Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Besuch

Ich glaube, daß ich Gesellschaft geradeso liebe, wie die meisten Menschen; ich bin gleich zur Stelle, wenn es gilt mich wie ein Vampir eine Zeitlang an irgend einem vollblütigen Menschen, der meinen Weg kreuzt, festzusaugen. Ich bin von Natur aus kein Einsiedler und könnte vielleicht den seßhaftesten Stammgast in der Kneipe an Ausdauer übertreffen, wenn mein Geschäft mich dorthin riefe.

Ich habe drei Stühle in meinem Haus: einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft und drei für die Gesellschaft. Wenn unerwartet mehr Besucher kamen, mußten sie sich mit dem dritten Stuhl begnügen; der Raum wurde dann meistens dadurch gut ausgenutzt, daß sie sich nicht setzten. Es ist erstaunlich, wie viele große Männer und Frauen in einem kleinen Hause Platz haben. Ich sah schon fünfundzwanzig oder dreißig Seelen – mit ihren Körpern – gleichzeitig unter meinem Dache, und doch hatten wir beim Scheiden oftmals nicht das Gefühl einander sehr nahe getreten zu sein. Viele unserer Privathäuser und Staatsgebäude scheinen mit ihren fast unzählbaren Zimmern, ihren ungeheuren Hallen und Kellern zum Aufbewahren von Wein und anderer Friedensmunition viel zu groß für die Bewohner. Sie sind so hoch und prächtig, daß die Menschen wie Ungeziefer wirken, das darin haust. Und wenn der Herold vor einem der palastähnlichen Häuser Amerikas sein Horn bläst, dann sehe ich mit Erstaunen als einzigen Bewohner eine lächerliche Maus daraus hervorkriechen, die über die Piazza läuft, um nach kurzer Frist schon wieder in irgend ein Loch des Straßenpflasters zu schlüpfen.

Eine Unbequemlichkeit machte sich allerdings bisweilen in meinem kleinen Haus bemerkbar: die Schwierigkeit, in eine genügende Entfernung von einem Gaste zu gelangen, sobald wir begannen, große Gedanken mit großen Worten zu verkünden. Man muß Raum für seine Gedanken haben, damit sie die offene See gewinnen und einige Male lavieren können, bevor sie den Kurs auf den Hafen nehmen. Die Kugel Deines Gedankens muß erst ihre seitliche und die Prallbewegung überwunden und ihre endgültige, gleichmäßige Flugbahn angenommen haben, bevor sie das Ohr des Hörers erreicht, sonst nimmt sie womöglich den Weg durch seinen Kopf von einem Ohr zum andern. Auch unsere Urteile brauchen Zeit, um sich zu entfalten, um allmählig ihre Kolonnen zu formieren. Individuen wie Nationen müssen angemessene, weitreichende natürliche Grenzen haben, ein beträchtliches neutrales Gebiet muß zwischen ihnen liegen. Es gewährt mir einen hochgradigen Genuß, wenn ich mich über die Wasserfläche hin mit einem Bekannten am anderen Ufer des Teiches unterhalten kann. In meinem Hause waren wir so nahe beieinander, daß wir gar nicht anfangen konnten zu hören – wir konnten nicht leise genug sprechen, um gehört zu werden. Wenn man zwei Steine nahe beieinander ins Wasser wirft, so stört bekanntlich auch ein Wellenkreis den andern. Sind wir laute Schwätzer, dann allerdings vertragen wir es schon so nahe beisammen zu stehen, daß einer des andern Atem spürt; sind wir aber zurückhaltend und gedankenvoll, dann möchten wir gern weiter voneinander getrennt sein, damit alle animale Wärme und Feuchtigkeit Gelegenheit hat sich zu verflüchtigen. Wenn wir die intimste Gesellschaft genießen, durch welche gerade das in unserer Seele erweckt wird, was außer oder über uns ist, so müssen wir nicht nur im Schweigen verharren, sondern auch körperlich so weit voneinander entfernt sein, daß der eine auf keinen Fall die Stimme des anderen hören kann. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet ist das Gespräch zur Bequemlichkeit der Schwerhörigen da; es gibt aber viele, vortreffliche Dinge, über welche wir nicht reden können, wenn wir schreien müssen. Sobald die Unterhaltung einen stolzeren, erhabeneren Ton annahm, schoben wir unsere Stühle weiter auseinander, bis sie die zwei entgegengesetzten Ecken der Wand berührten; doch auch dann war gewöhnlich nicht genügend Platz da.

