Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einsamkeit

Das ist ein herrlicher Abend! Der ganze Körper ist nur ein Sinn und saugt Entzücken mit jeder Pore ein. Ich wandle mit gar seltsamer Freiheit in der Natur umher; ich bin ein Teil von ihr. Wenn ich am steinigen Teichufer in Hemdärmeln entlanggehe, obwohl es bewölkt und windig ist, und nichts, was meine Aufmerksamkeit besonders erregt, bemerke, dann fühle ich mich ungewöhnlich stark allen Elementen verwandt. Die Ochsenfrösche trompeten, um die Nacht anzukünden, und der Sang des Tagschläfers wird vom Wellengekräusel über das Wasser getragen. Es besteht ein solcher Einklang zwischen mir und jedem zitternden Erlen- oder Pappelblatt, daß ich kaum zu atmen vermag. Und doch ist mein tiefer Friede, wie der des Sees, nur gekräuselt, nicht gestört. Diese kleinen Wellen, die der Abendwind erweckt, sind so weit vom Sturm entfernt wie die glatte, spiegelnde Oberfläche des Wassers. Jetzt ist es dunkel geworden, doch noch weht rauschend der Wind durch den Wald, noch plätschern die Wellen und ein Geschöpf singt das andere zur Ruh. Die Ruhe ist nie vollkommen. Die wilden Tiere rasten nicht, sondern suchen ihre Beute. Fuchs und Skunk Skunk, amerikanisches Stinktier, Viverra mephitis. und Kaninchen durchstreifen jetzt furchtlos Felder und Wälder. Sie sind die Nachtwächter der Natur – Bindeglieder, welche die Tage regen Lebens miteinander verbinden.

Nach Hause zurückgekehrt bemerke ich, daß Besucher dagewesen sind und ihre Karten zurückgelassen haben: eine Handvoll Blumen, einen Kranz aus Immergrün oder einen Namen, der mit Bleistift auf ein gelbes Walnußblatt oder auf einen Span geschrieben wurde. Leute, die selten in den Wald kommen, nehmen gern ein Stückchen Wald in die Hände, um beim Wandern damit zu spielen; nachher werfen sie es irgendwo fort – absichtlich oder zufällig. Irgend jemand hat eine Weidenrute abgeschält, einen Ring daraus geformt und ihn auf meinen Tisch gelegt. Entweder an den umgebogenen Zweigen und Grashalmen oder an den Fußspuren konnte ich immer erkennen, ob Besucher während meiner Abwesenheit dagewesen waren. Ja, auch über ihr Geschlecht, ihr Alter und ihren Charakter wurde ich meistens aufgeklärt durch irgend eine unbedeutende zurückgelassene Spur: durch eine zur Erde gefallene Blume, durch ein Büschel Gras, das man ausgerissen und wieder fortgeworfen hatte oder durch den noch in der Luft schwebenden Geruch einer Zigarre oder Pfeife. Eine halbe Meile weit, bis zur Eisenbahn, fand ich solche Spuren. Daß überhaupt ein Wanderer auf der ungefähr dreihundert Schritte entfernten Landstraße vorbeizog, erfuhr ich häufig nur durch den Duft seiner Pfeife.

