rücksichtslosen Ausdruck fand. François Marie Aruet de Voltaires (1694–1778) Artikel (als selbständiges Werk: »Dictionnaire philosophique«, 1764) haben besonders einschneidend gewirkt. Mein Sohn ist in das Mädchen vernarrt und denkt es durchzusetzen, sie mir als Schwiegertochter ins Haus zu bringen. Muß ich einmal nachgeben, so zieh' ich auf meine alten Tage noch in die Fremde. Lernen Sie die Leute kennen und raten Sie dann meinem Sohn, auf den Sie so viel vermögen, mit vollem Herzen ab. Sprechen Sie mit dem Vater dort, der vielleicht Vernunft annimmt, und legen Sie ihm unverhohlen auf eine feine Weise meinen Widerwillen dar.« – Nach dieser Rede umarmte der alte Mann den jungen Freund herzlich und fügte dann gerührt hinzu: »Und nun beschwöre ich Sie noch mit väterlichem Wohlwollen, gestehn Sie nicht mit so edler Offenherzigkeit, daß Sie der Verfasser jenes merkwürdigen Buches sind. Wir sehen trüben Zeiten entgegen. Alles deutet auf einen höchst ungleichen Kampf, den Deutschlands Freiheit im gefährlichsten Spiel verlieren wird. Noch hat man sich nicht erklärt. Bis dahin werden die Regierungen gewiß jene Äußerungen nicht gutheißen, und nachher, wenn die Tragödie aufgeführt ist, ist Ihre Sicherheit, ja Ihr Leben geradezu gefährdet.«

»Ich werde Ihre Warnung«, erwiderte Kronenberg, »zu Herzen nehmen. Sie haben so sehr recht, daß das Buch in meinem Vaterlande sogar schon verboten ist. Wie man auf der Grenze des Herzogtums erfahren, daß ich der Verfasser sei, begreife ich nicht; aber neulich am Abend, als ich Ihren Boten erwartete, lauerten mir vier bis fünf Menschen auf, denen ich nur durch List entgangen bin.«

Karl war erfreut, als ihm Kronenberg das Geld überreichte, das er vom Vater erhalten hatte. Es wurde beschlossen, mit dieser Summe die dringendsten Gläubiger fürs erste zum Schweigen zu bringen, wenn auch nicht zu befriedigen, im Fall der Oheim sich auf gar keine Anordnungen einlassen wollte. Geschähe dies aber, so könne Kronenberg das Geld nachgeschickt werden.

Nach dem Abendessen warteten die beiden Freunde noch bis tief in die Nacht hinein; aber Christoph kam noch immer nicht zurück, um von der Brieftasche und dem verlornen Passe Nachricht zu bringen. Als man sich schon überwacht trennen wollte, klapperte ein Pferd den Hof herein, und man vernahm Christophs Stimme, der den eingeschlafnen Stallknecht aufschrie. »Gewiß«, sagte Kronenberg, »hat der Mensch die ganze Reise bis zu jener Stelle, wo wir mit dem Wagen umfielen, zurückgemacht.«

Indem kam Christoph herauf, erhitzt und außer Atem und noch viel verdrüßlicher als gewöhnlich. »Hast du die ganze Reise zurückgemacht, armer Mensch?« rief ihm Karl entgegen.

»Das habe ich wohl bleiben lassen«, antwortete der Alte, »denn im vorletzten Wirtshaus« hatte ich ja noch die vermaledeite Brieftasche des gnädigen Herrn gesehn. Ich bin nur in der letzten Schenke abgestiegen, habe das ganze Haus umgekehrt, die Schränke aufgebrochen, die Betten umgeworfen, Stuhl und Bank, aber vergebens, durchgesucht.«

»Aber du bist fast vierundzwanzig Stunden abwesend; wo hast du dich denn umhergetrieben?«