Meine »beste Stube«, mein »Salon«, der stets für Besuch hergerichtet war, und auf dessen Teppich selten Sonnenstrahlen fielen, war der Fichtenwald hinter meinem Hause. Kamen an Sommertagen vornehme Gäste, so führte ich sie dorthin und ein unschätzbarer Dienstbote fegte den Boden, stäubte die Möbel ab und gab auf alles wohl acht.

Wenn ein einzelner Gast kam, so nahm er manchmal an meinem frugalen Mahle teil. Wenn ich dann aus Mehl und Milch einen Pudding anrührte und nebenbei das Aufgehen und Garwerden des Brotes in der Asche beaufsichtigte, so erlitt dadurch die Unterhaltung keine Unterbrechung. Wenn aber zwanzig kamen und sich im Hause niederließen, so wurde vom Mittagsessen nichts erwähnt. Und obwohl Brot genug für vielleicht zwei Personen vorhanden war, so stellte man sich so, als ob das Essen eine altmodische Gewohnheit sei. Wir übten Enthaltsamkeit, als sei sie etwas Selbstverständliches. Und darin sah niemand einen Verstoß gegen die Gastfreundschaft. Im Gegenteil, solche Handlungsweise galt als schicklich und rücksichtsvoll. Was an Körperkraft fortwährend verbraucht wird und zerfällt und so oft wieder ersetzt werden muß, schien wunderbarerweise in diesem Falle erhalten zu bleiben: die Lebenskraft hielt tapfer stand. Deshalb konnte ich ebensogut tausend bewirten wie zwölf. Und wenn je einer enttäuscht oder hungrig von meinem Hause fortging, trotzdem ich zu Hause gewesen war, so kann er sich darauf verlassen, daß ich zum wenigsten mit ihm sympathisierte. So leicht ist es, obwohl viele Hausfrauen es bezweifeln, neue und bessere Sitten an die Stelle der alten zu setzen. Man braucht seinen Ruf nicht auf die »Diners« zu gründen, die man gibt. Ich persönlich wurde nie von irgend einem Cerberus so sehr vom Besuch bei meinen Mitmenschen abgeschreckt, als durch die Komödie, die man machte, um mich zu speisen. Ich sah infolgedessen in ihr einen sehr höflichen Wink – von hinten herum –, die lieben Leute nie wieder in Unkosten zu stürzen. Solche Szenen werde ich nie wieder aufsuchen, davon bin ich überzeugt. Ich würde stolz sein, wenn über meiner Hütte als Motto jene Zeilen von Spenser Edmund Spencer, englischer Dichter, 1553–1599. Deutsch von Grosart, 1882–1884. ständen, die einst einer meiner Besucher auf seiner Visitenkarte – auf einem gelben Walnußblatt – zurückließ:

»Dort angekommen füllen sie die kleine Hütte,
»Und fordern weder Speis' noch Trunk – das wär' vergeblich:
»Zum Labsal wird die Ruhe, alles steht zu Diensten.
»Völlig zufrieden sein kann nur der beste Mensch.«

Winslow, der spätere Präsident der Plymouthkolonie, wanderte einst mit einem Gefährten zu Fuß durch die Wälder, um Massassoit Massassoit, berühmter Indianerhäuptling, der über 30 000 Untertanen gebot. Lebte 1580–1661. einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Hungrig und durstig kamen sie zum Wigwam des Königs, der sie freundlich empfing. An jenem Tage war jedoch von irgend einer Mahlzeit nicht die Rede. Als die Nacht hereinbrach, – ich will mit ihren eigenen Worten fortfahren – »wies er uns einen Platz in seinem Bett neben sich und seinem Weibe an; sie lagen an dem einen, wir am anderen Ende. Das Lager bestand aus einem etwa einen Fuß über dem Erdboden befindlichen Brett; eine dünne Matte diente als Decke. Zwei andre Häuptlinge drückten sich neben uns und auf uns, um überhaupt Platz zu finden. Auf diese Weise ermattete uns unser Quartier mehr als unsre Reise.« Um ein Uhr am nächsten Tag »brachte Massassoit zwei Fische, die er geschossen hatte«, ungefähr dreimal so groß wie ein Brassen Brassen, Cyprinus brama.. Als diese gekocht waren, hofften nicht weniger als vierzig Personen auf einen Bissen. Die meisten bekamen etwas davon. Dies war die einzige Mahlzeit, die wir im Verlauf von zwei Nächten und einem Tag einnahmen; hätte nicht einer von uns ein Rebhuhn gekauft, so hätten wir die Reise fastend gemacht.« Da die Reisenden befürchteten, aus Mangel an Nahrung und auch an Schlaf wahnsinnig zu werden – an Schlaf war nicht zu denken, weil die Wilden sich mit einem unmenschlichen Gebrüll in Schlaf sangen – zogen sie es vor, die schwachen, noch vorhandenen Kräfte zum Heimweg zu benutzen und reisten ab. Allerdings: das Quartier war jämmerlich gewesen, obwohl gerade das, was sie als Unbequemlichkeit empfanden, zweifellos eine Ehrung für sie sein sollte. Was aber die Mahlzeiten anbetrifft – ja, da konnten die Indianer meiner Ansicht nach kein besseres Verfahren einschlagen. Sie selbst hatten nichts zu essen und waren zu verständig, um anzunehmen, daß Entschuldigungen ihren Gästen als Ersatz für Speisen dienen könnten; drum schnallten sie ihre Gürtel enger und verloren kein Wort darüber. Als Winslow sie späterhin zum zweiten Mal besuchte, war eine Zeit des Überflusses; da hatte er auch in dieser Beziehung keinen Grund sich zu beklagen.