Meistens ist genügend Raum um uns herum. Unser Horizont stößt niemals dicht an unsere Ellbogen. Das Waldesdickicht ist nicht unmittelbar vor unserer Tür, auch nicht der See, sondern ein kleines Stück Natur ist für jeden von uns freigelegt, uns vertraut und angepaßt, auf irgend eine Weise von uns erobert und umzäunt, von der Natur für uns zurückgefordert. Wozu habe ich dieses weite, mehrere Quadratmeilen große Waldgebiet zu meinem Privatgebrauch von meinen Mitmenschen erhalten? Mein nächster Nachbar wohnt eine Meile weit entfernt; im Umkreis von einer halben Meile ist von meinem Wohnort aus kein anderes Haus zu sehen, nur dann vielleicht, wenn man auf einen Gipfel der Hügel steigt. Mein Horizont ist von Wäldern umrahmt und gehört mir ganz allein. Auf der einen Seite habe ich einen Fernblick auf die Bahn, dort, wo sie den Teich berührt, auf der andern Seite auf den Zaun, der den Waldweg begrenzt. Im übrigen ist es hier, wo ich lebe, so einsam wie auf den Prärien. Hier ist gerade so gut Asien oder Afrika wie Neuengland. Ich habe tatsächlich Sonne, Mond und Sterne – eine kleine Welt ganz für mich allein. Nachts kam nie ein Wandersmann an meinem Haus vorüber; nie klopfte einer an meine Tür. Ich hätte so gut der erste wie der letzte Mensch sein können. Nur im Frühjahr trafen nach langer Pause ein paar Menschen aus dem Dorf ein, um Bricken zu fischen; sie fischten augenscheinlich mehr in dem Waldenteich ihres eigenen Herzens und steckten die Finsternis als Köder an ihre Angelhaken. Nach kurzem Verweilen zogen sie jedoch meistens mit fast leeren Körben ab und überließen »die Welt der Finsternis und mir.« Zitat aus dem berühmten Gedicht von Gray: Elegy written in a country churchyard (Elegie auf einem Friedhof verfaßt). Das Gedicht beginnt mit den Versen:
    »Die Abendglocke ruft den müden Tag zu Grabe;
    »Matt blökend kehrt das Vieh in langsam schwerem Trabe
    »Heim von der Au; es sucht der Landmann seine Tür
    »Und überläßt die Welt der Dunkelheit und mir.«
So wurde der schwarze Kern der Nacht nie durch menschliche Nähe entweiht. Ich glaube die Menschen haben noch immer etwas Angst vor der Dunkelheit, obwohl alle Hexen gehenkt und Christentum und Kerzen eingeführt wurden.

Meine Erfahrungen haben mich indessen gelehrt, daß der lieblichste und zärtlichste, der unschuldigste und erfrischendste Gesellschafter in irgend einem natürlichen Gegenstand gefunden werden kann, selbst für den menschenfeindlichsten, melancholischsten Menschen. Wer inmitten der Natur lebt und seine Sinne noch beisammen hat, der kann einer wirklichen, düsterschwarzen Melancholie nicht anheimfallen. Mögen auch noch so oft gewaltige Stürme toben, einem unschuldigen und gesunden Ohr klingen sie stets wie Musik – Äolsharfenmusik. Nichts kann einen einfachen, unerschrockenen Mann zu gemeiner Traurigkeit zwingen. Während ich mich der Freundschaft der Jahreszeiten erfreue, hoffe ich zuversichtlich, daß nichts mir das Leben zur Last machen kann. Der leise Regen, der meine Bohnen wässert und mich heute ans Haus fesselt, ist nicht langweilig oder melancholisch, sondern nutzbringend für mich. Zwar hält er mich ab meine Bohnen zu hacken, doch bringt er ihnen mehr Vorteil als mein Hacken. Sollte so viel Regen fallen, daß die Saat im Boden fault und die Kartoffeln im niedrig gelegenen Ackerland verderben, so wäre er noch immer eine Wohltat für das Gras an Hügelhängen. Ist er aber für das Gras gut, so ist er auch gut für mich. Wenn ich bisweilen zwischen mir und andern Menschen Vergleiche anstelle, so kommt es mir vor, als ob die Götter mich mehr begünstigt hätten als sie, weitaus über mein Verdienst – das weiß ich nur allzu gut. Mir ist, als hätte ich einen Erlaubnisschein, eine Garantie von ihrer Hand, die meine Mitmenschen nicht besitzen, so daß ich mich ganz besonderer Leitung und Fürsorge erfreue. Ich will mir selbst nicht schmeicheln, doch – wenn das überhaupt möglich ist – schmeicheln sie mir. Ich habe mich nur einmal einsam, oder durch das Bewußtsein der Einsamkeit bedrückt gefühlt. Das geschah, als ich erst einige Wochen im Walde wohnte. Damals war ich eine Stunde lang im Zweifel, ob nicht die unmittelbare Nachbarschaft eines Menschen zu einem friedvoll heiteren und gesunden Leben erforderlich sei. Damals war mir meine Einsamkeit unangenehm. Ich war mir übrigens zu dieser Zeit einer leichten seelischen Gleichgewichtsstörung wohl bewußt und schien meine Genesung vorauszusehen. Während leise der Regen niederfiel und solche Gedanken mich beherrschten, verspürte ich plötzlich, welch wohltuende und holde Gesellschafterin die Natur ist: am Fallen der Tropfen, an jedem Klang und Anblick um mein Haus herum. Eine unendliche, unerklärliche Freundschaft umfing mich plötzlich wie ein Dunstkreis. Die eingebildeten Vorteile menschlicher Nähe schwanden dahin und nie habe ich wieder an sie gedacht. Jede kleine Tannennadel dehnte sich aus, strömte über von Sympathie und wurde mir Freund. Selbst an Orten, die wir gewöhnlich als wild oder langweilig bezeichnen, fühlte ich deutlich, daß etwas mir Verwandtes in der Nähe sein müsse, daß das mir am meisten Blutsverwandte, das Menschlichste für mich nicht im Menschen, in einem Dorfbewohner zu suchen sei. Ja, ich glaubte, kein Ort könne mir je wieder fremd erscheinen.