»O, dreizehn Stunden wenigstens habe ich recht still und ruhig gesessen.«

»Wie das?«

»Lassen Sie sich dienen«, sagte der Alte, »und werden Sie nicht ungeduldig. Als ich die Haussuchung dort mit aller Strenge vollbracht und den Wirten Schreck und Ärger in den Leib gejagt hatte, setzte ich mich wieder auf. Kaum zweitausend Schritte auf dem Rückwege reitet mir jemand auf einem Querwege vorüber: ein hübsches Pferd, der Mann gut angezogen – und – wer war es? Derselbe verdächtige Patron, der Ihnen, nach meinem Glauben, die Brieftasche weggemaust hat. – Ich links, seitwärts ihm nach. Der Kerl hat mich längst gesehn und erkannt. Sein böses Gewissen treibt ihn, daß er plötzlich einen Feldweg rechts einschlägt, als wenn er so gleichsam spekulierend spazieren ritte. Ich auch von der großen Straße ab, ihm gefolgt. Das mochte er sich wohl nicht vermuten, denn nun setzte er sich in gestreckten Galopp. Den konnte unser guter Ackergaul ihm nicht nachthun; aber ich ließ nicht ab, denn ich dachte den Schelm in der Stadt arretieren zu lassen. Was das Pferd laufen kann, gespornt, in die Rippen gearbeitet, bin ich eher, als ich dachte, am Stadtthor. Die Bürgerwache steht schon im Gewehr; ich frage nach dem und dem und beschreibe ihn, als man mich anhält und vom Pferde nötigt; in die Wache werde ich gesetzt. Von da geht's zum Bürgermeister. Ich sei ein Bettler, ein Landstreicher und so weiter, ein verdächtiger Taugenichts – ich müsse auf den Turm. Himmelselement! da stoben mir die Worte und Redensarten vom Munde, und es war manches darunter, was der Bürgermeister nicht in Gnaden aufnahm. Meinen Paß sollte ich aufweisen. Einen Paß, bei einem Spazierritt! – Ich müsse ins Gefängnis; ein ehrsamer feiner Mann, der sich ausgewiesen und nach seinem Passe ein Baron Kronenberg sei, habe mich denunziert, wie er sich ausdrückte. Kein Fluchen und Schimpfen half. Ich guckte dort über das Thor durch ein enges Gitter und sah über die ganze Stadt weg. Auf den Abend, als es schon dunkel war, geht der Rittmeister Herr von Wolf die Gasse herunter. Ich schrei', was ich aus dem Halse bringen kann, erzähle ihm meinen Kasus. Er bittet mich endlich los, und da ich viel von Satisfaktion räsoniere, meint der Bürgermeister, ich solle dem Himmel danken, so wohlfeil abzukommen; denn für mein Schimpfen auf die Obrigkeit müßte ich eigentlich acht Tage bei Wasser und Brot sitzen. Der Schließer mußte nun auch noch ein Trinkgeld haben. Jetzt hatte ich noch sechs volle Meilen zurück. – Hab' ich's doch immer gesagt: die komplette Konfusion ist schon im Lande; der Dieb läßt den Redlichen einstecken, die verkehrte Welt oder die Revolution ist da!«


Nach einiger Zeit befand sich Kronenberg zu Pferd, um seinen Besuch in Neuhaus abzustatten. Der Frühling und die Sommerwärme hatten sich eingestellt, und dem Reisenden, der seine Sorgen vergessen, war jetzt so leicht und wohlgemut, wie es dem Jünglinge wohl zu sein pflegt, wenn er sich das erste Mal von seiner Heimat entfernt, um die Welt kennen zu lernen. Er hatte schon in der Nähe einige angenehme Landsitze besucht und war heiteren Sinnes durch Wald und Gebirge gestrichen, und jetzt, auf dem lustigen Wege in der Ebene, gingen die Gestalten und Begebenheiten seiner frühesten Jugend seinem Geiste vorüber; er war in jener fröhlichen Träumerei befangen, in der uns alle Erinnerungen ergötzen und Thorheit wie Ernst mit gleichen Blicken anschauen. Er hatte auch oft Gelegenheit gehabt, der Warnung seines Freundes eingedenk zu sein; denn sein Roß wollte künstlich und mit aller Aufmerksamkeit behandelt sein. Es war von guter Rasse und kräftig, aber durch seine Reiter verwöhnt; die Eigenschaften des Herrn gehn auf gewisse Weise in die Tiere über, und so war dieses seltsam zerstreut; es scheute oft ohne Veranlassung und sprang von der Seite, auch stolperte es ohne alle Ursach': es war einmal schon geschehn, daß es den Zaum vor die Zähne nahm und im blinden Rennen fortstürzte, ohne auf seinen Regierer und dessen Willensmeinung die mindeste Rücksicht zu nehmen. So ward es eine Nebenabsicht Kronenbergs bei dieser Reise, da er sich für einen trefflichen Reiter hielt, das schöne Tier wieder an Ordnung und Vernunft zu gewöhnen: er lernte beim Erziehn, daß er ebenfalls mehr zerstreut sei, als er von sich geglaubt hatte, der schlimmste Fehler, durch den jede Erziehung bei vernünftigen oder unvernünftigen Wesen unmöglich wird.

Am folgenden Tage sah er von einer Anhöhe das Schloß hinter Gehölzen schon vor sich liegen, als sich ein junger Mensch, ebenfalls zu Pferde, zu ihm gesellte. Als dieser nach einigen Fragen und Antworten die Absicht Kronenbergs erfahren hatte, rief er aus: »Ei! da kommen Sie ja recht zu gelegener Zeit, denn in zwei oder drei Tagen wird die Hochzeit des Fräuleins sein.«

»Des Fräuleins vom Hause? – Unmöglich!«

»Warum unmöglich? Sie wollen doch nicht Einspruch thun? Das Fest wird um so glänzender, weil der Vater an dem nämlichen Tage das Andenken seiner fünfundzwanzigjährigen Verbindung feiern will. Die ganze Nachbarschaft ist schon längst eingeladen, und da die Sache so weltbekannt ist, so konnte ich gar nicht vermuten, daß sie Ihnen fremd sein würde. Das Schloß wimmelt von Gästen, und Sie werden sich vielleicht in einem Wirtschaftsgebäude oder der Pächterwohnung begnügen müssen.«

