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Heimkehr

Als sich der Vorhang gesenkt hatte, setzte im Hintergrunde des Zuschauerraumes kräftiges Klatschen ein und pflanzte sich abgeschwächt bis in die ersten Reihen fort.

Ein junger, schwarzgekleideter Mann, dessen bartloses Gesicht im Lampenlichte bleich erschien, trat hinter der dritten Kulisse einige Schritte vor und verbeugte sich.

Er besaß nicht Gewandtheit genug, um auch nur die Nächstsitzenden im Publikum zu erkennen oder irgendwie in seiner Haltung Bedacht zu nehmen auf die abschätzenden und prüfenden Blicke, die durch Lorgnons und Operngläser auf ihn gerichtet wurden.

»Jung!« sagte in gedehntem, genießendem Tone eine üppige Dame in der ersten Reihe, wobei sie die Augen beinahe schloß und den Neuling durch einen schmalen Spalt musterte.

Nicht weit von ihr legte sich ein wohlbeleibter Herr in seinem Stuhle zurück und starrte durch einen sehr großen Feldstecher unverwandt auf die Bühne.

»Provinz!« sagte er, aber in der Äußerung lag Anerkennung, nicht etwa Geringschätzung.

Er war zufrieden, und das gleiche Gefühl schien sich in dem Gemurmel der übrigen Zuschauer auszudrücken.

Der junge Mann hatte sich dreimal ohne Hast verbeugt, nach rechts, nach links, nach der Mitte zu.

»Runter! Runter! Was ist das für 'ne schlappe Manier?« schrie hinter der Kulisse ein kleiner Mann, der die Arme halb erhoben hielt, wie um den Takt zu schlagen, indes er gespannt horchte.

»Auf!« kommandierte er, als diesmal etwas dünner das Geräusch von Händeklatschen hinter die Bühne drang.

»Auf!« Und den jungen Mann nach der Kulisse zu schiebend, rief er sehr aufgeregt: »Machen Se doch raus! Rasch! Sie verderben sich ja den Erfolg!«

Der Dichter schien einen Augenblick zu zögern, was den Direktor veranlaßte, einen verzweifelten Blick nach oben zu richten und einen bis beinahe ins Publikum dringenden Schrei auszustoßen:

»Mensch!«

Da schritt der junge Mann wieder hinaus vor die grellen Lichter, hinter denen ein riesiger schwarzer Raum gähnte.

Das Klatschen setzte stärker ein, als er erschien, und da verneigte er sich vor den Gönnern.

»Ganz frisch!« murmelte wieder die Dame in der ersten Reihe und erhob sich.

Neben und hinter ihr folgten andere, Stühle klappten zurück, erst einige nacheinander, dann viele zugleich.

»Vorhang, Lüdecke! Oder Sie sind entlassen!«

Der Vorhang senkte sich rasch, und wieder lauschte der Direktor, sprungbereit, mit weit geöffneten Augen.

»Auf!« brüllte er, als diesmal zögernd, dann anschwellend, dann wieder aussetzend und im ganzen schwach geklatscht wurde. Noch einmal trat der Dichter vor und kam rasch zurück.

Der Direktor zeigte ihm ein verärgertes Gesicht, und so fragte er:

»Glauben Sie ...?«

»Was glaube ich?«

»Daß es durchgefallen ist?«

»Es! Es! Sie sind abgefallen, nicht das Stück ... Wenn Sie rausgehen wie 'n krankes Pferd! Vorspringen sollen Sie, eins ... zwei! Wie 'n Löwe! Aber ... na ...«

Er dämpfte seine Stimme und sagte mit unheimlicher Ruhe: »Lüdecke!«

Der Mann trat auf ihn zu, und er durchbohrte ihn mit einem Blicke.

»Was sage ich immer? Was sage ich bei jeder Premiere?«

Pause. Und nun kam ein sehr starker Ausbruch: »Den Vorhang sollen Sie blitzartig heben und senken! Lasse ich mir das von Ihnen bieten, daß Sie jeden Erfolg ruinieren? Ich lasse es mir nicht bieten.«

»Enschuljen, Herr Direktor, aba ...«

»Nichts aber! Zwei Hervorrufe könnten wir heute mehr haben ...«

Der Dichter, der den Auftritt ernst nahm, wollte beschwichtigen.

»Ich meine, darauf kommt es doch nicht so sehr an ...«

»Junger Mann ...« Der Direktor war kaum etliche Jahre älter, aber es tat ihm wohl, dies zu sagen; er wiegte sich in den Hüften und genoß die Wiederholung der Worte. »Junger Mann, ich will hoffen, daß Sie unser Hausdichter werden. Ich will hoffen, daß Sie noch häufig hier eine Uraufführung erleben. Wenn Sie aber mal meine Erfahrung haben, wenn Sie mal öfter im Feuer gestanden sind, dann werden Sie wissen, was ich weiß. Mit dreimal Vorhang gibt es nu mal nicht den großen Erfolg. Und wenn 'n Shakespeare oben steht. Sagen Se, ich hab's gesagt. Aber jetzt entschuldigen Sie mich.«

Der geschäftige Mann wollte wegeilen, blieb aber wieder stehen und sagte gütig:

»In 'ner Viertelstunde erwarten Se mich im Büro. Wir wollen doch den Abend zusammen verbringen.«

Und dem Theaterarbeiter warf er noch einen fürchterlichen Blick zu.

»Was ich tu', werd' ich mir überlegen, Lüdecke!«

Dann eilte er weg.

Der Dichter Franz Paul Eisenreich fühlte sich unbehaglich, als er so allein bei den Arbeitern stand, die sich um Lüdecke versammelten, und die Bühne kam ihm plötzlich recht nüchtern und aller blinkenden Täuschungen beraubt vor.

Er trat in den Gang, der zu den Herrengarderoben führte, und einer plötzlichen Eingebung folgend, klopfte er bei dem ersten Helden Willy Schönau an.

Zuerst ein Räuspern, dann eine klingende Baritonstimme: »Herein!«

Franz Paul betrat den kleinen Raum.

Der Mime, der den Besucher im Spiegel erkannte, wandte ihm mit stattlicher Gebärde das Haupt zu, hustete leicht und ließ seine Stimme voll anklingen:

»Ah, unser poeta laureatus! Willkommen und herzlichen Glückwunsch, Lieber! Wie waren Sie zufrieden?«

Dabei sah er wieder in den Spiegel und nahm sich die eine, noch angeklebte Hälfte des Schnurrbarts weg.

»Oh sehr!« sagte Franz Paul. »Ich möchte Ihnen besonders danken für Ihre Mühe ...«

»Haben Sie sich die Rolle so gedacht?«

»Ich finde, Sie haben sogar mehr gegeben ...«

»Nicht mehr, Liebster! Ich habe nur alles gegeben. Es liegen in jeder Rolle ...« hier unterbrach sich der Schauspieler und rieb sich das Gesicht heftig mit Fett ein ... »es liegen in jeder Rolle Wirkungen, die der Dichter vielleicht nur ahnt, fast ungewollte Wirkungen. Der Darsteller muß sie herausholen, wenn er ein rechter Künstler ist, er muß wie ein Bildhauer aus dem sprödesten ... einen Augenblick, junger Freund! ...«

»So ...« sagte der Mime, nachdem er sich mit einem Tuche Gesicht und Hals abgetrocknet hatte ... »was sagte ich eben?«

»Sie meinten, der Schauspieler müsse, wie ein Bildhauer ...«

»Ganz richtig. Sehen Sie, hier habe ich die Dichtung, das Material, den Lehm ...«

Schönau hatte sich erhoben und stand in rosafarbenen Unterbeinkleidern vor dem Dichter, wobei er bald diesen, bald sich selbst im Spiegel mit bedeutenden Blicken betrachtete.

»Der Lehm,« fuhr er fort und machte mit vorgestreckten Händen kraftvoll abrundende Bewegungen ... »wenn ich nun künstlerisch wirken will, wenn ich ein Kunstwerk schaffen will, so muß ich selbst eine Form herausarbeiten, ich knete den Stoff, ich gebe ihm Gestalt, Leben. Nur so ist unsere Leistung schöpferisch ... Wie?« Er lächelte sein Bild im Spiegel an.

Franz Paul verneigte sich, denn er war in seinem Wesen wirklich bescheiden und zu dankbar, als daß er die Reden seines Gegenübers richtig und lieblos beurteilt hätte.

Und gerade so gefiel er dem berühmten Darsteller, der sogleich wärmer und vertraulicher wurde.

»Ja, ja, junger Adept, der du so kühn die Segel deines Schiffes schwellen läßt ... Schwell ... schwell ...« wiederholte er, die Töne steigernd und beinahe singend ... »Fisch!«

»Knoll!« rief er dem Garderobendiener zu, »die Stimme ist belegt.«

»Ach nee, Herr Schönau.«

»Sie ist belegt, sage ich; bele – beleegt ... Fisch! Na also! Hören Sie das nicht? Aber das kommt davon, weil mir gestern meine Gummischuhe gestohlen worden sind. Wenn ich den Kerl erwischte ... erwi – erwisch ... hören Sie? ... Erwürgen könnte ich ihn.«

»A propos,« wandte er sich wieder zu Franz Paul, »was sagte der schmierige ... schmie ... schmie ... ja, was sagte der schmierige Kerl zu Ihnen?«

»Wie?« machte dieser.