»Zu früh verzehrt die Traurigen die Trauer!
»Ihr Erdenwallen währt nur kurze Frist,
»Du schöne Tochter Toskars.«

Einige meiner angenehmsten Stunden verlebte ich im Frühling oder im Herbst während der langen Regenstürme, die mich sowohl vormittags wie nachmittags ans Haus fesselten, während ein beständiges Rauschen und Plätschern mich sanft umschmeichelte. Die früh hereinbrechende Dämmerung leitete einen langen Abend ein, an welchem viele Gedanken Zeit hatten Wurzel zu fassen und sich zu entfalten. Und wenn dann von Nordosten her die Regenstürme kamen und die Häuser im Dorf so arg bedrängten, daß die Mägde mit Scheuerlappen und Eimer an der Haustür standen, um die Sintflut nicht hereinzulassen, da saß ich hinter meiner Tür in meinem kleinen Hause, das nichts wie Eingang war und erfreute mich seines Schutzes in aller Ruhe. Während eines heftigen Gewitterschauers schlug einmal der Blitz in eine hohe Tanne und höhlte eine deutlich sichtbare und absolut regelmäßige spiralige Rinne aus, die (ungefähr einen Zoll tief und drei Zoll breit) vom Wipfel bis zur Wurzel sich erstreckte. Man dachte unwillkürlich an einen ausgekerbten Spazierstock. Erst kürzlich kam ich wieder an dem Baum vorbei; ich fühlte ein ehrfurchtsvolles Erschauern, als ich beim Hinaufblicken jenes Zeichen erblickte, das von dem fürchterlichen Donnerkeil kündete, der hier vor acht Jahren mit Allgewalt aus heiterem Himmel niederfuhr. Die Menschen sagten mir oft: »Sie fühlen sich gewiß recht einsam hier und möchten wohl gern, wenn es regnet oder schneit, und besonders in der Nacht näher bei ihren Freunden sein!« Solchen Leuten möchte ich am liebsten antworten: Diese ganze, von uns bewohnte Erde ist nur ein Punkt im Raum. Wie weit wohnen, Ihrer Ansicht nach, die beiden entferntesten Bewohner jenes Sternes auseinander, dessen Scheibendurchmesser mit unseren Instrumenten nicht einmal annähernd berechnet werden kann? Warum sollte ich mich einsam fühlen? Befindet sich unser Planet nicht in der Milchstraße? Die Frage, die Sie stellen, scheint mir nicht die wichtigste zu sein. Von welcher Art ist der Raum, der den Menschen von seinen Mitmenschen trennt und ihn einsam macht? Ich fand, daß keine Anstrengung der Füße zwei Seelen je einander um vieles näher brachte. In wessen Nähe möchte ich am liebsten wohnen? Sicherlich nicht in der Nähe vieler Menschen, des Bahnhofs, des Postamts, der Gastwirtschaft, des Versammlungshauses, der Schule oder des Gewürzkrämers, nicht in die Nähe von Beacon Hill Beacon Hill, vornehmer Stadtteil in Boston. oder von » Five Points« Five Points, Proletarierviertel in New York. wo Menschen in Massen zusammenströmen! Nein, es zieht uns hin zum ewigen Quell, von dem, wie alle unsere Weisheit lehrt, unser Leben stammt. So sendete auch der Weidenbaum am Bachesrand ins Wasser seine Wurzeln aus. Verschiedene Individualitäten werden verschieden wählen, doch gerade hier wird ein weiser Mann seine Hütte bauen . . . Ich überholte eines Abends auf der Waldenstraße einen Bekannten aus dem Dorfe, der, wie man so sagt, »sein Schäfchen ins Trockne« gebracht hatte – auf mich machte es allerdings nie einen sauberen Eindruck. Er trieb gerade ein paar Ochsen zu Markte, und fragte mich, wie ich mich habe entschließen können, so vielen Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen. Ich gab zur Antwort, daß ich mich halbwegs wohl dabei befinde und durchaus nicht spaße. Ich ging dann heim ins Bett und er tappte seinen Weg durch Finsternis und Schmutz nach Brighton oder Brightown; Brighton oder Brightown = die helle Stadt. dort wollte er bei Tagesanbruch eintreffen.