»Aber in aller Welt«, rief Kronenberg aus, »wen heiratet das Fräulein?«

»Das ist eben das Sonderbare von der Sache«, schwatzte der junge Mensch mit dem Ausdruck des größten Leichtsinns geläufig weiter; »es ist eine Partie, an die Vater und Mutter und selbst das Mädchen noch vor einem Vierteljahr unmöglich denken konnten; denn es ist eine Mesalliance, die auch eigentlich ganz gegen alle Vernunft streitet. Denken Sie nur, vor sechzehn Wochen etwa kommt ein junger Fant durch das Dorf, gibt einen Brief ab, wird freundlich aufgenommen, ein Mensch ohngefähr meines Alters, mir auch im Wesen und Gesicht nicht unähnlich. Er ist soeben von der Universität abgegangen, ein Amtmanns-Sohn, sieben bis acht Meilen von hier wohnhaft. Das junge Blut macht Verse, spricht Zärtlichkeit, ist artig, liest Bücher vor. Wie ein Narr wird er in das reiche, schöne Mädchen verliebt; sie wird unvermerkt von derselben Narrheit angesteckt; die Eltern sind unzufrieden, die Mutter weint, der Vater tobt. Doch alles Fluchen hat seine Grenze, auch die ergiebigsten Thränen versiegen, nur die Liebe ist ewig und unerschöpflich. Nicht wahr, so sagt ja alle Welt? Das bewährt sich denn auch hier, und zum bösen Spiel gute Miene machen ist eigentlich die ganze Kunst der vornehmen Leute. Kurz, der junge Windbeutel ist glücklich.«

»Verzeihen Sie die Frage«, sagte der Reisende; »Sie sind wohl selbst der Bräutigam?«

Mit schadenfrohem, lautem Lachen sah der junge Mensch ihn an, gab dem Pferde die Sporen und flog davon, so daß das leichte Sommerröckchen in der Luft nachflatterte, indem er noch zurückrief: »Kommen Sie bald nach, Kamerad.«

»Armer Freund«, sagte Kronenberg zu sich selber, »so ist es also mit deiner Hoffnung und allen deinen Wünschen auf immer zu Ende! Ebenso ist dein Vater nun aller Sorge enthoben, und meine entgegengesetzten Aufträge dürfen mir jetzt keinen Kummer machen.« Er ritt in Gedanken langsamer, und als er endlich auf den Hof des Schlosses kam, sprang ihm der junge leichte Mensch schon wieder aus dem Stalle entgegen. »Aha!« rief er mit lachender Miene, »da sind Sie ja endlich! Sie werden sich aber verwundern, wen Sie oben bei dem Herrn Baron finden werden! Einen alten Bekannten!«

»Doch nicht etwa meinen Freund, den Herrn von Wildhausen, der mir vorangeeilt ist?« fragte Kronenberg.

»Nein, er heißt ganz anders.«

»Oder Herr Freimund?«

»Weit davon.«

»Doch nicht etwa gar«, sagte der junge Mann zögernd, »ein Herr Wandel?«

»Richtig!« rief der Jüngling und sprang die Treppe hinauf, indem er noch bemerkt hatte, wie Kronenberg plötzlich blaß geworden war; denn auf diesen Mann lautete sein bedeutendster Wechsel. Er überlegte schnell, ob es nicht besser sei, rasch wieder das Pferd zu besteigen und eilig die Landstraße zu gewinnen; indessen aber waren die Stalldiener schon herzugekommen, und Bediente umgaben ihn. Er sah sich wie ein Gefangener an und folgte mit schwerem Herzen dem voraneilenden Diener, der ihn melden wollte. Vom Balkon herunter begrüßte ihn mit holdseliger Freundlichkeit eine schöne Mädchengestalt. Indem er den Blick wieder erhob, glaubte er ein mutwilliges oder auch vielleicht boshaftes Lachen zu sehn, das sich aber augenblicklich wieder in ein holdseliges Lächeln auflöste. Als er die Treppe hinan und über den weiten Vorsaal schritt, verwunderte er sich über die Ruhe und Stille im Hause, die bei den vielen Gästen unbegreiflich war. Der Baron kam ihm mit heiterer Bewillkommnung entgegen, indem er sich freute, einen Freund des jungen Wildhausen kennen zu lernen, der ihm die Einsamkeit seines ländlichen Hauses ermunternd beleben würde.

»Einsamkeit?« fragte Kronenberg verwundert; »ich muß fürchten, Ihrem Hause bei diesem schönsten Feste Ihres Lebens ein überlästiger Gast zu sein.«

Der Baron sah ihn verwundert an. »Die Vermählung Ihrer Tochter, Ihre silberne Hochzeit«, fuhr Kronenberg fort – aber der Baron unterbrach mit schallendem Gelächter seine Rede und rief endlich: »Ich wette, Sie sind schon unserm Windbeutel, dem jungen Wehlen, in die Hände gefallen. Dieser Mensch, ein Universitätsfreund meines Sohnes, hat es sich schon seit lange zum Geschäft gemacht, Unwahrheiten auf Unwahrheiten zu ersinnen, und dadurch ist ihm endlich das Lügen so zur Natur geworden, daß er selbst bei den gleichgültigsten Dingen niemals der Wahrheit getreu bleiben kann. Von keinem Spaziergange kommt er zurück, ohne etwas Gleichgültiges zu erdenken, das ihm wohl hätte begegnen können. Mit meiner Tochter übt er tausend Eulenspiegelstreiche. Wir sind es alle so gewohnt, daß kein Mensch im Hause mehr auf ihn hört, und daher ist es ihm ein Festtag, einmal auf einen Fremden zu treffen, der sein Naturell noch nicht kennt.«