An Menschen wird es einem fast nirgends fehlen. Ich hatte mehr Besucher, während ich in den Wäldern lebte, als zu irgend einer anderen Zeit meines Lebens, d. h. ich hatte einige. Ich traf mit manchen Leuten unter günstigeren Umständen als irgendwo sonst zusammen. Die Anzahl derer, die mit alltäglichen Anliegen zu mir kamen, war geringer. In dieser Hinsicht wurde meine Gesellschaft schon durch die Entfernung von der Stadt durchgesiebt. Ich war soweit auf den großen Ozean der Einsamkeit, in den die Ströme der Gesellschaft münden, hinausgefahren, daß meistenteils – insofern meine Ansprüche eine Rolle spielten – nur das feinste Sediment um mich herum sich absetzte. Außerdem wurden mir Beweise von weitentlegenen, unerforschten und unkultivierten Erdteilen zugetragen.

Wer kommt da heute morgen zu meiner Hütte? Ein wahrhaft homerischer oder paphlagonischer Mann – er hatte einen so passenden und poetischen Namen, daß ich denselben hier zu meinem großen Bedauern nicht drucken lassen kann – ein Kanadier, ein Holzfäller und Pfostenmacher, der fünfzig Pfosten an einem Tage anfertigen konnte und dessen letztes Abendbrot aus einem Murmeltier bestand, das sein Hund erlegt hatte. Auch er hatte von Homer gehört, und »wenn es keine Bücher gäbe«, so wüßte er nicht »was er an Regentagen anfangen solle«. Er hatte vielleicht nicht ein einziges Buch in vielen regnerischen Wochen durchgelesen. Irgend ein Priester der fernen heimatlichen Gemeinde, ein Priester, der sogar griechisch aussprechen konnte, hatte ihn gelehrt Verse im Alten Testament zu lesen, und jetzt muß ich ihm, während er das Buch hält, die Stelle übersetzen, wo Achilles den Patroklos wegen seiner betrübten Miene tadelt:

»Warum also geweint, Patroklos, gleich einem Mägdlein?
»Hast Du etwa allein Botschaft aus Pythia vernommen?
»Siehe noch lebt, wie sie sagen, Menoetius, Sprößling des Aktor,
»Auch noch lebt in dem Volk der äakidische Peleus:
»Welche zween wir am meisten betrauerten, wenn sie gestorben.«