Hat ein Toter die Hoffnung einmal wieder aufzuwachen, wieder zum Leben zurückzukehren, so sind ihm Zeit und Ort gleichgültig. Der Ort, an dem dies geschehen könnte, ist immer derselbe und all unsren Sinnen unbeschreiblich angenehm. Meistens gestatten wir nur unbedeutenden und vorübergehenden Ereignissen einen Einfluß auf unseren Lebensgang. Gerade sie sind die Ursachen für unsere Verwirrung und Unruhe. Allen Dingen am nächsten steht jene Kraft, der sie ihr Dasein verdanken. In unserer unmittelbaren Nähe werden die gewaltigsten Gesetze ohne Unterlaß zur Anwendung gebracht. In unserer unmittelbaren Nähe befindet sich nicht der Arbeiter, den wir dingen, sondern der Arbeiter, dessen Werk wir sind.

»Wie unerschöpflich groß ist der Einfluß der geheimen Kräfte des Himmels und der Erde! Wir suchen sie zu erblicken und sehen sie nicht, wir suchen sie zu vernehmen und hören sie nicht. Identisch mit der Substanz der Dinge, können sie von ihnen nicht getrennt werden.« »Sie sind es, die die Menschen auf der ganzen Welt veranlassen ihre Herzen zu reinigen und zu heiligen, sich in Festgewänder zu hüllen, um ihren Vorfahren Opfergaben darzubringen. Sie sind ein Ozean feinster Intelligenzen. Sie sind überall – über uns, zu unsrer Linken, zu unsrer Rechten; sie umgeben uns von allen Seiten.«

Wir werden zu einem Experiment benutzt, das für mich im höchsten Grade interessant ist. Können wir unter diesen Umständen nicht für eine kurze Zeit auf die Gesellschaft von Vettern und Tanten verzichten, – uns an unseren eigenen Gedanken erbauen? Konfuzius spricht die Wahrheit, wenn er sagt: »Die Tugend bleibt nicht wie die verlassene Waise; sie muß notgedrungen Nachbarn haben.«

Das Denken ermöglicht uns bei gesunden Sinnen eine Doppelexistenz. Durch eine bewußte Anstrengung unseres Verstandes können wir Handlungen und ihre Folgen gleichsam aus der Perspektive betrachten. Alle Dinge, die guten, wie die bösen, rauschen wie ein Strom vorbei. Wir sind nicht völlig mit der Natur verschwistert. Ich kann sowohl das Treibholz im Flusse sein, als auch Indra im Himmel, der darauf herniedersieht. Ich kann vielleicht durch ein Schauspiel im Theater ergriffen werden; andererseits brauche ich nicht unbedingt durch ein reales Ereignis, das mich vielleicht viel näher angeht, ergriffen zu werden. Ich weiß nur, daß ich ein menschliches Wesen, der Schauplatz sozusagen von Gedanken und Leidenschaften bin. Ich bin mir auch einer gewissen Doppelexistenz bewußt, die mir gestattet mich selbst wie jeden anderen Menschen von ferne zu betrachten. Wie tiefe Kenntnisse auch immer ich besitze, stets habe ich das Bewußtsein, daß ein Teil in mir lebt, der Kritik übt. Und doch ist das eigentlich kein Teil von mir, sondern gleichsam ein Zuschauer, der selbst ohne Kenntnisse ist, aber von ihnen Notiz nimmt. Und dieser Teil gehört ebensowenig mir wie Dir. Wenn das Schauspiel, vielleicht die Tragödie des Lebens vorbei ist, dann geht der »Zuschauer« seines Wegs. Aus seiner Perspektive erschien es ihm wie eine Art Dichtung, wie ein Werk der Phantasie. Diese Doppelexistenz kann uns manchmal mit leichter Mühe zu erbärmlichen Nachbarn und Freunden machen.