»Unser Direktor. Sie haben doch mit ihm gesprochen? Sagte er nichts, wie ich ihm gefallen habe?«

»Wir kamen nicht dazu. Er schien etwas ärgerlich zu sein, weil vielleicht der Vorhang nicht oft genug –«

»Natürlich! Die Hauptsache! O welch ein Schurk und niedrer Sklav ist er! Schafft Werke groß, wie Götter tun ... Fisch ... Fi ... fi ... Fisch ... Der Kerl steht hinter der Kulisse und zählt ... wie?«

»Vielleicht war es auch etwas wenig.«

»Franz Paul, was ist das, ein Premierenpublikum? Was ist es mir, was ist es dir? Ein Haufe Neugieriger, mit einem so schlechten Geschmack, daß sie sich selber nicht ekelhaft werden, so oft sie sich auch bei jeder Erstaufführung begegnen. Pah!«

Schönau hatte sich mit Hilfe des Dieners nunmehr angezogen und schlüpfte in die Ärmel des Überziehers.

»A propos,« fragte er nun den Dichter, der ihm in dieser kurzen Zeit wie ein vertrauter Freund geworden war ... »hat dir der Jude gesagt, wo wir soupieren?«

»Nein. Ich soll ihn im Büro abholen ...«

»Hole ihn ab und merke dir das Zeichen. Sagt er ›Grandhotel‹, dann vertraut er deinem Sterne, sagt er ›Werners Weinstube‹, dann verzweifelt er an dir und deiner Zukunft. Ich kenne den Burschen, und nun auf! Am Tore erwarte ich euch.«

 

In seinem Büro war der Direktor mit der wichtigsten und, wie es schien, auch unabhängigsten Person seines Theaters, dem Herrn Kassierer Zierrath, in ein eifriges Gespräch verwickelt, das einem Fremden manches Mal leidenschaftlich vorgekommen wäre.

Direktor Gelbmann freilich hielt im ganzen sein Behagen an einer abgerundeten und im berechneten Tonfalle vorgetragenen Rede fest und kam nur in Hitze, wenn Herr Zierrath sich in Worten und Gebärden zu sehr vergriff.

»Was ich sage, ist folgendes ...«

»Was Sie sagen, ist ...«

»Ist folgendes, lieber Zierrath, und ich muß bitten, daß Sie mich nicht unterbrechen; und überhaupt, glauben Sie, daß ich mir grob kommen lasse? Ich lasse mir nicht grob kommen ...«

»Also gut ...«

»Man sachte mit die jungen Pferde, wie der Berliner sagt, Zierrath, und hören Sie mir zu. Höre ich Ihnen nicht auch zu? Ich behaupte doch selbst nicht, ja, ich denke doch selbst nicht daran, daß es prima war ...«

»Prima!« schrie der Kassier auf und fuhr sich verzweifelnd mit beiden Fäusten in den wolligen Haarschopf.

»Oder sagen wir zweitklassig,« beschwichtigte der Direktor, »ich denke wirklich nicht so. Immerhin sage ich mir, daß ich nicht alles nach dem Erfolg bemessen kann. Ich habe Aufgaben.«

Gelbmann steckte die rechte Hand zwischen zwei Brustknöpfe seines gutsitzenden Cutaway und sah nicht unbedeutend aus.

Aber Zierrath, der ihn kannte, ließ sich nicht einschüchtern.

»Kommen Sie wieder mit Ihrer Aufgabe? Dann weiß ich schon. Jedesmal, wenn es nichts ist, kommen Sie mit dem Wort. Aber ich will Ihnen was sagen ...«

»Sagen Sie nichts, Zierrath.«

»Ich sage Ihnen doch was, und ich muß. Wissen Sie was? In der ganzen Saison haben Sie nichts wie Aufgaben. Seit drei Monaten haben Sie Aufgaben, und Aufgaben sind Ausgaben, aber keine Einnahmen ...«

»Hm!« machte der Direktor.

»Sagen Sie nicht ›hm‹! Sagen Sie ›leider‹!«

»Zierrath, in gewissem Sinne haben Sie vielleicht recht ...«

»Was liegt daran, ob ich recht habe? Der Kassenbericht hat recht, und dem können Sie nichts erzählen von Ihren Aufgaben.«

Gelbmann zog seine Hand aus dem Brustschlitze und verlor überhaupt viel von seiner Sicherheit.

Immer ging es ihm so in seinen Zwiegesprächen mit dem Kassierer, der ihn stets von seinen Höhenflügen herunterzog auf die nüchterne Erde mit ihrem Defizit. Noch einmal versuchte er heute zu entrinnen.

»Ich hätte sagen sollen: Sie haben scheinbar recht, Zierrath.«

»So?«

»Ja. Lächeln Sie nicht! Wenn man Erfolg mit was Literarischem hat, wenn man einem Anfänger unter die Arme greift, wenn man der erste ist, der ihn entdeckt ...«

»Wenn! Wenn!«

»Lassen Sie mich ausreden!«

»Wenn man den Neuen und das Neue findet, dann ist man alles zusammen: der kluge Geschäftsmann, der verdienstvolle Entdecker ...«

»Sind Sie's?«

»Dann rühmt einen die Welt und rühmt einen die Presse als Mäcenas, als Pfadfinder ...« – »Sind Sie's?«

»Werd' ich's, wenn ich nie was probiere?«

Hier hatte er sich auf einen festen Boden gestellt, und das machte seinen Peiniger verstummen.

Aber er faßte sich schnell.

»Dann probieren Sie was Richtiges!« sagte er.

»Weiß man's vorher?« Gelbmann seufzte ehrlich. »Nichts weiß man, und wenn es so leicht wäre, dann wär's keine Kunst, das Neue zu finden. Immer suche ich, immer glaube ich, es zu haben, und dann ...«

Er schaute betrübt vor sich hin und war mit einem Male gebrochen.

»Und dann ...« sagte Zierrath ... »dann is es nischt, dann is es Talmi, als wie dieses Gundelin ...«

»Gwendolin, Zierrath.«

»Von mir aus Gwendolin. Aber Gwendolhin – Gwendolher, ich geb' Ihnen nichts dafür, und das Schlimme ist, das Publikum gibt Ihnen auch nichts dafür. Es hat abgelehnt.«

»Nu ... abgelehnt ...«

»Abgelehnt!« wiederholte Zierrath bestimmt, »es hat es weggestoßen. Erzählen Sie doch mir nichts von dreimal Vorhang! Dreimal ist keinmal.«

»Das weiß ich so gut wie Sie. Wenn ich hinter der Bühne stehe, und es rauscht nicht wie ein Platzregen, dann ist es faul. Und es war faul, es war ein Getröpfel.«

»Nu also.«

»Gott, tun Sie nicht, als ob Sie was gewußt hätten! Niemand weiß es vorher.«

Gelbmann kreuzte die Hände unter dem Rücken und ging auf und ab.

»Wer kann es diesem vielköpfigen Ungeheuer recht machen? Ich hab' doch die Zeiten erlebt! Zuerst, da war alles der Realismus, und dann war's das Mystische, und dann das Romantische. Gut!« Gelbmann stampfte auf den Boden. »Jetzt gebe ich ihnen Verse, was Keusches, Sonniges mit dem Hauch der Jugend ... Und? Und? Nu, was is jetzt, Zierrath?«

Der Kassierer blieb unbewegt, obwohl sein Direktor in den letzten Sätzen eine gute Steigerung gebracht hatte.

»Hm!« murmelte er.

Gelbmann griff es auf.

»Jetzt sag' ich zu Ihnen, machen Sie nicht ›hm‹! Reden Sie, wenn Sie was wissen! Nichts wissen Sie!«

Zierrath setzte sich halb auf den Schreibtisch und ließ nachlässig sein linkes Bein baumeln.

»Hm!« machte er noch einmal und fügte im ruhigsten Tone bei: »Vielleicht hat Doktor Warschauer recht.«

Der Direktor blieb mit einem Ruck stehen und fragte: »Haben Sie ihn gesprochen?«

»Natürlich habe ich. Das letzte Mal, wie er das Geld beschaffte.«

»Was sagt er?« Zierrath zog die Achseln hoch.

»Ihr habt nicht die guten Tips,« sagte er. »Warum hat sie der andere?«

Gelbmanns Gesicht verzog sich fast schmerzlich.

Immer der andere. Dessen Schatten über seinen Weg fiel.

Dann brauste er auf.

»Was tu ich mit dem Geschwätz?«

»Er wird doch reden dürfen für sein Geld ...«

»Es ist nicht sein Geld, er bekommt's von andern, und es ist auch gar nicht seine Rede. Die hat er auch von andern.«

»Aber ...«

»Bleiben Sie mir weg mit der Weisheit! Wenn der Erfolg heute gekommen war', dann hätt' ich den Warschauer hören mögen ...«

Es klopfte.

»Herein!« rief Gelbmann unwirsch, und dann stand Franz Paul unter der Türe.

»Ach ja, richtig!« sagte der Direktor in nachlässig gedehntem Tone, »übrigens, die Herren kennen sich noch nicht? Herr Zierrath, unser Hauptkassierer – Herr Eisenreich ... richtig, wir sollen noch 'n Glas Wein zusammen trinken. Ich habe mich mit 'n paar Herrschaften verabredet, die Sie kennen lernen wollen, in Werners Weinstube. Ist es Ihnen passend?«

»Gewiß!« sagte Franz Paul und lächelte.