Dem jungen Mann fiel durch diese Erklärung eine Last von der Brust, daß er also auch wohl von dem Herrn Wandel nichts zu befürchten habe; dennoch aber konnte er eine Empfindlichkeit nicht unterdrücken, sich von einem jungen Burschen so genarrt zu sehn. »Wenn der junge Mensch«, sagte er, »das Lügen so zu seiner Gewohnheit gemacht hat, so ist es mehr als Scherz; man darf diese völlige Verachtung der Wahrheit wohl ein Laster nennen. Und wird er diesen Hang nie zum Bösen anwenden? Ich fürchte, diese Thorheit, die zwar jetzt nur noch Lachen erregen soll, wird ihm und andern in Zukunft manche bittre Thräne bereiten. Wie kann man nur so mit dem Leben spielen! Er wird aber auch gewiß seiner Strafe und einer vielleicht zu späten Reue nicht entgehn.«

»Trefflich!« sagte der Baron mit Lächeln; »aber, lieber junger Freund, haben Sie denn schon viele Leute gekannt, die die Wahrheit gesprochen haben? Alles in der Welt lügt ja doch, jedes auf seine Weise, und die des närrischen Wehlen ist noch eine der unschuldigsten. Ich vertraue keinem Menschen und mache auch nicht die unnütze Forderung, daß mir einer trauen soll. Wahrheit hält die Welt gewiß nicht zusammen, und welchen Schreck würde es geben, wenn die gute Kreatur, von der schon so viel gefabelt ist, wirklich einmal erschiene. Sie haben sich recht warm und herzlich ausgedrückt, und manchem andern würde das noch mehr als mir gefallen; denn – kommen Sie, Liebster, in den Garten! – ich glaube immer bemerkt zu haben, daß wir diejenigen Fehler an andern am bittersten rügen, von denen wir uns selber nicht ganz frei fühlen.«

Im Garten traf man die Frau und Tochter mit dem jungen Wahrheitsfeinde. Kronenberg war bei den letzten Worten des Barons übermäßig rot geworden. Wehlen näherte sich ihm ohne alle Verlegenheit und erzählte selbst sein lustiges Stückchen, wie er es nannte. »Sie haben mich schon ganz«, sagte Kronenberg, »wie einen vertrauten Freund behandelt, und ich muß Ihnen dafür danken.« – »Haben's nicht Ursach'«, erwiderte der Springinsfeld; »die Sache wäre gewiß ganz unschuldig, wenn nicht jedes, auch das beste und dickhäutigste Gewissen in der Welt irgend ein wundes Fleckchen hätte; so haben Sie mir selbst den Namen Wandel wie einen Zauberstab in die Hand gegeben, mit dem ich Sie erschrecken kann. Darauf muß ich nächstens doch noch einmal eine Geschichte erfinden.«

Der Reisende fing an, verstimmt zu werden; denn dieser zu leichte und rücksichtslose Ton schien ihm an die Ungezogenheit zu grenzen, und er begriff nicht, wie ihn die Bewohner des Hauses, vorzüglich die Damen, dulden konnten. Diese aber schienen sich ganz behaglich zu fühlen, und der junge Thor wurde durch Beifall aufgefordert, auf diese ziemlich rohe Weise noch mehr die Unterhaltung zu beherrschen. Jetzt kam auch der Sohn des Hauses von der Jagd, und indem er Flinte und die geschossenen Schnepfen dem nachfolgenden Jäger übergeben, rief er aus: »Ei! Wehlen! da bist du ja! Im Gehölz ist dein Vater und sagt, er bringe dir das Geld, um das du neulich geschrieben hast.« – Ohne Antwort sprang jener fort, worauf der junge Baron ein lautes Gelächter aufschlug. »So habe ich ihn denn auch einmal mit gleicher Münze bezahlt«, rief er aus; »er setzt was darein, daß man ihn nicht soll hintergehen können. Sein Vater denkt nicht daran, herzukommen.«

Kronenberg würde sich sehr unbehaglich gefühlt haben, wenn die Freundlichkeit des schönen Mädchens und ihre zuvorkommende verbindliche Weise ihn nicht entschädigt hätten. Bei Tische saß er neben ihr, und die Unterhaltung war, wenn auch unbedeutend, doch heiter und leicht, und erst gegen das Ende der Mahlzeit schlich der gedemütigte Wehlen herbei und war, wie alle behaupteten, seit einem Monate zum ersten Male beschämt und schweigsam verlegen.


»Ich muß die Familie noch erst mehr kennen lernen«, sagte nach einigen Tagen Kronenberg zu sich selber; »ich weiß meine Unterhandlung noch nicht anzuknüpfen.« Er mochte es sich selber nicht gestehn, daß ihn die zuvorkommende Freundlichkeit der Tochter fesselte. Schien sie doch für ihn nur Augen zu haben und in seinen Blicken zu leben; an seinem Arme ging sie spazieren und sprach nur mit ihm, wenn auch die andern sie begleiteten; von ihm ließ sie sich vorlesen und lobte seine Stimme und den Ausdruck, mit welchem er las, mehr, als er es je von seinen Freunden sonst vernommen hatte. So gingen die Stunden und Tage unter Scherz und Spiel hin, und er konnte die Minuten nicht finden, für seinen Freund zu sprechen, noch weniger aber diesem oder dem alten Wildhausen den versprochenen Brief zu schreiben.