Ich halte es für gesund, die meiste Zeit allein zu sein. Gesellschaft, selbst mit den Besten, wird bald langweilig und zerstreuend. Ich liebe die Einsamkeit. Nie fand ich einen Kameraden kameradschaftlicher als die Einsamkeit. Wir sind meistens einsamer, wenn wir zwischen Menschen umhergehen, als wenn wir in unsern Zimmern bleiben. Ein Mensch ist immer allein, wenn er denkt oder arbeitet, sei es wo er wolle. Einsamkeit wird nicht nach den Meilensteinen gemessen, die sich zwischen uns und unsern Mitmenschen befinden. Der wirklich fleißige Student, der zu Cambridge in einem der vollgepfropften Bienenstöcke lebt, ist so einsam wie der Derwisch in der Wüste. Der Farmer kann den ganzen Tag auf den Feldern oder in den Wäldern allein Holz hacken oder Bäume fällen und sich doch nicht einsam fühlen, weil er beschäftigt ist. Kommt er aber abends nach Haus, dann mag er nicht allein in seinem Zimmer sitzen, sich der Willkür seiner Gedanken überlassen, sondern es treibt ihn dahin, wo er »Leute sehen«, sich erholen und sich – seiner Ansicht nach – für des Tages Einsamkeit entschädigen kann. Und darum wundert er sich, daß der Gelehrte, ohne Langeweile oder melancholische Anwandlungen zu haben, zu Hause sitzen kann. Er vermag natürlich nicht zu begreifen, daß der Gelehrte, obschon er zu Hause bleibt, doch bei der Arbeit auf seinem Felde ist, wie ein Farmer Holz hackt in seinem Walde, daß er für seine Person die gleiche Erholung und Gesellschaft aufsucht wie der Farmer, wenn auch vielleicht in etwas konzentrierterer Form.

Gesellschaft ist meistens zu wohlfeil. Wir treffen uns nach allzu kleinen Pausen wieder und haben darum keine Zeit gehabt neuen Wert füreinander zu erlangen. Dreimal täglich sitzen wir bei den Mahlzeiten zusammen und einer gibt dem andern von dem alten, muffigen Käse, der wir sind, zu kosten. Wir mußten uns einer bestimmten Anzahl von Regeln fügen, die wir Etikette oder Höflichkeit nennen, um dies häufige Zusammensein erträglich zu machen, um offene Fehde zu verhüten. Wir treffen einander auf dem Postamt, an Empfangsabenden und am Kamin, wir leben dicht gedrängt, sind einander im Wege, stolpern übereinander und dadurch verlieren wir, wie mir scheint, etwas den Respekt vor einander. Für jeden wertvollen und herzlichen Verkehr würde ein weniger häufiges Zusammensein genügen. Man denke einmal an Fabrikmädchen: sie sind nie allein, kaum in ihren Träumen. Es wäre besser, wenn es nur einen Einwohner pro Quadratmeile gäbe, gerade wie dort, wo ich lebe. Den Wert des Menschen macht nicht seine Haut aus – wir brauchen ihn darum nicht zu berühren.

Man hat mir von einem Manne erzählt, der, im Walde verirrt, vor Hunger und Erschöpfung am Fuße eines Baumes starb. Seine Einsamkeit wurde ihm durch groteske Visionen erleichtert, mit welchen seine durch körperliche Schwäche erkrankte Phantasie ihn von allen Seiten umgab, und die er für Wirklichkeit hielt. So können aber auch wir mit unserer körperlichen und geistigen Kraft und Gesundheit beständig durch ähnliche, jedoch normalere und natürlichere Gesellschaft ermuntert werden und zu der Erkenntnis kommen, daß wir nie allein sind.

Ich habe viele Gäste in meinem Hause, besonders am Morgen, wenn kein Besuch kommt. Man gestatte mir einige Vergleiche zu gebrauchen, damit dieser oder jener sich einen Begriff von meiner Lage machen kann. Ich bin nicht einsamer als der Taucher, der dort auf dem Teiche so laut lacht, nicht einsamer als der Waldenteich selbst. Was für Gesellschaft hat denn dieser einsame See? Und doch birgt er keinen Trübsinn, sondern Himmelsheiterkeit in seinen Tiefen, in den Azurfarben seines Wassers. Die Sonne ist allein – nur bei dicker Luft scheinen oft zwei da zu sein; doch die eine ist imitiert. Gott ist allein – doch der Teufel ist sicherlich nicht allein; der hat gar viele Kameraden! Der ist Legion! Ich bin nicht einsamer als eine einzelne Königskerze, als ein Löwenzahn auf dem Wiesengrund, als ein Bohnenblatt, als Sauerampfer, Pferdefliege oder Hummel. Ich bin nicht einsamer als der Mühlenbach, der Wetterhahn, der Nordstern, der Südwind, oder ein Aprilschauer, ein Tautag im Januar, nicht einsamer als die erste Spinne im neuen Haus.