Gelbmann wandte sich an Zierrath. »Wollen Sie ...?«

»Ich danke bestens, Herr Direktor, aber ich habe noch zu arbeiten.«

»Wie Sie wünschen ... Darf ich bitten, Herr ... äh ... Eisenreich?«

Am Fuße der Treppe wartete Willy Schönau, seinen mächtigen Schlapphut tief in die Stirne gedrückt.

»Guten Abend, Schönau, Sie kommen doch mit?«

»Mi ... mit? Fi–fisch! Zum Teufel noch mal, die Stimme ist belegt! Finden Sie nicht?«

»Nee,« sagte Gelbmann, »aber wenn Sie lieber heimgehen ...«

»Heim? Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert! Tod und Teufel, nehmt mich ganz, wie ich da bin! Wohin geht die Fahrt, Direktor?«

»In Werners Weinstube ...«

»Soo!« Schönau stieß Franz Paul an und rief: »Ha! Ich kenne dich, Spiegelberg!«

»Lassen Sie das Deklamieren, wenn Sie belegt sind,« sagte Gelbmann. »Noch dazu in der kalten Luft!«

 

Schweigend schritten sie die hell erleuchtete, verkehrsreiche Straße hinan, Franz Paul in gehobenem Gefühle, das seinen Augen einen fröhlichen Glanz verlieh und das ihm die Füße elastisch hob. Neben ihm der Schauspieler mit schön getragenem Haupte. Er hatte, der Weisung des Direktors und seiner eigenen Ängstlichkeit gehorchend, ein Taschentuch vor Mund und Nase gepreßt und versuchte dahinter ab und zu einige Vokale halblaut zu singen.

Linkerseits, so gänzlich mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er an Entgegenhandelnde anstieß, ging mit trippelnden Schritten, den Kopf zu Boden gesenkt, Herr Gelbmann.

Aber Franz Paul bemerkte es nicht, daß der Direktor wider alle Regeln der Gesittung kein Wort zu ihm sprach.

Er war in Träume verloren, die fröhlich in die Vergangenheit zurückschweiften und dann wieder in rosige Fernen der Zukunft flatterten.

War denn nicht alles erfüllt, was er gehofft hatte, einstmals, da liebe Menschen sich um sein aufs Ungewisse gestelltes Dasein sorgten und hämische Kleinbürger seinen Lauf ins Freie bemängelten? Hier, in dieser großen, fremden Stadt, in der er niemand kannte, hatten von der Bühne herunter seine tönenden Verse geklungen, seine Verse, an denen er sich so oft, in seinem Dachzimmer auf und ab wandelnd, berauscht hatte, bei deren Niederschrift er so oft vor Freude aufgesprungen war, um sich ihre Wirkung in glänzenden Farben auszumalen.

Wenn sie hinweg donnerten über atemlos horchende Zuschauer, gesprochen von ragenden Helden und wundersamen Frauen, wie mußten sie in allen Herzen zünden, wie mußten sie andern den Rausch ins Blut tragen, den er selber empfand! Und nun war es so gewesen, stundenlang, während er hinter gemalter Leinwand und Pappe wie im Paradiese gesessen war und jeden Vers heimlich mitgesprochen und auf ein Neues erlebt hatte.

Daß sie nicht wild von ihren Sitzen aufgesprungen waren und die Hände sehnend nach dem Dichter gestreckt hatten, so wie er sich's wohl in seiner Dachstube geträumt, ja selbst mit lebhaften Gesten vorgeführt hatte, freilich, das war so, aber was galt ihm dieses Äußerliche neben dem einen tiefsten Erlebnis, daß viele hundert Menschen seinen Versen gelauscht hatten?

Wenn Tau auf Blüten, da die ersten Strahlen
Der Morgensonne liebend sie betasten,
Aufblinkt und plötzlich nun in tausend Perlen
Den Glanz der Hohen widerspiegelt ...
Gwendolin ...

»Was sagen Se?« fragte Gelbmann in gereiztem Tone.

Franz Paul merkte nun erst, daß er laut gesprochen hatte, und wurde ein wenig verlegen.

»Verzeihen Sie, ich habe in Gedanken ein paar Verse zitiert.«

»Aus Ihrem Stück? So?«

Das klang fast feindselig und hätte dem Dichter auffallen müssen, wenn er seine Gedanken nicht schon wieder in die schönere Unwirklichkeit geschickt hätte.

Und es war auch feindselig, denn Gelbmann war in seinem Brüten auf dem Punkte angelangt, seinem Kassierer in allem recht zu geben.

Oder, wenn er es bedachte, waren denn ihre Meinungen je voneinander abgewichen? Hatte er nicht vom ersten Tage an nach dem Erfolge genau so gestrebt wie der weitblickende Mensch, der die Kasse unter sich hatte?

Freilich, er konnte sich diesen Erfolg schmuckreicher ausmalen als der nüchterne Geschäftsmann. Er sah ihn nicht bloß in vollgewichtigen Zahlen, er dachte darüber hinaus und erblickte sich nachlässig hingestreckt in einem Lederstuhl, das Hörrohr des Telephons in der Rechten, hier kurze Befehle, prägnante Anweisungen ausstoßend, dort diskrete Anfragen der größten Tageszeitungen über Zukunftspläne entgegennehmend.

Er sah auf dem Schreibtische vor sich den Stoß der Zeitungsausschnitte, die alle von »unserm genialen Gelbmann, unserm Zauberkünstler« berichteten, ja, er las im Geiste die Feuilletons, welche seinen Werdegang beschrieben und vielsagende Aussprüche von ihm einflochten, und wenn er genug gelesen hatte, wenn er ermüdet war von diesem ewigen Lobpreisen seiner Vorzüge, sah er sich durch die Vorzimmer schreiten, in deren einem die Autoren, in deren anderem die Schauspieler harrten. Mit einem kurzen Nicken antwortete er auf respektvolle Grüße, und »später! später!« sagte der Vielbeschäftigte, um in das dritte Zimmer zu schreiten und dort mit einem berühmten Kunsthistoriker über Gelbmannsche Regie und Gelbmannsche Pläne zu plaudern.

Ha, und dazu den Rauch einer köstlichen Zigarette einzusaugen und mit zufriedenem Stöhnen durch die Nasenlöcher zu blasen.

»Was sagen Se?« fragte er unwirsch, als ein junger Mensch, schon in der Nähe der Wernerschen Weinstube, auf ihn zutrat und aufgeregt flüsterte.

»… Molluske ist da ...«

»Was heißt das: er ist da? Wo ist er?«

»Hier, in Werners Weinstube. An dem Tisch, den Herr Direktor reserviert haben ...«

Dem Boten schlug vor Aufregung die Stimme um, und auch Gelbmann hatte schnell jede Träumerei von sich abgeschüttelt.

»An unserm Tische?« fragte er zweifelnd.

»Ja. Und er wartet auf Sie, das heißt –« Er nickte gegen Franz Paul hin. »Ich habe doch gehört, wie er zu Frau Lepiner sagte: ›Nu wollen wir mal sehen, wie dieses junge Talent –‹ er nickte wieder – ›in der Nähe aussieht. Ich bin sehr begierig‹, sagte er noch.«

»Hm! Soo?«

Gelbmann war lebendig geworden.

»Krause,« sagte er, »Sie gehen natürlich nicht mit uns hinein, Sie warten, sagen wir, eine kleine Viertelstunde. Gehen Sie spazieren! Adieu!«

Der junge Mensch machte eine hastige Verbeugung und entfernte sich.

Nun wandte sich Gelbmann an den Dichter, und seine Stimme klang bedeutungsvoll, beinahe feierlich.

»Junger Mann, kommen Sie her!«

Er faßte ihn an der Hand und zog ihn in den Lichtkreis einer Straßenlaterne, so daß er ihm scharf in die Augen sehen konnte.

Dann sagte er, jedes Wort betonend:

»Molluske ist da!«

Als Franz Paul sich keineswegs niedergeschmettert, ja, gänzlich unberührt zeigte, fragte er mit ironischem Staunen:

»Sie wissen womöglich nicht, wer Molluske ist?«

»Nein, ich ...«

»Mensch! Wo sind Sie eigentlich her? Sie sind wie hereingeschneit! Was?«

Franz Paul wollte sagen, daß er natürlich nicht so vertraut mit den Verhältnissen dieser fremden Stadt sei und ...

Aber Gelbmann ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern schleuderte ihm die inhaltschweren Mitteilungen, eine hinter der anderen herjagend, entgegen.

»Ich will Ihnen sagen, wer Molluske ist. Er ist der Kritiker. Verstehen Sie? ›Der‹, groß geschrieben, gesperrt gedruckt und dreimal unterstrichen. Wenn Molluske morgen sagt, Sie sind gut, dann sind Sie gut, und Sie können 'ne Hypothek drauf nehmen, und die ganze literarische Gesellschaft hat ihr Augenmerk auf Sie. Und Sie können überhaupt nicht mehr von der Bildfläche verschwinden. Verstehen Sie, junger Mann? Das ist Molluske, und das kann Molluske. Und wenn er morgen sagt, Sie sind nicht gut, gehen wir über den Mann hinweg! Dann, puh! Adiö, Herr Franz Paul! Und die ganze literarische Gesellschaft geht über Sie hinweg!«

Gelbmann sah Franz Paul durchbohrend an und prüfte den Eindruck seiner Worte. Der Mensch lächelte unbefangen, oder soll man sagen ungläubig? So ganz unbekannt mit dem Treiben und mit den Triebfedern in der geistigen Welt. Es steckte neben der Borniertheit auch etwas Hartnäckiges in diesen Leuten, die von draußen hereinkamen in den Wirbel. Sie stellten sich gewissermaßen mit gespreizten Füßen hin, als wollten sie sich nicht mitdrehen lassen.