Als man sich wieder an einem regnichten Nachmittage in der Bibliothek mit einem Buche unterhalten hatte, fing Kronenberg an: »Ich gestehe, nach dem, was man mir von Ihrer Vorliebe für die französische Litteratur gesagt hatte, konnte ich nicht glauben, hier alle unsere guten deutschen Schriftsteller anzutreffen, und ich bin immer noch verwundert, daß ich Ihnen bis jetzt nur aus diesen, nach Ihrem Verlangen, habe vorlesen dürfen.«

»Lieber Herr Baron«, sagte die Mutter, »ich sehe hier nichts, worüber Sie sich verwundern könnten. Es ist nur, daß wir die Lektüre nicht überall so ernsthaft und schwerfällig nehmen, wie die meisten Menschen, die die sehr lästige Rolle nun einmal übernommen haben, für diese oder jene Partie enthusiastisch erhitzt oder in Feindschaft dagegen entbrannt zu sein. Da setzen sie sich denn selbst ein Gespenst zusammen, das sie Geschmack oder Fortschritte der Kultur oder Bildung betiteln, dem sie ihren Zeitvertreib zum Opfer bringen, und an das sie doch selbst in vielen Stunden nicht glauben, um sich nur recht erhaben vorzukommen. Was soll man immer thun? So wie wir einmal beschaffen sind, müssen wir zuzeiten lesen – das geht mit unsern weiblichen Arbeiten Hand in Hand, und dabei verschwindet denn so recht behaglich Stunde, Tag und Woche.«

Fräulein Lila hatte kurz vorher noch mit Begeistrung und glänzenden Augen von dem tiefen Eindruck gesprochen, den die Tragödie, so trefflich vorgetragen, auf sie mache, und die begeisterte Eitelkeit des Vorlesers war durch die letzte Rede mit einiger Gewalttätigkeit abgekühlt worden. »Man schwimmt«, sagte Lila jetzt, »auf einem Strom von Wohllaut gemächlich hin und merkt nicht das Verweilen der Gegenwart.«

»Das verstehe ich nicht«, rief Wehlen aus, »ich freue mich nur drüber«, (indem er auf die Dichter und Romanschreiber hindeutete) »daß alle diese Reihen deutscher, französischer und englischer Bücher das so recht im Großen und Umfassenden getrieben haben, was auch meine Liebhaberei ist. In allen diesen Zentnern von Lügen würde doch auch noch kein Gran von Wahrheit herausgebrannt werden können. Und mir will der ehrbare, moralische Herr von Kronenberg meine unschuldige Gemütsergötzung verargen!«

»Wie kann man dergleichen nur miteinander vergleichen!« rief dieser aus.

»Warum nicht?« bemerkte der Sohn des Hauses. »Es ist dasselbe Talent, nur mehr ausgebildet und ausgesponnen. Darum habe ich mich auch von Kindheit an darüber geärgert, wenn meine Mutter oder Schwester über das ersonnene Zeug Thränen vergießen konnten. Ich kann nicht beschreiben, wie seltsam mir dergleichen Äußerungen, lautes Lachen oder ein gespanntes Interesse, vorgekommen sind, da ich noch niemals in der Täuschung gewesen bin. Ich habe aber auch bemerkt, daß man sich erst wirklich dazu abrichten, recht eigentlich dressieren muß, um ein solches Papierleben in Büchern führen zu können; auch verlieren diese Leute alles Auge und allen Sinn für die Wirklichkeit.«

»Aber«, sagte der Vater mit ernster und wichtiger Miene, »laßt uns, meine Freunde, unsre französischen Lieblinge wieder vornehmen; denn es steht uns vielleicht nahe bevor, daß wir die Sprache und die Ausdrücke der feinen Gesellschaft dieser Nation höchst nötig brauchen. Wer sich mit dem Franzosen gut und auf seine Weise zu unterhalten weiß, hat ihn schon halb gewonnen, und wenn die Monarchen Truppen mobil machen und Arsenale und Artillerieparks anlegen und vermehren, so laßt uns auch wieder, meine Teuren, uns jener Wendungen, Witzspiele, der leichten Konversationssprache unserer sogenannten Feinde bemächtigen, um ihnen durch die genaue Kenntnis ihrer Racine, Voltaire und Diderot den gelindesten Widerstand zu thun.«

»Jawohl«, sagte der Sohn, »dieses sind Schutz-, wenn auch nicht Trutzwaffen, die uns vielleicht sehr nützen können.«

»Lügen muß man«, warf Wehlen lachend ein, »daß die Kerl' nicht aus noch ein wissen, und schwadronieren, daß sie sich als Deutsche vorkommen; dann hat man gewonnen.«

Als am folgenden Tage Kronenberg mit dem Fräulein im Garten allein war, schien es ihm, daß sie sich noch vertraulicher gegen ihn betrüge. Er gab ebenfalls seiner Stimmung nach und machte sich doch innerlich Vorwürfe, daß er des Auftrages, den ihm sein Freund gegeben hatte, wenig gedenke. Er konnte sein Benehmen nur dadurch vor sich selber entschuldigen, daß er bei sich ausmachte, sein Freund sei niemals geliebt worden, und es sei daher unrecht, eine Verbindung zu befördern, durch welche beide nur unglücklich werden könnten. Ob er ein Glück annehmen dürfe, das ohne sein Zuthun wie eine reife Frucht in seinen Schoß falle, darüber war er noch unentschieden; auch fühlte er keine Leidenschaft und überließ also den Erfolg der Zukunft, ihn so oder so zu entscheiden.