Darauf sagt er: »Das ist gut.« Er hat ein großes Bündel Weißeichenrinde unter dem Arm; er sammelte sie heute am Sonntagsmorgen für einen kranken Mann. »Ich glaube, es ist nichts Böses dabei, wenn man so etwas am Sonntag tut«, sagt er. Für ihn war Homer ein großer Schriftsteller, obwohl er nicht wußte, über was Homer geschrieben hatte. Einen einfacheren, natürlicheren Menschen wird man wohl schwerlich finden. Laster und Krankheit, durch welche auf die Welt ein düsterer Schatten geworfen wird, schienen für ihn kaum zu existieren. Er war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hatte Canada und sein Vaterhaus vor ungefähr zwölf Jahren verlassen, um in den »Vereinigten Staaten« zu arbeiten, Geld zu verdienen und sich späterhin, vielleicht in seiner Heimat, eine Farm kaufen zu können. Er war aus grobem Holz geschnitzt, hatte einen stämmigen, schwerfälligen Körper, den er jedoch ganz anmutig zu bewegen wußte, einen starken sonnverbrannten Nacken, dunkles buschiges Haar und trübe, schläfrige blaue Augen, die bisweilen in der Erregung aufleuchteten. Er trug eine enganliegende, graue Tuchmütze, einen schmutzigen, wolligen Überrock und Stiefeln aus Rindsleder. Er war ein starker Fleischesser. Gewöhnlich trug er sein Essen in einem Zinneimer nach seinem einige Meilen von meinem Hause entfernten Arbeitsplatz; dort fällte er während des ganzen Sommers Holz. Er aß kaltes Fleisch, oftmals ein kaltes Murmeltier und trank dazu Kaffee; ein Steinkrug, der an einem Bindfaden von seinem Gürtel herniederbaumelte, war damit angefüllt. Manchmal bot er mir einen Schluck davon an. Früh am Morgen kam er quer über mein Bohnenfeld dahergeschlendert; er ging nicht hastig und unruhig zur Arbeit wie die Yankees. »Nur keine Überstürzung« schien er zu denken. Ihm genügte es, wenn er nur seinen Lebensunterhalt verdiente. Nicht selten, wenn sein Hund auf der Wanderung ein Murmeltier erlegt hatte, pflegte er sein Mittagessen im Gebüsch stehen zu lassen. Er ging dann anderthalb Meilen zurück, um die Beute herzurichten und im Keller seines Hauses aufzuheben, nachdem er sich eine halbe Stunde lang überlegt hatte, ob er sie nicht bis zum Abend getrost in den Teich versenken könne. Solchen Erwägungen hing er mit Vorliebe nach. Er pflegte auch im Vorübergehen morgens früh zu sagen: »Wie eng beieinander die Tauben heute wieder fliegen! Wenn ich nicht alle Tage Tagelöhner von Beruf wäre, könnte ich mir alles Fleisch, das ich brauche, durch die Jagd verschaffen: Tauben, Murmeltiere, Kaninchen, Rebhühner! Herrgott im Himmel! Ich könnte alles, was ich für die ganze Woche nötig habe, an einem Tage mir verschaffen!«

Er war ein geschickter Holzhauer, und liebte es in seiner Kunst Schnörkel und Ornamente anzubringen. Er fällte seine Bäume in horizontaler Linie dicht über dem Erdboden, damit nachwachsende Triebe kräftiger würden, damit auch die Schlitten ungehindert über die Stümpfe gleiten könnten. Anstatt einen ganzen Baum als Stütze für sein aufgeschichtetes Holz unberührt zu lassen, hackte er soviel von ihm ab, daß nur ein schlanker Stab oder ein Splitter stehen blieb, den man schließlich mit der Hand abbrechen konnte.

Er interessierte mich, weil er so still und einsam und doch so glücklich war. Eine Quelle des guten Humors und der Zufriedenheit strömte aus seinen Augen. Sein Frohsinn war ungetrübt. Bisweilen besuchte ich ihn im Walde bei der Arbeit, beim Baumfällen. Er empfing mich dann mit einem Lachen voll unaussprechlicher Befriedigung und mit einem Gruß in kanadischem Französisch, obwohl er ebensogut Englisch sprach. Wenn er mich herankommen sah, hielt er mit der Arbeit inne und streckte sich mit halbunterdrückter Fröhlichkeit der Länge nach an einem Fichtenstamm, den er gefällt hatte, nieder. Dann schälte er sich ein Stück der inneren Baumborke ab, rollte es zu einer Kugel zusammen, und begann es unter Lachen und Schwatzen zu kauen. Er besaß eine solche Überfülle an animalischer Lebenskraft, daß er sich manchmal, wenn ihn irgend etwas zum Nachdenken reizte und ihm gefiel, auf die Erde warf und sich lachend auf ihr herumwälzte. Wenn er rundum die Bäume betrachtete, schrie er: »Zum Kuckuck! Ich habe genug Spaß an meiner Holzhauerei! Ich will keine bessere Beschäftigung!« Bisweilen hatte er keine Arbeit; dann vergnügte er sich den ganzen Tag lang in den Wäldern mit seiner Taschenpistole; er schoß für sich selbst beim Herumwandern in regelmäßigen Zwischenräumen Salut. Im Winter machte er ein Feuer an, über welchem er mittags seinen Kaffee in einem Kessel wärmte; und wenn er auf einem Baumstumpf saß, um sein Mittagbrot zu verzehren, dann kamen bisweilen Schwarzmeisen angeflogen, hüpften auf seinen Arm und pickten in die Kartoffel, die er zwischen den Fingern hielt. Er aber pflegte dann zu sagen: »Ich hab' es gern, wenn die ›kleinen Kerle‹ da um mich sind.«