»Ich freue mich, ihn kennenzulernen,« sagte Franz Paul phlegmatisch.

Wahrhaftig, er freut sich!

»Sie sind gut!« sagte Gelbmann. »Wissen Sie, was unsere größten Dramatiker, unsere gangbarsten Dichter machen würden, wenn sie das hörten? Wenn sie hörten, daß Molluske drinnen ist, nach der Premiere?«

Gelbmann ließ eine Pause eintreten.

» Zittern würden sie in der Ungewißheit, und vom Boden würden sie aufspringen vor Freude, außer sich wären sie vor Vergnügen, wenn sie berechtigte Hoffnungen hätten. Das würden sie tun, jawohl, und Sie sagen: ›Ich freue mich, ihn kennenzulernen‹. Was heißt das, wenn Sie sich freuen? Wenn er sich freut, das ist eine Sache ...«

»Herr Direktor,« sagte Franz Paul beschwichtigend, »ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Aufklärung, gewiß, und wenn Sie mir sagen, was ich tun soll, ich meine, wenn Sie mir Verhaltungsmaßregeln geben wollten, dann werde ich sie natürlich befolgen.«

Gelbmann war schon wieder beruhigt, und die Aufgabe, diesen Unerfahrenen zu belehren, sagte ihm zu.

Er verschränkte die Arme und blickte sinnend ins Leere und sagte dann plötzlich in sehr entschiedenem Tone: »Wissen Sie was? Machen Sie gar nichts! Ich überlege mir gerade – mhm – ja –.« Er nahm wieder eine mehr bürgerliche Stellung an, indem er die Hände in die Taschen seines Überziehers steckte – »Ich überlege mir gerade, wenn Molluske Interesse für Sie hat, dann is es, na ja, sagen wir, nicht das Interesse für das, was er bei andern findet, sondern gerade – mhm ... ja ... mal was anderes ... wissen Sie was? Geben Sie sich ganz natürlich! Geben Sie sich noch natürlicher! Verstehen Sie, was ich meine? Junger Mann?«

»Ja ...« sagte Franz Paul etwas unsicher ... »ja und nein ... es ist übrigens nicht meine Gewohnheit, viel zu reden, besonders Fremden gegenüber.«

»Na, reden Sie wenig – aber ... originell müssen Sie sein ...«

Gelbmann sah seinem Schützling tief in die Augen, auf sein Verständnis rechnend oder es suchend.

»Ich meine,« erläuterte der Direktor, »Sie brauchen nicht viel zu reden. Behüte! Das wäre unvorsichtig und wäre –« Gelbmann strahlte – »sehen Sie, wäre gerade das Gegenteil von originell. Denn viel reden hört man hier öfter und oft. Sehen Sie, ich meine, Sie können sparsam sein mit Worten, aber was Sie sagen, verstehen Sie, das muß natürlich klingen, es muß so ... von außen her kommen, wie ein erfrischender Lufthauch ... es muß ...«

Gelbmanns Augen erhielten einen ungemein klugen Ausdruck, und sein Wesen verriet Befriedigung darüber, daß er das Schlagwort gefunden hatte.

»Es muß ...« – sagte er und ließ eine wirkungsvolle Pause eintreten – » Erdgeruch haben. Verstehen Sie, was ich meine? Erd–geruch!«

Franz Paul überkam es unbehaglich.

»Sie meinen ...?« fragte er.

Mit einer Handbewegung schnitt Gelbmann weitere Erörterungen ab und schritt voran durch ein offenes Tor in einen schwach beleuchteten Hausgang. Franz Paul folgte.

Schönau hielt ihn ein wenig zurück und flüsterte ihm zu: »Wenn dieser Zeilenschreiber sich mit dir unterhält, sag' ihm, was ich dir war an diesem Abend!«

An drei Tischen, die man zusammengerückt hatte, saßen etwa ein Dutzend Herren und ebenso viele Damen.

Gelbmann eilte auf sie zu, blieb, ganz plötzlich den Herrn Professor Molluske erkennend, überrascht stehen, und begrüßte nun mit überströmender Herzlichkeit diesen unerwarteten Gast.

»Schon gut, schon gut ...« sagte Molluske, der mit Theaterleuten und ihren Gewohnheiten vertraut war, kühl und gelassen.

Eigentlich abweisend; so, als wenn er sagen wollte: »Seien Sie mal ruhig, Gelbmann, und tun Sie nicht so! Ich kenn' Sie doch.«

»Schon gut. Stellen Sie mich vor!«

Der Direktor zog Franz Paul, noch ehe er den Überzieher ablegen konnte, hastig am Arme her und setzte ein vielsagendes Lächeln an.

»Unser ...«

Er wollte sagen: Sieger von heute, oder so was Ähnliches, verschluckte es aber und sagte nur: »Dichter ... unser Dichter.«

Dann mit einer großen Handbewegung gegen den Kritiker hin: »Molluske!« Nicht mehr und nicht weniger, jedes Detail war überflüssig, nur den Namen, mit bedeutendem Akzente.

Die Herren der Gesellschaft, die sich erhoben hatten, und die Damen, welche durch Lorgnons die Szene beobachteten, lächelten alle, denn sie verstanden die Feinheit.

Molluske verhielt sich prüfend und schaute durch seinen schwarzen Hornkneifer den Neuling an, nicht voll und durchdringend, sondern mit zusammengekniffenen Augen.

Dann machte er der Verlegenheit des jungen Menschen, dem keine passende Redensart einfiel, ein Ende und fragte wohlwollend:

»Nu, wie haben Sie die Premiere überstanden?«

»Danke! Sehr gut ...« antwortete Franz Paul mit einer Verbeugung.

Molluske wiegte das mit buschigen schwarzen Locken bedeckte Haupt sachte hin und her und lächelte gütig. Zu jedem bekannteren Autor hätte er jetzt gesagt: »Wir haben's auch überstanden,« oder so etwas Ähnliches, aber es erbarmte ihn dieses Knäbleins, und er unterdrückte die Bemerkung.

Und weil er dies tat, freute er sich seiner milden Regung, und von diesem Augenblicke an hatte Franz Paul unwissend und ahnungslos seine Zuneigung gewonnen. Ein bedeutsamster Moment für die Zukunft des Dichters hatte sich in der Stille abgespielt.

Man setzte sich wieder, nachdem Franz Paul allen hoheitsvollen Frauen und allen wohlwollenden Männern vorgestellt worden war, und der Dichter mußte seinen Platz zwischen Molluske und Frau Lepiner einnehmen. Diese war, was man ihr sogleich ansehen konnte, ein harmloses Frauenzimmer, das in anderen Verhältnissen sicherlich Behagen um sich verbreitet hätte. So aber war ihr, als der Frau eines sehr reichen und im Mittelpunkte vieler Interessen stehenden Mannes, die Aufgabe zugefallen, im geistigen Leben der Stadt eine Rolle zu spielen, und sie durfte nicht etwa wahllos nach allen Seiten hin Güte ausstrahlen, auch nicht, ihren wenig ausgebildeten Neigungen folgen, sondern sie mußte sich mit an die Spitze bestimmt gerichteter Bestrebungen stellen, mußte absprechend und hart sein, und wieder leidenschaftlich beteiligt, wie es gerade der Kreis, in den sie eingetreten war, verlangte. Das war nicht vorteilhaft für sie.

Es fehlte ihr die Gewandtheit, zu allem sogleich den vorgezeichneten Standpunkt einzunehmen, und sie schien immer vorsichtig zu tasten und hilflos zu fragen, wohin sie ihre Meinung zu richten habe. Übrigens war Molluske ihr Führer im Irrgarten des Schriftwesens, und da er sich diesem erstaufgeführten Jünglinge hold bezeigte, so konnte sie ohne Bedenken ihren gutmütigen Neigungen folgen.

Das war ihr eine große Erleichterung.

Sie war von peinlicher Unsicherheit befreit und durfte sich einem anwesenden Dichter gegenüber ohne jede Zurückhaltung freundlich und neugierig erweisen.

»Ihr Stück war sehr, sehr hübsch,« sagte sie. »Es hatte für mich so etwas ...« sie suchte nach dem Ausdrucke.

»Unberührtes,« ergänzte Molluske.

»Ja ... Unberührtes, so einen Duft von Natürlichkeit ... ich war wirklich ganz benommen davon, besonders in der Szene, wo der Page vor seiner Herrin steht, im Walde. Das hatte wirklich etwas von Frühling, wie ein Bild von ...«

Sie suchte wieder.

»Schwind,« ergänzte Molluske.

»Wie ein Bild von Schwind, und man fühlte so einen Hauch von Jugend, und ich hatte eigentlich den Eindruck von etwas Neuem ... Herr Eisenreich ... oder darf ich sagen Herr Franz Paul?«

»Ich bitte, gnädige Frau.«

»Ja? Dann sage ich Franz Paul. Ich finde es zu hübsch, wenn unsere Dichter zwei Vornamen haben. Das gibt einem gewissermaßen das Recht, sie dabei zu nennen, und das hat gleich etwas mehr Familiäres, oder mehr Vertrautes.«

»Sagen Sie: Wärmeres,« fiel Molluske ein.