Aus diesen Sophismen wurde er schnell genug auf eine unangenehme Art gerissen, indem das Fräulein mit veränderter Stimme und Miene plötzlich ausrief: »So gehören Sie denn also auch zu der Mehrzahl jener charakterlosen Männer, die keiner Lockung widerstehen, keine anscheinende Gunst mit edler Art abweisen können? Sie wollen ein Freund sein, und haben kaum noch den Namen meines Geliebten gegen mich ausgesprochen? Er meldete mir, noch ehe Sie kamen, daß Sie für ihn handeln würden; aber beim geringsten Anschein, als ob ich Ihnen wohl wollte, hatten Sie auch alle Ihre Versprechungen vergessen. So oft ich mir noch einen solchen Scherz erlaubt habe, so ist er mir auch gelungen, und es ist den Mädchen daher wohl nicht zu verargen, wenn sie von der Trefflichkeit des männlichen Geschlechts keine zu erhabenen Begriffe einsammeln können.«

Kronenberg suchte sich schnell zu fassen und erwiderte: »Aber glauben Sie denn in der That, reizendes Fräulein, daß ich nicht gleich die verständige Kokette in Ihnen erkannte? Meinen Sie denn wirklich, ich habe etwas anderes gewollt, als Sie auf die Probe stellen, wie weit Sie Ihren Mutwillen treiben möchten? Ich muß mir viel Schauspielertalent zutrauen, daß Sie, die Sie so fein sind, so fest an den zärtlichen Schäfer in mir haben glauben können.«

»Mit diesem Talente«, antwortete sie im Lachen, »steht es doch nur so so; den Verliebten spielten Sie wenigstens viel natürlicher als jetzt den Weltmann, der seine schlau angelegte Maske abwirft. Sie sind offenbar in Verlegenheit, so sehr Sie sich auch sammeln wollen. O ja, mein Herr, in der Schule der großen Welt haben Sie noch vieles zu lernen; Sie sind ihr nur aus einer der untersten Klassen entlaufen.«

Sie verließ ihn spottend, und der Verstimmte ging in eine dunkle Laube, wo er den Sohn des Hauses lesend antraf. »Wo ist Ihr Herr Vater?« rief er lebhaft; »ich komme, Abschied von ihm zu nehmen, denn meine Reise ist dringend.« – »Mein Vater«, antwortete der Sohn, »ist oben in seinem Arbeitszimmer, in der notwendigsten und überflüssigsten Beschäftigung von der Welt.«

»Wie soll ich das verstehn?«

»Sie haben ja wohl von ihm gehört, daß er seinen Stolz darein setzt, seine Güter selbst zu bewirtschaften. Es fügt sich aber, daß er gar nichts von der Sache versteht. Seine Leute wissen das auch; aber er wendet, wie er meint, die größte Kunst an, ihnen dies zu verbergen. Wirtschafter, Förster, Verwalter müssen täglich zu ihm kommen, um Rechenschaft von ihren Arbeiten abzulegen und neue Befehle zu empfangen. Diese Konferenz dauert einige Stunden. Der gute Vater quält sich, treffliche Fragen auszusinnen, Verordnungen zu machen, die unmöglich und unausführbar sind, und um die Sache nicht ins Leichtsinnige zu spielen und die Komödie zu schnell zu beschließen, herrscht oft ein viertelstündiges heiliges Stillschweigen, wenn er nichts mehr zu fragen und die andern natürlich auch nichts mehr zu antworten wissen. Vor dieser Stunde fürchtet er sich an jedem Tage und hat täglich eine geraume Zeit nötig, um sich von ihr zu erholen. Gehn Sie hinauf, vielleicht erlösen Sie ihn dadurch aus einem Fegefeuer.«