In ihm war hauptsächlich der animalische Mensch entwickelt. An physischer Ausdauer und Genügsamkeit war er der Fichte und dem Felsen verwandt. Ich fragte ihn einmal, ob er nicht bisweilen abends nach solch harter Tagesarbeit müde sei. Er antwortete mit einem offenen und ernsten Blick: »Potz sapperment! Ich war nie in meinem ganzen Leben müde.« Der intellektuelle und der geistige Mensch in ihm lagen im Schlummer wie bei einem Kindchen. Er war nur auf jene unschuldige und unwirksame Weise unterrichtet worden, in welcher der katholische Priester die Eingeborenen belehrt und durch welche der Schüler nie zu einem bestimmten Grad von Bewußtsein, sondern nur zu einem bestimmten Grad von Vertrauen und Ehrfurcht erzogen wird, durch welche auch das Kind nie zum Mann gemacht wird, sondern Kind bleibt. Als die Natur ihn schuf, gab sie ihm einen kräftigen Körper und Zufriedenheit für seinen Lebensweg mit und stützte ihn an beiden Seiten mit Ehrfurcht und Vertrauen, damit er seine siebenzig Jahre verbringen möge wie ein Kind. Er war so urwüchsig und harmlos, daß es seinem Nachbar gerade so schwer wurde mit ihm näher bekannt zu werden wie mit einem Murmeltier. Er mußte ihn enträtseln, gerade so mühsam wie ich. Er wollte keine Rolle spielen. Die Menschen gaben ihm seinen Arbeitslohn und verhalfen ihm auf diese Weise zu Kleidung und Nahrung. Aber Ansichten tauschte er nie mit ihnen aus. Er war so einfach und demütig von Natur aus – wenn der demütig genannt werden kann, der nie etwas erstrebte – daß die Demut keine auffallende Eigenschaft an ihm war; auch kam sie ihm selbst nicht zum Bewußtsein. Klügere Menschen waren für ihn Halbgötter. Wenn man ihm erzählte, daß solch einer kommen würde, gab er deutlich zu verstehen, daß so etwas Gewaltiges nichts mit ihm gemeinsam haben würde, sondern alle Verantwortlichkeit auf sich selbst laden und ihn der Vergessenheit, wie bislang, überlassen müsse. Er hörte nie ein lobendes Wort. Schriftsteller und Priester wurden hauptsächlich von ihm verehrt. Ihre Taten waren Wunder. Als ich ihm mitteilte, daß ich ziemlich viel schreibe, glaubte er lange Zeit, ich meine das Schreiben mit der Hand; er schrieb selbst eine halbwegs gute Handschrift. Manchmal fand ich den Namen seiner heimatlichen Gemeinde mit dem Akzent auf der richtigen Silbe schön in den Schnee am Wegesrand geschrieben. Ich wußte dann, er war vorübergekommen. Ich fragte ihn, ob er je gewünscht habe seine Gedanken niederzuschreiben. Er gab zur Antwort, daß er Briefe für diejenigen, die dazu nicht imstande waren, gelesen und geschrieben habe; indessen: Gedanken zu schreiben habe er nie versucht. Nein, das könne er nicht, er wisse auch nicht, wie er anfangen solle – es würde ihn umbringen; und dann müsse man doch auch zu gleicher Zeit auf das Buchstabieren acht geben.

Ich war dabei, als ein hervorragend begabter Mensch und Reformator ihn fragte, ob er sich die Welt nicht anders wünsche. Er antwortete in seinem kanadischen Akzent aus vollem Halse lachend und ohne zu wissen, daß diese Frage je vorher gestellt worden war: »Nein, ich bin mit ihr ganz zufrieden.« Die Unterhaltung mit ihm konnte in einem Philosophen manchen Gedankengang anregen. Ein Fremder konnte glauben, er wisse nichts von den Dingen im allgemeinen. Ich aber sah bisweilen in ihm einen Menschen, den ich nie zuvor gesehen hatte und ich wußte nicht, ob er so weise wie Shakespeare oder so harmlos dumm wie ein Kind sei – ob ich ihn für zart und poetisch empfindend oder für ein beschränktes Wesen halten sollte. Ein Dorfbewohner sagte mir, er habe den Kanadier einst gesehen, als dieser vor sich hinpfeifend durch das Dorf geschlendert sei: da habe er auf ihn den Eindruck eines verkleideten Prinzen gemacht.