»Ja, Wärmeres, und klingt doch ganz anders, als wenn man sagen würde Herr Eisenreich, oder so ... finden Sie nicht auch?«

»Mir ist es jedenfalls lieber, gnädige Frau ...«

»Ja? Sehen Sie, das freut mich, das nimmt mir gleich das Gefühl, als ob Sie mir fremd wären und ... wovon sprach ich? Ach ja ... von der Szene im Walde. Sagen Sie, Franz Paul, Ihr Stück ist doch in Versen?«

»Ja ...« antwortete unser Dichter einfach, ernst und schlicht, und überließ es Herrn Molluske, ein feines Lächeln aufzusetzen über diese Frage, die nach dem Anhören von fünf Akten und einem Vorspiele nicht berechtigt erschien.

Doch Frau Lepiner merkte es nicht und fuhr unbeirrt fort:

»Ich finde es zu interessant, wie sich darin die Meinungen ändern, denn wenn ich denke, wie das noch vor 'n paar Jahren war, wo wir doch gar nichts mit Versen zu tun haben wollten ...«

Molluske räusperte sich, und indes er die Lippen zusammenkniff und die Brauen hochzog und mit dem rechten Zeigefinger etwas nervös auf den Tisch trommelte, sah er starr vor sich hin, irgendwohin in einen leeren Raum.

Das erkannte nun die gute Kommerzienrätin nach ihrer Erfahrung als eine Korrektur und eine Mahnung zur Umkehr.

»Ich meine,« sagte sie, »früher hat man ganz selten was in Versen gehört, und man glaubte –« Frau Lepiner sagte dieses ›man‹ nicht ohne eine kleine spitze Abwehr der ihr widerfahrenen Korrektur – »man glaubte, daß der Realismus das allein Richtige sei, und, sehen Sie, Franz Paul, da wundert es mich nun eigentlich, daß Sie den Mut hatten, gleich mit Versen zu kommen.«

»Liebe gnädige Frau,« fiel hier Molluske ein, »darf ich für unsern jüngsten Priester im Musentempel antworten?«

Er wartete nicht auf die Erlaubnis, sondern nahm sogleich den Kneifer ab und hielt ihn tändelnd in der rechten Hand, was ein sicherer Beweis war, daß nunmehr eine bedeutsame, jedenfalls aber eine längere Aussprache folgen werde.

Er rutschte auf seinem Stuhl vor, daß sein Hinterhaupt auf der Lehne ruhte, und sah mit halbgeschlossenen Augen zur Decke auf, was als weiteres Zeichen gelten konnte.

Dann begann er:

»Tja – Realismus und Versdrama – und wenn man schon vom einzig Richtigen sprechen will, was von vornherein nicht einzig richtig, sondern einzig unrichtig ist. Sie, verehrte gnädige Frau, sehen Gegensätze, wo ich eine Entwicklung sehe, die ganz gut und organisch auch wieder eine Rückentwicklung sein kann. Ich sage ›kann‹, ich sage nicht ›muß‹.«

Molluske spielte lebhafter mit dem Kneifer und kaute mit Genuß an seiner Weisheit, bevor er sie ausspuckte.

Und er schloß die Augen noch etwas mehr, etwa so, wie es Katzen machen, wenn sie in behagliche Stimmung geraten und schnurren.

»Ich bin Ihnen eigentlich dankbar, verehrte gnädige Frau, daß Sie diese Frage aufgeworfen haben, denn sie ist von allgemeiner Bedeutung.

Freilich –« er neigte sein Haupt leichthin gegen Frau Lepiner – »freilich ist sie nicht ganz scharf gefaßt, denn Ihre Gegenüberstellung von Realismus und Versen, oder sagen wir Versdrama, gibt uns keine deutliche Vorstellung davon, ob Sie mehr auf den dramatischen Typus, oder ob Sie mehr auf die Form Gewicht legen. Ich denke dabei an Zustandsdrama, an Entwicklungsdrama, ich denke an das analytische Drama ...«

»Darf ich mir eine Bemerkung erlauben?« rief hier ein Herr Wünsche mit durchdringender Stimme vom untern Ende des Tisches herauf.

Als Sohn reicher Eltern hatte er sich naturgemäß, und zwar nicht ausübend, sondern kritisierend, auf die Literatur geworfen und bereits zwei Aufsätze in einer Theaterzeitschrift veröffentlicht, und da nun in Molluskes kaum begonnenen Ausführungen irgend etwas das Räderwerk seiner Vorstellungen berührt hatte, wollte er den Wecker ablaufen lassen.

Er hätte nichts Schlimmeres tun können.

Molluske schien von einer Lähmung betroffen zu werden, so zuckte er zusammen, dann aber gab er mit einem energischen Ruck seine bequeme Stellung auf, setzte sich in seinen Stuhl zurück, und indem er den Kneifer ungestüm auf die Nase setzte und Herrn Wünsche durchbohrend anblickte, sagte er, jede Silbe betonend:

»Ich bin nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.«

Die Tischgesellschaft richtete mißbilligende Augen auf Herrn Wünsche, der dadurch fast in die ungewohnte Lage kam, verlegen zu werden. Er besann sich aber noch rasch eines Besseren und setzte zu einem Wortschwalle an.

»Ich wollte nur sagen, verehrter Meister, und wie ich wohl behaupten darf, ich stand und stehe dabei ganz auf Ihrer Seite, ich wollte also nur sagen, daß wir auch in der realistischen Periode wieder auf das analytische Drama stoßen, während wir doch gerade die breite Zustandsschilderung und damit wieder die in und durch den Zustand bedingte Entwicklung als das Wesen des modernen Dramas betrachten dürfen und auch zu betrachten gewohnt sind ...«

Es war notwendig, daß hier Einhalt getan wurde, sonst wäre aus dem abgeschnittenen Vortrage des Alleinherrschers Molluske tatsächlich eine aufsehenerregende Expektoration des Adepten Wünsche geworden, und bei der leicht bestimmbaren Menge wäre vielleicht die größere Zahl der gesprochenen Worte nicht ohne Eindruck geblieben.

Aber es wurde Einhalt getan, indem Molluske sich über viele geistige Stufen hinaufschwang und von einer schon kalt anmutenden Höhe herab sagte:

»Es ist mir nicht ganz so wesentlich wie Ihnen, was Sie sagen wollten, oder künftighin sagen werden, verehrter Herr Wünsche, ich will nur konstatieren, daß ich nicht gewohnt bin, unterbrochen zu werden.«

Durch diese mit ironischer Gedehntheit gesprochenen und auch im passenden Tonfall vorgetragenen Worte waren die richtigen Größenverhältnisse wieder hergestellt.

Der Dichter Franz Paul aber, der das Wortgefecht viel zu ernst nahm, errötete lebhaft und heftete seine Blicke in echter, ungekünstelter Verlegenheit auf die Tischdecke. Und damit hatte er sich die Neigung Molluskes völlig gewonnen.

Der strenge Mann, der bei seiner langjährigen genauen Betrachtung der Literatur kaum einmal auf Schüchternheit gestoßen war, wurde hier, wo sie sichtbar in Erscheinung trat, beinahe gerührt.

Und er beschloß, über den Jüngling mehr Gutes zu schreiben, als er eigentlich dachte.

»Lieber Doktor,« sagte nun Frau Lepiner, die von der Pause im Gespräche bedrückt wurde, »lieber Doktor, Sie sind also der Ansicht, daß unsere Dichter wieder Verse machen dürfen?«

»Wer hat es ihnen verboten?« fragte Molluske.

»Ich dachte nur, weil doch früher, so vor drei, vier Jahren ...«

Sie stockte, denn ihr Mentor zog die Stirnhaut nervös in die Höhe. Aber dann legte er, wie beschwichtigend, die Hand auf ihren rundlichen Arm und sagte in eindringlich sanftem Tone:

»Gute Frau Kommerzienrat, verehrte gnädige Frau, wenn man Sie hört, könnte man wirklich zu der Vermutung kommen, wir hätten hier gewissermaßen polizeiliche Vorschriften gegen den Unfug der gebundenen Form erlassen. Wäre ich nicht unterbrochen worden, so hätte ich Sie vielleicht daran erinnern dürfen, daß ich, daß wir, kurz, daß die Kritik Stellung nahm gegen die schädliche Meinung, als könne der Vers über alle Mängel in der Erfindung, in der Handlung wegtäuschen.

Wäre ich nicht unterbrochen worden, so hätte ich vielleicht gesagt, daß wir den Dichtern das heitere Spiel mit der Form durchaus nicht verwehren wollen, ich hätte gesagt, daß die moderne Dichtung, nachdem sie nunmehr durch die gute, wenn auch harte Schule des Realismus hindurchgegangen ist, daß die moderne Dichtung jetzt wieder freiere Tummelplätze aufsuchen mag und darf, ich hätte vielleicht gesagt, daß in dieser Sichauslebungsperiode, in dieser Lustamdaseinsperiode, welche die graue Nietzscheanische Nebelperiode überwunden zu haben scheint, auch der Vers wieder zu seinem Rechte gelangen mag ...«

Molluske war eben daran, den Kneifer abzunehmen und wiederum auf seinem Stuhle vorzurutschen, als ihm einfiel, daß er es eigentlich abgelehnt hatte, hier weitere Perlen zu verstreuen.