Kronenberg folgte diesem Winke und traf im Zimmer des Barons die aufgestellte Dienerschaft in schweigender, erzwungener Aufmerksamkeit und den Herrn sinnend, den starren Blick zum Himmel gerichtet. Sein Gesicht erheiterte sich, als er den Eintretenden wahrnahm; er verabschiedete alle mit dem Ausruf: »Morgen weitläufiger – ich habe heute nicht länger Zeit.« Er bedauerte, als er hörte, daß sein unterhaltender Gast ihn schon morgen oder übermorgen verlassen wolle. Indem hörte man Thüren laut werfen, heftiges Schellen, Geschrei der Bedienten, dazwischen die laute Stimme des jungen Herrn und eilende Tritte über die Korridore und die Treppe hinab und hinauf. »Um's Himmels Willen«, rief der erstaunte Kronenberg, »was hat das zu bedeuten?« – »Sein Sie ruhig«, antwortete der Baron gelassen, »es ist nichts weiter, als daß mein Sohn studiert.« – »Wie? Studiert?« – »Ja, er kündigte mir schon heute morgen an, daß er noch vor Abend seine Studien wieder beginnen wolle, und da ich weiß, daß es dabei etwas unruhig zugeht, so war ich auf dies Getümmel schon gefaßt. Der junge Mann, wie Sie werden bemerkt haben, lebt ziemlich zerstreut und eigentlich unbeschäftigt. Solange diese unbestimmten Spaziergänge, Jagdvergnügungen, leichte Lektüre, Reiten und Besuchemachen seine Zeit hinnehmen, ist er ziemlich ruhig. Aber alle drei Monate fällt es ihm einmal wieder ein, daß er seine Studien nicht ganz vernachlässigen darf. Alsdann schleppt er sich wichtige, tiefsinnige Bücher zusammen und setzt sich mit dem redlichsten Eifer zu ihnen nieder. Aber kaum hat er sie aufgeschlagen, so fallen ihm in dieser einsamen Zurückgezogenheit tausend Dinge ein, an welche er sonst niemals denkt: da hat ein Bedienter dies und jenes verschleppt, was er wieder suchen muß; es muß ein notwendiges Billet in die Nachbarschaft versendet werden; da schickt man, den Tischler und Schmied zu rufen, um eiligst und mit Heftigkeit ein Utensil zu bestellen, das eigentlich überflüssig ist; da läßt man in der Bibliothek herumreißen, um ein Buch zu suchen, das nachher verkramt wird. Und so ein lärmendes Geschäft nach dem andern. Es ist darum nicht immer wahr, daß die Musen die Einsamkeit und Stille lieben, und haben wir keine brausenden Wasserfälle, bei denen es sich, wie viele versichern, vortrefflich soll denken lassen, so benutzen wir hier die Treppen zu Kaskaden und die zugeschlagenen Thüren als Echo des Gebirges.«

Kronenberg entfernte sich mit einem sonderbaren Gefühl; er dachte nach, wie in dieser Familie kein Mitglied das andere zu achten scheine und alle doch so ziemlich gut miteinander fertig würden. Als man am Abend sich beim Thee wieder versammelte, trat die Mutter mit Freundlichkeit zum Gaste und flüsterte ihm zu: »Meine Tochter hat mir gesagt, Sie hätten den Scherz des jungen Mädchens mit einiger Empfindlichkeit aufgenommen; aber als ein Mann von Welt sollten Sie es nicht. Was können wir armen Weiber in der Einsamkeit anders thun, was uns wenigstens so unterhielte, als die Huldigungen der Jugend und des Alters annehmen? Lieber junger Freund, das ist ja nur eine andere Art von Kartenspiel, und geschickt mischen, mit Feinheit spielen, den andern erraten, sich selbst nie bloß geben, am allerwenigsten aber diesen artigen Scherz für Ernst halten, dies alles sind Eigenschaften, die eine gute Erziehung durchaus lehren muß, und ich habe es mich bei meiner verständigen Tochter Zeit und Mühe kosten lassen, ihr alle diese kleinen Künste beizubringen, damit sie niemals das Opfer eines Kluggebildeten werde, der die Unerfahrne mit dergleichen fangen und unglücklich machen könnte. Wir thören die Männer, müssen uns aber niemals bethören lassen, und ich wunderte mich schon am ersten Tage, daß Sie so hastig in das Garn gingen.«

Kronenberg verbeugte sich höflich und dankte mit einiger Rührung, daß man es mit ihm noch so gnädig habe machen wollen. Bald aber wurde jedes leisere Gespräch durch die Schwänke unterbrochen, welche der junge Wehlen in seiner schreienden Manier vortrug, und denen Vater und Sohn schon seit einiger Zeit ein williges Ohr geliehen hatten. Es war ein Brief angekommen. »Ah! von dem alten Baron Mannlich!« rief Wehlen aus, »der im vorigen Jahre so lange das Märchen der Nachbarschaft war, als er zum Besuch sich in Ihrem Hause aufhielt. Eine seiner sonderbarsten Geschichten ist Ihnen gewiß noch unbekannt. Sie waren damals verreist, und er ließ es sich recht gerne gefallen, mit mir einige Tage allein hier zu hausen. Ich bin auf der Jagd. Vor dem Dorfe bricht ein Wagen; der alte Herr macht sich herbei, hilft einem ältern und jüngern Frauenzimmer auf die Füße, die, wie sich nachher auswies, zwei Erzieherinnen waren, führt sie spazieren, zeigt ihnen Garten und Gegend und endlich auch sogar das ganze Schloß als sein Eigentum. Um sich recht bei den Dämchen in Autorität zu setzen, schilt er mit den Domestiken der Herrschaft, wettert und flucht in den Wirtschaftsgebäuden herum, befiehlt, daß dieses und jenes am folgenden Tage ganz anders eingerichtet werde, und da die Knechte und Tagelöhner verblüfft ihn nicht begreifen, prahlt er gegen seine Begleitung, wie sehr alle seine Unterthanen seine Majestät fürchten. Das Lustigste aber war, daß er einen Bauer, der auf eignem Hofe Tabak rauchte, unter auffallendem Lärm und großem Geschrei ins Gefängnis stecken ließ. Als nun die Frauenzimmer, vom Wandern, Lärmen und unendlicher Verehrung ganz ermüdet, endlich in ihrem alten geflickten Wägelchen weiter reiseten, mußte er mit mehreren Thalern den eingesperrten Bauer zufriedenstellen, die Dorfgerichte bestechen, den Knechten und Tagelöhnern ansehnliche Trinkgelder geben und an mich Unbedeutenden viele Umarmungen und Küsse sowie herzliche Freundschaftsbeteurungen wenden, damit nur keiner verriete, mit welchem Glanze falscher Herrlichkeit er sich als dreistündlicher Tyrann aufgeputzt hatte.«