Seine einzigen Bücher waren ein Almanach und eine Arithmetik. Das Rechenbuch kannte er ganz genau. Der Almanach war eine Art Konversationslexikon für ihn; er glaubte, darin wären die Grundbegriffe des gesamten menschlichen Wissens enthalten. In gewissem Sinne ist das ja auch der Fall. Ich suchte mit Vorliebe seine Ansichten über die verschiedenen Reformen der Gegenwart zu erfahren: immer betrachtete er sie vom einfachsten und praktischen Standpunkte aus. Er hatte bislang nichts davon gehört. Ob er ohne Fabriken sich behelfen könne, fragte ich ihn? Er habe einen hausgesponnenen, grauen Vermontanzug, war die Antwort, und der sei gut. Ob er Tee und Kaffee entbehren könne, und ob dies Land noch andere Getränke als Wasser liefere? Er habe die Nadeln der Hemlockstanne in Wasser eingeweicht, den Abguß getrunken und gefunden, daß er an heißen Tagen zuträglicher sei als Wasser. Als ich ihn fragte, ob er ohne Geld sich behelfen könne, wies er die praktische Bedeutung des Geldes in einer Weise nach, die sich mit durchaus philosophischen Aufsätzen über den Ursprung dieser Einrichtung deckte, und sogar die Herkunft des Wortes pecunia erklärte. Wenn er einen Ochsen besäße und Nadel und Zwirn in einem Laden einkaufen wolle, so würde es gar bald unbequem und unmöglich werden, jedesmal einen Teil des Tieres zu verpfänden. Er konnte manche Einrichtungen besser verteidigen als ein Philosoph; denn wenn er beschrieb, wie sie ihm erschienen, gab er den wahren Grund ihrer Berechtigung an; durch Nachdenken war ihm kein andrer eingefallen. Ein anderes Mal erzählte man ihm, Plato habe den Menschen als ein zweibeiniges Tier ohne Federn definiert, und infolge dessen habe irgend jemand einen Hahn gerupft und ihn als den Menschen Platos herumgezeigt. Da erwiderte er: »Meiner Ansicht nach liegt aber ein wichtiger Unterschied darin, daß die Knie sich nach der verkehrten Seite biegen!« Manchmal rief er laut: »Wie gern unterhalte ich mich! Zum Kuckuck! Ich könnte mich den ganzen Tag lang unterhalten.« Gelegentlich fragte ich ihn, als ich ihn während vieler Monate nicht gesehen hatte, ob ihm im Lauf des Sommers ein neuer Gedanke gekommen sei. »Du lieber Gott«, antwortete er, »wenn ein Mann, der arbeiten muß wie ich, seine alten Gedanken nicht vergißt, soll er zufrieden sein. Wenn der Mensch, mit dem man zusammen Unkraut hackt, mit einem um die Wette arbeiten will, ja dann, sapperment, muß man seine Gedanken zusammenhalten, man muß ans Unkraut denken.« Bei solchen Anlässen fragte er mich bisweilen zuerst, ob ich irgend welche Fortschritte gemacht habe. An einem Wintertage stellte ich ihm die Frage, ob er immer mit sich selbst zufrieden gewesen sei. Ich wünschte ihn darauf hinzuleiten, für den Priester dieser Welt einen Ersatz in seiner Innenwelt und einen höheren Lebenszweck zu suchen. »Zufrieden!« rief er aus, »der eine ist zufrieden, wenn er das tägliche Brot hat und nun den ganzen Tag dasitzen kann, mit dem Rücken nach dem Feuer und mit dem Dickwanst gegen den Tisch, zum Kuckuck!« Es gelang mir übrigens auf keine Weise ihn zu einer geistigen Auffassung der Außenwelt zu veranlassen. Der Höhepunkt seines Begriffsvermögens war ein oberflächliches instinktives Gefühl, wie es auch das Tier aufweist. Das gilt in Wahrheit von den meisten Menschen. Wenn ich ihm irgend eine Verbesserung für seine Lebensführung vorschlug, antwortete er mir, ohne irgend welches Bedauern, daß es dazu zu spät sei. Er glaubte indessen durchaus an Ehrlichkeit und ähnliche Tugenden.