Er ließ darum den Kneifer auf der Nase, zog die Achseln hoch und schloß:

»Aber ich bin eben verhindert worden, davon zu sprechen, und ich muß darauf verzichten, mich eingehender darüber zu äußern. Nur so viel, liebe gnädige Frau, um Ihre Frage kurz und bündig zu beantworten. Ja. Der Dichter darf wieder Verse machen, und die Verse unseres Franz Paul –« er sagte wirklich: unseres Franz Paul – »haben mir sehr gut gefallen.«

In der ganzen anwesenden Gesellschaft befand sich niemand, der im vertrauten Umgange mit dem großen Kritiker von diesem unmittelbar nach einer Erstaufführung jemals ein mündlich abgegebenes Urteil gehört hätte.

Im Gegenteil.

Gerade Molluske hatte das Sphinxtum der Kritiker während und nach der Aufführung in Mode gebracht, den steinernen Gesichtsausdruck, den starren Blick; und viele glaubten, er habe sich nur deshalb einen Radmantel gekauft, um ihn nach der Premiere malerisch um die Schultern und die untere Gesichtshälfte zu schlagen und wie das verderbenschwangere Schicksal schweigend und unnahbar das Theater zu verlassen.

Und hier sagte er nun geradeheraus und wortdeutlich, die Verse unseres Franz Paul hätten ihm sehr gut gefallen.

Ein Flüstern lief an der einen Seite des Tisches hinauf und kam an der andern herunter, und Frau Lepiner sagte zu Frau Dolly Kärtner:

»Er ist so ganz anders wie sonst!«

Den Direktor Gelbmann aber befiel eine wilde Freude, und er verschaffte ihr auf seine Art Luft.

Er rief aufgeregt und sehr befehlend:

»Ober! Ober! Kommen Sie mal her!«

Als der Kellner diensteifrig herbeigeeilt war, fragte Gelbmann so laut, daß es nicht überhört werden konnte:

»Was haben Sie für Sekt?«

Und die Augen bedeutsam rollend, fügte er bei: »Französischen Sekt?«

Der Kellner nahm eine straffere Haltung an und zählte einige bekannte Marken her.

Der Direktor benahm sich wie ein Feldherr auf der Bühne, der wichtige Meldungen empfängt und rasche Entschlüsse fassen muß. Er kniff die Lippen zusammen, dachte blitzartig nach und gab die Befehle.

»Heidsieck Monopole ... hören Sie ... mit Korkbrand ... und hören Sie ... gut frappiert ...«

Die Gesellschaft mußte es bemerken, und sie bemerkte es auch: Gelbmann verstand die Situation, und Gelbmann feierte die Situation.

Wenn er es tat, so hatte er recht, keine ängstliche Zurückhaltung dabei zu bewahren. Diese anwesende Gesellschaft hätte über allem andern schnell das eine vergessen, wer eigentlich den von Molluske begünstigten Dichter entdeckt hatte, und es war nicht überflüssig, sie daran zu erinnern.

So müssen wir es verstehen, daß Gelbmann seine Herzlichkeit mit Brausen überströmen ließ und Runden um den Tisch machte und sehr viel von Taufen sprach, aus denen ein starkes Talent gehoben worden sei, von jungen Bäumen, die herrliche Früchte versprächen, vom Most, der sich wild gebärde, um edler Wein zu werden, und daß er auch den Taufpaten und geistigen Vater, und kurz und gut sich selbst nicht unerwähnt ließ.

Alle, mit denen er gerade sprach und anstieß, gaben ihm recht, und alle, die nicht in Hörweite saßen, hingen höhnische Bemerkungen daran, und so wurde das Gespräch lebhaft und fröhlich.

Bis nun Molluske näher an den Tisch heranrückte und zu dem stillen Franz Paul mit aufmunterndem Lächeln sagte:

»Es wäre mir recht interessant, einiges von Ihrem Werdegang zu erfahren. Das gibt gute Ausblicke und läßt manches besser verstehen. Nicht wahr, Sie sind Süddeutscher?«

»Ich bin aus Langenargen am Bodensee,« erwiderte der Dichter.

»Gott! Dieser Bodensee!« rief Frau Lepiner, »er spielt doch eine merkwürdige Rolle in der Literatur!«

Die übrige Tischgesellschaft aber, die sich von Molluske gute Bemerkungen versprach, horchte auf, und selbst Wünsche, dem Direktor Gelbmann soeben Näheres über die erste Taufe von jungen Talenten mitteilte, mahnte zum Schweigen.

»Aus Langenargen,« wiederholte Molluske und hielt seine Hand beschwörend gegen Frau Lepiner auf. »Und wollen Sie mir nicht etwas erzählen von Ihrer Jugend, und wie Sie dazu kamen, unter die Dichter zu gehen?«

»Wenn es Sie nicht langweilt,« sagte Franz Paul und errötete auf ein neues.

»Es langweilt mich ganz und gar nicht,« versicherte Molluske gütig.

»Mein Vater ist Gärtner in Langenargen,« erzählte der Dichter, und es fiel nun allen auf, daß er schwäbelte, »mein Vater ist Gärtner, und ich hätte eigentlich den gleichen Beruf ergreifen sollen. Aber der Wunsch meiner Mutter war, daß ich Geistlicher werden sollte.« – »Evangelischer?«

»Nein, ich bin katholisch; in unserer Gegend gibt es kaum Protestanten, sie war doch früher unter österreichischer Herrschaft ...«

»Ach ja, richtig!« sagte Molluske.

»Ich wurde in das Konvikt nach Rottweil geschickt und machte eben das Gymnasium durch, ohne besondere Erlebnisse. Aber nach dem Absolutorium, und wie ich schon mehr über meine Zukunft, über meine Neigungen nachdachte, über das, was ich eigentlich wollte, da fühlte ich eben stark, daß ich nicht zum Geistlichen paßte.

Es war insofern kein leichter Entschluß für mich, diesen Beruf aufzugeben, weil sich meine Mutter immer mehr an den Gedanken gewöhnt hatte, allein ...«

»Einen Augenblick,« sagte Molluske, »verzeihen Sie, wenn ich Sie hier unterbreche. Hatten Sie damals schon schriftstellerische Versuche gemacht?«

»Eigentlich schon; es waren Gymnasiastenversuche, so eine Hannibal-Tragödie ... und –« Franz Paul wurde nun schon wieder rot – »einige Gedichte ... an ein Mädchen ...«

»Sieh mal an!« rief Frau Lepiner und griff nach ihrem Lorgnon, aber auch die andern Damen spitzten die Mäulchen.

»Es war ein harmloses Erlebnis,« versicherte der Jüngling aus Langenargen, ehrlich und eifrig.

»Das glaube ich Ihnen ohne weitere Versicherung,« sagte Molluske und lächelte. »Also mit der Geistlichkeit war es dann nichts!«

»Nein. Es ist mir eben schwer geworden, meiner Mutter diese Kränkung anzutun, aber ich meine, jeder andere Beruf läßt sich ohne innere Neigung leichter ergreifen, als gerade der geistliche.«

»Darin wird Ihnen jedermann zustimmen. Und Sie wurden dann ...?«

»Ich studierte dann Philologie in Tübingen, und in der Universitätszeit verspürte ich sehr stark den Drang in mir, selbst etwas hervorzubringen, zu gestalten ...«

»Und was waren so die ersten Versuche?«

»Ich habe eben kleinere Erzählungen geschrieben, die auch in einigen Zeitschriften veröffentlicht wurden; dazwischen hinein machte ich auch Gedichte ...«

»Wieder an die junge Dame?« fragte die schelmische Frau Wünsche.

Franz Paul lächelte und zeigte zwei Reihen gutgepflegter Zähne. »Nicht an die gleiche,« sagte er.

»Oh! Ah!« machten die Damen, streckten die Köpfe vor und bildeten sich ihre Meinungen über diesen Neuling.

Frau Wünsche, die ihre Erfahrungen hatte, war geneigt, ihn für raffiniert zu halten, für einen Mann, der mit Geschick den Naiven spielte.

Die andern standen mehr unter dem Eindruck einer ungekünstelten Ehrlichkeit.

Gelbmann warf forschende Blicke auf Molluske, und als er merkte, daß die Züge des Gestrengen ein unvermindertes Wohlgefallen verrieten, war er im höchsten Maße zufrieden mit seinem Schützling. Er sah überrascht, wie schnell sich dieser harmlose Mensch in die Rolle hineinfand, die er ihm vorher mit wenigen Worten anempfohlen hatte.

Das war genial gelöst, Natürlichkeit, süddeutsche Gemütlichkeit – und, o ja ... auch Erdgeruch. Bravo! rief er innerlich.

Franz Paul merkte von all den verschiedenen Gedankengängen, die er angeregt hatte, nichts, sondern setzte mit Sachlichkeit auseinander, wie ihn seine Beschäftigung mit mittelhochdeutschen Dichtern allmählich zu dem Drama »Gwendolin« herangeführt habe.

Die Art, wie er dies tat, zeigte, daß er sein Werk für etwas Rechtes hielt, und auch, daß er mit schwäbischer Gründlichkeit seine seelischen Vorgänge studiert hatte.

Als er zu Ende war, trommelte Molluske leichthin mit den Fingern auf die Tischplatte und versank eine Weile in Gedankentiefe.

»Hm!« sagte er, und diesmal nahm er wirklich den Kneifer ab und rutschte auf seinem Stuhle vor, bis sein Haupt auf der Lehne lag ... »Hm! Hier hätten wir nun die klare Geschichte einer Entwicklung. Ein Künstlerleben, besser gesagt, die Anfänge eines Künstlerlebens, geschildert vom Künstler selbst.