Gelegentlich bekomme ich an langen Winterabenden, wenn dicht der Schnee fällt und der Wind in den Wäldern heult, Besuch von einem alten Ansiedler, von dem ursprünglichen Besitzer. Man erzählt, er habe den Waldenteich ausgegraben, mit Steinen gepflastert und mit Tannenwaldungen umsäumt. Er erzählt mir Geschichten aus alter Zeit und neuer Ewigkeit. Uns beiden macht es keine Schwierigkeit einen frohen Abend voll geselliger Heiterkeit und sonniger Lebensanschauung miteinander zu verbringen, obwohl es weder Äpfel noch Apfelwein gibt. Ja, er ist der klügste und lustigste Freund; ich liebe ihn von Herzen. Er lebt jedoch noch mehr im Verborgenen, wie Goffe oder Whalley. Man glaubt zwar, daß er gestorben ist, doch niemand sah sein Grab. Eine ältere Dame wohnt ebenfalls in meiner Nachbarschaft, unsichtbar für die meisten Menschen. In ihrem duftenden Kräutergarten wandere ich gern umher, sammle bisweilen Kräuter und lausche ihren Märchen; sie weiß dieselben meisterhaft zu erzählen und hat einen unerschöpflichen Vorrat bereit. Ihr Gedächtnis reicht weiter zurück als Mythologie. Sie kennt das Urbild jeder Sage, weiß auf welcher Tatsache sie beruht, denn die Ereignisse geschahen allesamt in ihrer Jugendzeit. Eine rotwangige, lustige, alte Dame, der jedes Wetter und jede Jahreszeit behagt, und die wahrscheinlich alle ihre Kinder überleben wird.

Die unbeschreibliche Unschuld und Güte der Natur – Sonne, Wind und Regen, Sommer und Winter – gewähren immerdar solch gute Gesundheit und solchen Frohsinn, sie haben so viel Mitgefühl mit dem Menschengeschlecht, daß die Allnatur trauern, der Sonne Glanz erbleichen, die Winde wie Menschen seufzen, die Wolken Tränen regnen, die Wälder ihre Blätter abwerfen und im Hochsommer Trauer anlegen würden, wenn je ein Mensch wahrhaft Ursache hätte, traurig zu sein. Soll ich nicht mit der Erde im Einvernehmen sein? Bin ich selbst nicht zum Teil Blätter und Pflanzenerde?

Was ist das für eine Arznei, die uns glücklich, heiter und gesund erhält? Nicht die Deines oder meines Urgroßvaters, sondern die unserer Urgroßmutter Natur. Ihr Universalheilmittel, durch welches sie sich selbst jung erhielt, durch dessen Kraft sie manchen Hundertjährigen überlebte, um aus seinem morschen Gebein neue Kraft zu sammeln, entströmt Feldern und Wäldern. Statt jener Quacksalberflasche mit Mixtur aus dem Acheron oder dem Toten Meere, die man aus den langen, flachen, schwerbehangenen, schiffartigen Wagen nimmt, welche bisweilen zum Flaschentransport benutzt werden, soll meine Panacee ein Trunk unverdünnter Morgenluft sein. Morgenluft! Wenn die Menschen davon nicht trinken wollen am Urquell des Tages, dann müssen wir auch sie auf Flaschen ziehen und in den Läden verkaufen zum Besten derjenigen, die ihre Abonnementskarte »für Morgenluft auf dieser Welt« verloren haben. Doch darf man Eines nicht vergessen: diese Morgenluft hält sich selbst im kühlsten Keller nicht bis zum Mittag, sondern treibt den Pfropfen von der Flasche und eilt nach Westen, Auroras Spuren folgend.

Ich bete nicht zu Hygieia, zur Tochter des alten Kräuterdoktors Äskulap. Den Vater findet man ja oft auf Denkmälern abgebildet: in der einen Hand hält er eine Schlange, in der andern einen Becher, aus dem die Schlange bisweilen trinkt. Ich verehre Hebe, die Jupiter den Becher reicht, die Tochter der Juno und des wilden Lattich; sie besaß die Macht, Göttern und Menschen die Jugendkraft zurückzugeben. Sie war wahrscheinlich die einzige tadellose, gesunde und starke junge Dame, die je auf Erden wandelte. Wohin auch immer sie kam, dort war es Frühling!


 << zurück weiter >>