Viele Scherze und Anekdoten kamen nun auf die Bahn, und der junge Mensch schien wirklich unerschöpflich; obgleich viele seiner Erzählungen keine sonderliche Spitze hatten, so fanden sie dennoch an den Hausgenossen gutwillige Zuhörer, und Kronenberg, der schon längst verstimmt war, begriff nicht, wie Geschichtchen ohne allen Zusammenhang, ohne geistige Verbindung die Gesellschaft erheitern konnten. Er äußerte eine bescheidene Kritik, und der Baron antwortete: »Ich gestehe Ihnen, mir sind das, was man Anekdoten nennt, geradezu die angenehmste Unterhaltung. Diese abgerissenen Einfälle und Schnurren ergötzen eben dadurch, daß wir keiner Vorbereitung bedürfen, um sie zu verstehen und zu schmecken. Was mich aus der Geschichte interessiert, ist doch auch nichts anders, und ich erwarte immer noch den geistreichen Autor, der mir einmal alle die Schwerfälligkeiten in Späße verwandelt und diese scheinbare und langweilige Verbindung, diese Folge von Wirkungen und Ursachen völlig auflöst; denn alles ist doch nur Lüge. Einige französische Memoires nähern sich demjenigen schon so ziemlich, was ich verlange.«

»Die Litteratur aller Nationen«, sagte das Fräulein, »kann auch nicht anders interessant dargestellt werden, nur als Chaos einzelner, abgerissener, oft bizarrer, oft unbegreiflicher Erscheinungen zieht sie mich an.«

»Ei! ei!« rief der junge Wehlen aus, »dann ist die deutsche auf dem besten Wege, Ihren vollkommensten Beifall zu gewinnen. Bald wird es dahin gekommen sein, daß unsere alljährlichen kleinen Kalenderchen uns die zusammenhangendsten und größten Werke liefern. Diese Weihnachtlämmchen,Kleine Lämmchen aus Holz, mit Flittergold beklebt, die früher auf allen Weihnachtsmärkten feilgeboten wurden; die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts besonders beliebten goldschnittgezierten Taschenbücher oder Almanache werden hier so genannt, weil sie vor Weihnachten zu erscheinen pflegten. denen das Mäulchen mit Gold verklebt ist, oder denen erst, wie den Kätzchen, nach neun Tagen etwa die muntern Äuglein geöffnet werden, wenn schöne feine und wohlgespitzte Finger die glimmende VerkleisterungGemeint ist der Goldschnitt. von den zarten Blättchen abgeschliffen und Gedichten wie Erzählungen die Zunge gelöst haben. Aber so niedlich die Bildchen, so feinsinnig deren Erklärung, so rührend die Geschichtchen, so zartgeflochten die Verse auch sein mögen, so finde ich trotz dem kleinen Formate in diesen Werken immer noch zu viel deutsche Schwerfälligkeit und mit dieser eine zu bestimmte Einseitigkeit, der unbilligen Richtung auf Weihnachten, Neujahr und des gratulierenden Umwandelns, wie Kirchendiener und Nachtwächter, gar nicht einmal zu gedenken. Dagegen unsre Wochenschriften und Tagesblätter! Nicht wahr, hier sind auf wenigen Seiten die Weltgeschichte, die Gelehrsamkeit, Satire, Epigramm, Stadtklätscherei, Rezension, Theater, Anekdote, Wetterbeobachtung, Rätsel, Liberalismus, Winke für Regenten, Philosophie, Scharaden und Gedichte noch obenein, ausgeschüttet. Und welcher polnischer Reichstag, wenn auf einer Toilette sieben oder acht Blätter dieser Art aufgeschichtet liegen. Widerspruch, Antwort, Widerruf, Gezänk des einen mit dem andern, hier Lob, wo jener tadelt, dort eine Entdeckung, die schon uralt ist, bei jenem eine Anfrage, die jedes Lexikon beantworten kann, dann ein philosophischer Zweifel, ob es wohl gut sei, den Senf zu lange nach der Mahlzeit zu genießen. Hier nehmen sich auch erst die Erzählungen gut aus, bei denen es immer wieder von neuem heißt: die Fortsetzung folgt. Es ist nur zu tadeln, daß man von diesen immer noch zu große Massen reicht. Wenn ich ein solches Blatt herausgäbe, ich ließe mir es nicht nehmen, die merkwürdige Begebenheit etwa in folgenden Portionen zu liefern:

Emmelinhypothenusios ging aus der Thür.

              Fortsetzung folgt.



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