Abstammung, Heimat, Werdegang, äußere Einflüsse, innerlichen Kampf mit der ursprünglichen Bestimmung, als vertiefendes Element den Einfluß der Mutter, wohl auch den Einfluß der gesamten durch die Tradition bedingten heimatlichen Anschauungsweise. Hier haben wir verträumte Jugend, Landluft, Scholle, einengende Schulverhältnisse, den Schritt ins Freie, und hier haben wir endlich die Gesamtheit aller vorbereitenden, dienlichen und direkt bildenden Vorgänge, wurzelnd in einem Boden, der von jeher der Dichtung im allgemeinen und der Romantik im besonderen förderlich war ... hm ... jawohl!«

Molluske erhob sich mit raschem Entschluß und reichte über den Tisch hinüber unserem Dichter die Hand. »Ich danke Ihnen für den Abend, Herr Franz Paul Eisenreich,« sagte er, »es hat mich aufrichtig gefreut, Sie kennenzulernen.«

Nach einer Verbeugung gegen die Gesellschaft und einem freundlichen Abschiede von Frau Lepiner entfernte sich der Gewaltige, und wie er nun mit dem Radmantel energisch die untere Gesichtshälfte bedeckt hatte, war er wiederum ganz Sphinx, Schweigen und geheimnisvolle Macht.

 

Die Bedeutung Molluskes offenbarte sich erst, als er die Gesellschaft verlassen hatte.

Alle atmeten auf und wagten sich mit ihren Meinungen hervor, und schon der Ton dieser plötzlich durcheinander quirlenden Gespräche zeigte, daß mit einem Male ein Hemmnis weg geräumt war.

Gelbmann fühlte sich in den Mittelpunkt des Kreises gestellt, und er fing den Schwall von Glückwünschen, Ausrufungen und Fragen, der über den zukunftsreichen Dichter hereinbrach, mit großem Geschick auf; er antwortete für ihn, lockte Neugierde an und wehrte Neugierde ab und gab mit Achselzucken und vielsagendem Lächeln zu verstehen, daß man die Gunst des Augenblickes voll erkenne, und daß man machen werde, was irgend zu machen sei.

Als die erste Aufregung vorüber war, setzte sich Wünsche neben den Dichter, legte eine Hand leicht auf dessen linken Arm und ging methodisch vor.

»Sagen Sie mal, lieber Franz Paul, wie haben Sie eigentlich das angefangen, ich meine, wie haben Sie so spontan das Interesse, man darf beinahe sagen, die ostentativ zur Schau getragene Neigung unseres Doktors Molluske erregt?«

»Was heißt, wie?« antwortete Gelbmann. »Warum soll er sie nicht erregt haben?«

»Ganz recht,« gab Wünsche zurück, »und ich will das Verdienst des Dichters nicht schmälern – aber so, wie Molluske nun mal ist ...«

Gelbmann zuckte die Achseln.

»Ich erinnere mich an den ›Stein der Weisen‹,« sagte Wünsche, »an den ›Blinden von Damaskus‹, ich erinnere mich an so manche Premiere, und gerade an dramatische Arbeiten, die man in gewisser Beziehung als verwandt mit Gwendolin ...«

»Erlauben Sie mir!«

»… na, sagen wir, als entfernt verwandt bezeichnen dürfte, wie hat Molluske das alles abgelehnt!«

»Erlauben Sie mir!« wiederholte Gelbmann, »wenn Sie nach Gründen für den Beifall, für die Begeisterung eines solchen Kenners suchen, so müssen Sie doch den Gründen in der Sache selbst, in unserer Gwendolin nachgehen ...«

»Alles recht und schön, aber mir bleibt diese Stellungnahme doch rätselhaft. Ich möchte sagen, die Stärke Molluskes und das, was ihn so gefürchtet macht, ist doch gerade die zersetzende Art, die ... die anatomische Zergliederung ...«

»Hier ist eben nichts zu zergliedern,« sagte Gelbmann. »Molluske urteilt genau, wie ich geurteilt habe, als mir unser Schewinski Gwendolin vorschlug, das heißt, als ich das Drama gelesen hatte. Herrschaften, sagte ich, hier haben wir eine Sache, für die ich einstehe. Ich bin dafür eingestanden, Molluske steht dafür ein. Gut! Was wollen Sie?«

»Kennen Sie den ›Blinden von Damaskus‹?«

»Ich werde ihn nicht kennen ...«

»Schön! Nehmen wir mal die Handlung ...«

»Verehrtester, wenn Sie mir mit dem ›Blinden von Damaskus‹ kommen, dann muß ich Ihnen aber doch sagen ...«

Gelbmann sagte sehr viel, und Wünsche sagte nicht weniger, und es kam nun zu heftigen Abschätzungen der literarischen Marktwaren.

Fast alle beteiligten sich daran. Die Preise schwankten auf und nieder, und recht eigentlich wollte keine Begeisterung standhalten, denn vor dem ungestümen Widerspruche ließ jeder von seinem Lobe etwas nach und schien bei seinen Zugeständnissen ein schmerzliches Behagen zu empfinden.

Gegen den Schluß hin lagen alle Erzeugnisse der letzten Saison unterm Tisch, und man ging frisch daran, den Dichterheros des letzten Jahrfünftes in Betracht zu nehmen.

Franz Paul hörte von diesen Gesprächen, die für ihn recht lehrreich hätten sein können, wenig oder nichts.

Er rezitierte im stillen seine Verse und achtete so wenig darauf, das Gespräch mit Frau Lepiner in Fluß zu halten, daß die gute Dame den Entschluß faßte, heimzugehen.

Gelbmann begleitete sie nach herzlichem Abschiede von seinem hoffnungsreichen Hausdichter, den er der Obhut Schönaus empfahl.

Auch Wünsches brachen auf mit Dank für den sehr, sehr genußreichen Abend, und die übrigen folgten ihnen.

Schönau schlug seinem Schützling vor, mit ihm noch ein Glas Bier zu trinken.

»Ein Pi ... Pilsner ... hörst du, Junge? Der Ton kommt rein. Ich habe die Heiserkeit weggespült. Wir gehen zu Stallmann; ein Pilsner ist gut nach dem süßlichen Zeug, und ein vernünftiges Gespräch wird uns erquicken nach dem Gedalber dieser Bestien. Hat einer von ihnen über die Darstellung etwas gesagt? Keiner! Gib nur aus tiefstem Herzen dein Bestes! Wirf es ihnen vor ... ha! Doch komm, wir wollen gehen!«

Franz Paul willigte gerne ein. Er war zu froh erregt, um diesem ereignisreichen Abend ein Ende zu machen.

Bei Stallmann war kein Tisch mehr frei, und so nahmen sie Platz neben einem Herrn, der kurz ihren Gruß erwiderte und sich sogleich wieder in seine Zeitung vertiefte.

Schönau war recht gesprächig, und es sagte ihm zu, den unerfahrenen Jüngling in die furchtbaren Kämpfe einzuweihen, die er mit der Kritik geführt hatte, wobei es sich breit und ausführlich von großen Rollen und kleinen Kollegen sprechen ließ.

Franz Paul kam selten dazu, ein Wort einzuwerfen, aber wenige genügten, um den Herrn am Tische aufhorchen zu lassen.

Er legte die Zeitung weg und sah seinen jungen Nachbar prüfend an, und als dieser wieder einmal Schönau zustimmte, sagte er lächelnd:

»Entschuldige die Herre, wenn i unterbrech', aber –« er wandte sich an Franz Paul – »Sie müsse mir die Frag' scho erlaube, aus welcher Gegend vo Württeberg sind Sie her?«

Der Dichter war nicht unfroh überrascht und gab Auskunft.

»So?« sagte der Herr, »aus Langenarge sind Sie? I bin aus Pfullinge, mein Name ischt Schröfele.«

»Eisenreich«, stellte sich Franz Paul mit einer Verbeugung vor.

»Eisenreich?« wiederholte der Herr. »Ah ... des isch ... da sind Sie ja der neuaufg'führteschte Verfasser von ...«

»Gwendolin,« ergänzte unser Freund errötend. Es freute ihn, daß der Fremde und Landsmann seinen Namen kannte.

»Gwendolin ... ganz richtig ... i hab wohl g'hört, daß heut a Schwob im Feuer g'schtande-n-isch, so ... so ... des trifft si net schlecht, daß mir da z'sammekomme, und daß i heut no an schwäbische Dichtersma' treff ...«

»Und einen, der seiner Hauptfigur Leben verlieh,« unterbrach ihn der Mime in tiefem Basse, »mein Name ist Schönau ...«

»So ... so ... freut mi ... sehr a'gnehm,« sagte Herr Schröfele und wandte sich wieder an seinen jungen Landsmann. »Aus Langenarge? Do rum hab i Verwandte. D'r Maurermeischter Kollmann in Tettnang ischt a Vetter von mir ...«

»D'r Kollmann? So? Von dem seiner Frau a Schweschter hat da Bruder von mei'm Vat'r g'heiret!«

»Bi Goscht!« rief Schröfele. »Jetzt sag mir no oiner, was a Zufall ischt! Uf die Weis' sind mir zwoi au Vetter, wisset nix von anand und treffet uns do mitte-n-in der Nacht in der Riese'schtadt. Auf des hi' trinke mir ... Prosit, Herr Vetter!«

Er stieß mit Franz Paul an und war offenbar erfreut über das Begebnis, das am Ende nicht gar so seltsam war, denn Schwaben sind immer und auf irgendeine Weise zueinander verwandt.