Er besaß bis zu einem gewissen Grade eine positive, wenn auch geringe Originalität, und gelegentlich beobachtete ich, daß er selbständig dachte und seiner eigenen Meinung Ausdruck verlieh. Das ist immerhin ein so seltenes Phänomen, daß ich zu jeder Zeit zehn Meilen weit gehen würde, um so etwas zu erleben. Er ließ sich über die vollkommene Neugestaltung vieler gesellschaftlichen Institutionen aus. Obwohl alles nur zögernd herauskam, obwohl er sich vielleicht nicht einmal klar ausdrückte: ein verständiger Gedanke bildete stets die Basis. Doch sein Denken war so urwüchsig und in das animalische Leben verwoben, daß es, obwohl es vielversprechender war als das eines bloß gelehrten Mannes, selten Früchte zeitigte, die des Pflückens wert waren. Er gemahnte daran, daß in den niedrigsten Lebensstellungen geniale Menschen sich befinden mögen, die – einerlei wie bescheiden und unkultiviert sie Zeit ihres Lebens bleiben – stets ihre eigene Ansicht haben oder vorgeben überhaupt nichts zu verstehen. Mögen sie auch unbekannt und zerlumpt sein, sie sind so tief wie der Waldenteich, dessen Tiefe man nur ahnen kann. Mancher Reisende machte einen Umweg, um mich und das Innere meines Hauses zu sehen; die Bitte um ein Glas Wasser diente als Vorwand. Ich teilte solchen Leuten mit, daß ich selbst aus dem Teich zu trinken pflege, wies sie dorthin und bot ihnen leihweise meinen Schöpfer an. Obgleich ich im Verborgenen wohne, blieb ich von den jährlichen Besuchen nicht verschont, die, soviel ich weiß, ungefähr um den ersten April stattfinden, wo jedermann ausfliegt. Im großen und ganzen war ich hierin allerdings vom Glück begünstigt, wenn auch einige merkwürdige Exemplare unter meinen Gästen sich befanden. Närrische Leute aus dem Armenhaus und Gott weiß woher machten mir ihre Aufwartung. Ich gab mir Mühe, daß sie den noch vorhandenen Verstand anwendeten und mir beichteten. Da in solchen Fällen der Verstand das Gesprächsthema bildete, wurde ich belohnt. Ja, ich fand, daß einige von ihnen verständiger waren als die sogenannten Armenaufseher und Stadträte, und hielt es für angezeigt, daß der Spieß gewendet würde. In bezug auf den Verstand machte ich die Erfahrung, daß kein großer Unterschied besteht zwischen denen, die ihn ganz, und denen, die ihn halb besitzen. So besuchte mich zum Beispiel eines schönen Tages ein ganz harmloser, einfältiger Armenhäusler. Ich hatte ihn oft gesehen, wenn er mit anderen zusammen einen lebenden Zaun bilden half. Er stand oder saß dann inmitten der Felder auf einem Scheffelmaß und gab acht, daß er selbst und das Vieh sich nicht verliefen. Dieser Mensch sprach den Wunsch aus so zu leben wie ich. Er erzählte mir mit der größtmöglichen Einfachheit und Ehrlichkeit, die hoch über oder vielmehr unter allem standen, was man Demut nennt, daß »sein Verstand minderwertig sei«. Das waren seine eigenen Worte. Der liebe Gott habe ihn so gemacht, doch er glaube, daß der Herrgott für ihn gerade so gut sorge wie für die andern. »Ich bin immer so gewesen«, fuhr er fort, »seit meiner Kindheit. Ich bin schwach im Kopfe. Ich glaube, das war Gottes Wille.« Und da stand er nun vor mir, um die Wahrheit seiner Worte zu bestätigen. Es war für mich ein metaphysisches Rätsel. Selten traf ich einen Mitmenschen mit solch vielversprechenden Grundlagen an; jedes seiner Worte war einfach, ehrlich und wahr. Und tatsächlich wurde er in dem Maße, in welchem er sich zu erniedrigen schien, erhöht. Ich war anfangs nicht ganz sicher, ob nicht etwa alles an ihm das Resultat einer klugen Politik war. Bald aber wußte ich, daß Wahrheit und Offenheit des schwachsinnigen Armenhäuslers innerstes Wesen ausmachten, und daß auf dieser Basis eine Unterhaltung mit ihm trefflicher gedeihen konnte als die Unterhaltung mit Philosophen.

Ich hatte auch Gäste, die man gewöhnlich nicht unter die Armen der Stadt zählt, die aber dazu gehören – wenigstens zu den Armen der Welt. Das sind Gäste, die nicht Hospitalität sondern Hospitalhospitalität beanspruchen, die dringende Hilfe wünschen und ihrer Bitte eine Einleitung vorausschicken, in welcher verkündet wird, daß sie auf keinen Fall sich selbst helfen wollen. Ich verlange von einem Gast, daß er nicht gerade am Verhungern ist; meinetwegen mag er den besten Appetit haben, und woher er sich den holte, das geht mich nichts an. Bettler sind keine Gäste. Leute kamen zu mir, die nicht wußten, wann sie ihren Besuch zu beenden hatten, obgleich ich wieder an meine Arbeit ging und ihnen aus immer größerer Entfernung antwortete. Leute von allen Graden der Begabung suchten mich auf um die Zeit, wo die Menschen mit Vorliebe Ausflüge aufs Land machen, Leute, die mehr Verstand hatten als sie verwerten konnten: davongelaufene Sklaven mit plumpen Manieren, die von Zeit zu Zeit, wie der Fuchs in der Fabel, horchten, ob die klaffende Meute auf ihrer Spur sei, die flehentlich zu mir emporblickten, als ob sie sagen wollten:

»O Christenmensch, willst Du zurück uns senden?«

Ja, ein Sklave, der tatsächlich entlaufen war, kam zu mir, und ich half ihm weiter – gegen den Nordstern hin. Dann wieder stellte sich ein Mensch ein mit einer einzigen Idee, wie eine Henne mit einem Küchlein, das obendrein ein Entlein war. Andere sprach ich, die hatten tausend Ideen und ungekämmte Haare, wie Hennen, die auf hundert Küken acht geben müssen, welche alle einem Käfer nachlaufen; mehr als ein Dutzend geht in jedem Morgentau verloren und die Hüter und Pfleger werden mit der Zeit widerhaarig und schäbig. Da kamen Leute mit Ideen statt mit Beinen, eine Art geistiger Tausendfüßler, in deren Gegenwart man sich fortwährend jucken mußte. Ein Mann schlug mir sogar vor ein Buch auszulegen, in welches alle Besucher ihre Namen einschreiben sollten – wie in den »Weißen Bergen«. Doch – Du liebe Zeit – mein Gedächtnis ist zu gut, als daß so etwas nötig wäre.

Einige Eigentümlichkeiten meiner Besucher konnte ich unmöglich übersehen. Mädchen, Knaben und Frauen schienen sich über den Aufenthalt in den Wäldern zu freuen. Sie sahen in den Teich und nach den Blumen und genossen die Stunden. Geschäftsleute, selbst Farmer interessierten sich zumeist für meine Einsamkeit, meine Beschäftigung und für die Entfernung, die mich von dem einen oder anderen Gegenstande trennte, und wenn sie auch sagten, daß sie recht gern von Zeit zu Zeit einen Ausflug in den Wald machten, so kam ihnen diese Äußerung, das merkte ich nur allzu gut, nicht von Herzen. Rastlose, knechtschaffene Männer, die all ihre Zeit dazu verwendeten Geld zu verdienen oder zusammen zu halten, Geistliche, die über den Herrgott sprachen, als ob sie ein Monopol darauf besäßen, Doktoren, Rechtsanwälte, verdrießliche Hausfrauen, die ihre Nasen in Schrank und Bett steckten, sobald ich nicht zuhause war, – woher konnte sonst Frau P. . . . . wissen, daß meine Bettücher nicht so rein waren wie ihre eigenen? – junge Leute, die nicht mehr jung waren und glaubten, es sei das sicherste, auf dem ausgetretenen Pfade der Berufsarten zu wandeln: – all diese Menschen gaben mir meistenteils zu verstehen, daß es unmöglich sei in meiner Lage viel Gutes zu tun. Ja, da liegt's! Ihnen schien das Leben voll Gefahren – doch wo ist Gefahr, wenn man nicht an sie denkt? – und darum hielten sie es für angezeigt, als verständige Menschen sorgfältig die sicherste Lage auszuwählen, dort wo Dr. B. . . . im Notfall sofort zur Stelle war. Ihnen war die Stadt wirklich eine Com-munitas, eine Vereinigung zu Schutz und Trutz. Daß solche Leute nicht ohne Taschenapotheke zum Preißelbeerenpflücken ausgingen, ist selbstverständlich. Kurzum: wenn ein Mensch lebendig ist, schwebt er immer in Todesgefahr, obgleich man zugeben muß, daß die Gefahr um so geringer ist, je mehr er von vornherein scheintot ist. Der Mensch sitzt so viele Gefahren als er läuft. Schließlich besuchten mich auch Leute, die sich selbst den Titel Reformator beilegten. Das waren die widerlichsten von allen. Sie dachten, ich sänge ohne Unterlaß:

»Dies ist das Haus, das ich baute,
»Dies ist der Mann, der da wohnt in dem Haus, das ich baute.«

Sie wußten jedoch nicht, daß die dritte Zeile lautete:

»Dies sind die Leute, die plagen den Mann,
»Der da wohnt in dem Haus, das ich baute.« Amerikanisches Kinderlied.

Ich hatte keine Angst vor Tierschindern, denn ich hatte keine Tiere, doch vor Menschenschindern hatte ich Angst.

Meistens machten mir jedoch meine Besucher Freude: Kinder, die kamen, um Beeren zu pflücken, Eisenbahnbeamte, die in sauberer Kleidung ihren Sonntagmorgen-Spaziergang machten, Fischer und Jäger, Dichter und Philosophen, kurz, alle ehrbaren Pilger, die tatsächlich die Stadt hinter sich ließen und um der Freiheit willen in die Wälder wanderten – für alle hatte ich den Gruß bereit: »Willkommen Engländer! Willkommen Engländer!« Denn mit dieser Nation hatte ich schon in Verkehr gestanden.


 << zurück weiter >>