Die Unterhaltung wurde nun angeregt und so landsmännisch, daß Schönau sich bald mit einer edlen Gebärde verabschiedete. Schröfele rückte näher zu Franz Paul.

»Jetzt saget Se mir grad amol ... oder halt ... Verwandte saget Du zu anand, isch recht? Und Tobies heiß i.«

Dem Jüngling war es recht, und sie tranken Schmollis.

»Jetzt sag mir no' grad amol, Mensch, wie kommscht du doher?«

»Weil mei' Schtück ...«

»Ha no, wie kommt dei' Schtück doher? I will's unb'seha fürs allervortrefflichscht halte, aber deswege isch die Frog' net so unmotiviert. Wie kommt dei' Erschtlingswerk doher? Des sagscht m'r amol!«

Franz Paul erzählte, redselig und nicht ohne Freude am Gelingen, wie er sein Werk eingereicht habe, wie es baldigst angenommen und aufgeführt worden sei. Er rühmte Gelbmann, der sich gleich begeistert gezeigt habe, er rühmte das Theater und die Aufführung und erzählte, wie nun alles zu diesem glücklichen und schönen Abend geführt habe.

Er wurde warm bei der Schilderung, und Schröfele, der ihn beobachtete, lächelte mehr als einmal, und es lag Güte in der Art, wie er es tat. Wie aber nun Franz Paul fertig war, strich sich Tobies nachdenklich den Bart und heftete seine klugen Augen auf den jungen Vetter.

»So ... hm ...« sagte er, »des isch alles recht schö', und m'r wollet froh sei', daß die G'schicht guet nausganga-n-ischt ... aber, jetzt laß mi amol ebbes sage. I han dir scho' verzählt, daß i seit guet fufzeh' Johr Redakteur vom Morgeblatt bi', und du ka'scht also annehme, daß i den Schwindel hie' ziemlich kenn. I will dir g'wiß d' Freud lasse, und i hoff, daß d'r's guet nausgoht, denn, woischt, Männle, im Sack hoscht as no it, vor it morge d' Augure von d'r Kritik 's Machtwort g'schproche hent ... was moinscht?«

Franz Paul meinte, daß der Mächtigste, namens Molluske, begeistert gewesen sei.

»So?« schmunzelte Schröfele. »An dem Feuer vom Herrn Molluske ka ma für g'wöhnlich koi Supp kocha, und du könntescht dei' blau's Wunder verleba, aber vielleicht läßt 'r sei Sonn über dir scheina und läßt di am Leba, und du hoscht dein Erfolg ... aber, Franz Paul, was isch no?«

»Wieso?«

»Was hoscht no im Sinn? Hoffentlich it 's Dobleibe, hen?«

Tobies sah beinahe besorgt aus, als er das fragte.

»Noi',« antwortete Franz Paul, »'s Dobleibe hon i gar it im Sinn. Was tu i denn do?«

»Des sag i au, und laß di net verhalte, und wenn se d'r no so liebreich kommet, pack auf und gang! Scho' des ischt a G'fahr, 's Interessantwera hie', sei Nummer kriaga, verschstohscht? Dia Kerle hent hie' scho' meh' wie oin kaput g'lobt und g'schmoichelt. Und wenn i vorig g'frogt han, wia du als Schwob do her kommscht, so hot des sein Grund. Was hent denn ihr junge Dachs, daß ihr beim erschte Mol in da Hexakessel schpringet?

Wenn du a rechter Kerle bischt und mit g'sunde Wurzle im Bode schteckscht, worum zoigscht net z'allererscht d'r Hoimet, was se d'r geba hot? Worum legscht net do dei' Prob ab, wo du g'lernt hoscht, und worum redscht zu Fremde und net zu Leut, die von deiner Art sind?«

Franz Paul sagte etwas von großer Bühne und starkem Echo ...

»Des sind Schprüch, Männle!« unterbrach ihn Schröfele. »Vorläufig muescht wachse, gel? Des ka'scht bloß in dei'm Bode. Wenn's so weit langt, daß ma d' Langenarger Frucht in Deutschland verkoschte mueß, ha no, do isch schpäter Zeit derzue. Z'allerletzscht hie', verschtohscht, wo se heut a Rarität probieret und morga wegschmeißet. Bi Goscht! Hie' a'fanga, du hoscht wohl koi Ahnung, was des für a dumms Lotterieschpiel ischt!«

Franz Paul wollte widersprechen, aber Tobies war in Eifer geraten.

»A Lotterieschpiel, sag i. Und koi' Ernscht und koi' Ehrlichkeit isch drin. Herrgott, sei froh, daß d' a Schwob bischt! Do woischt doch, wie und was! Und so a junger Kerle wie du mueß überlaufe und drauflos dichte, aber net noch'm Erfolg froga und noch'm Echo! Gib dene Kerle hie' dein kloina Finger, und du schreibscht nimma-n-unbekümmert, wie's d'r im Kopf und Herza saust und braust, glei kommat die Kümmerniß, was goht, und was d' Richtung ischt, und was modern ischt ... Kotz Ranzaduifel ... Mensch, mach no grad, daß d' weiterkommscht, i han so meine Exempel verlebt hie' ...«

»Wie g'sagt, i hon nix anders im Sinn als 's Hoimfahre ...«

»No also, bleib dahoim, wo d' her bischt, und mach's wia a richtiger Äpfelbaum. Langsam wachsa und noch und noch Frucht traga. Und des, was se d'r hie' gent, verschtohscht, d' Kritik und d' Gescheitheit und 's Besserwisse, des legscht oba na als Mischt. Vielleicht dungt 'r.«

Franz Paul begann wieder von der Geneigtheit des Herrn Molluske zu sprechen. Aber Tobies sagte:

»Wart's a! Und jetz verzähl m'r, was tuescht no dahoim? In Langenarge hocka und schpintisiera, zue dem bischt doch wohl z' jung?«

»I gang wied'r noch Tübinge und mach weiter.«

»Jetzt hoscht ebbes g'sait, und do will i di lobe.«

Tobies stieß kräftig mit seinem Vetter an, und als er nach einem herzhaften Schluck das Glas niedergestellt hatte, rief er aus:

»O du liab's Tübinge! Worum schtand i net uf d'r Bruck und guck 'num uf d' Alb?«

»Wenn so Hoimweh hoscht, worum bleibscht denn hie'?«

»Ha no, Männle, des hot sein Grund, und des ischt bei mir ebbes anders, als so bei eme freie Dichter und grasgrüne Anfänger. I han mein Kopf in d' Politik g'schteckt und mueß 'n drinn lau. Aber vielleicht schpäter amol gang i hoim und schreib Schtueggerter Sonntigsschpaziergäng'. So, Franz Paul, jetzt mach! 's isch nimme z' früah, und mir sind ja glücklich die Letzschte.«

Sie gingen.

Draußen umfing sie eine feuchte, lauwarme Luft.

»Föhn,« sagte Tobies. »Do werad d' Wasser ra schiaße über d' Alb, und in Tübinge quietschet die alte Wett'rfahna, und in alle Dachrinna wird's gurgle. Do müeßt ma jetzt im Dachschtüble uf'm Kanapee sitza und die allerg'müetlichscht Pfeif raucha und mit schwäbischer Gründlichkeit über so Froga nochdenka, ob die Vernunft das wahrhaft Wirkliche, das Sein, ischt, und ob demgemäß alles Wirkliche notwendig Vernunft und au d' Vernunft notwendig wirklich ischt. Und derzue müaßt ma dicke Hausschuah a'hau' und wissa, daß es z' Mittag Schpätzle geit. O mei Schwobaländle!«

Sie schritten durch ein paar Straßen, in denen es nun auch still geworden war, und Schröfele fragte:

»Wo wohnscht denn?«

»In der Pension Haase in der Mauerschtraß'.«

»So? Des isch glei ums Eck, do kann i di bis vor d' Haustür begleite.«

»Könnet mer uns it morge no amol sehe?« fragte Franz Paul.

»Morge? Noi, Männle, do han i Nachtdienscht, und unter Tag langt's scho' gar net. Und übermorge, hoff i, bischt nimme hie', denn des Rumhocka hot koin Wert. Also, nehma m'r heut Abschied. Vielleicht sehe m'r uns amol im Ländle ... So, do isch dei' Pension. Guet Nacht und b'hüet Gott, Franz Paul!«

»B'hüet Gott, Tobies!«

Nach einem Händedruck schieden sie voneinander.

Franz Paul öffnete die Haustüre, blieb aber noch stehen und sah dem Davongehenden nach, der mit seinem Stocke ein paar feste Hiebe durch die Luft führte.

Da rief er ihm nach:

»Und i wer au d' Hoimet schö' grüeße vo' dir!«

Tobies blieb stehen und schrie mit starker Stimme zurück:

»Jawohl, grüeß mei' Tübinge und d' Bruck und 's Uhlandhaus und da-n-Öschterberg und d' Alb und d' Schpätzle und d' Knöpfle und alles, was ma gern hot! Guet Nacht!«

 

Als Franz Paul, der so viele Eindrücke und Flüssigkeiten aufgenommen hatte, im Bette lag, verfiel er sogleich in einen tiefen Schlaf.

Erst in vorgeschrittener Stunde, als unten auf der Straße der Lärm sich immer stärker regte, begann er schwer zu träumen.

Molluske beugte sich über ihn und hob ihm an den Haaren die Schädeldecke auf, wie den Deckel einer Teekanne, und tappte mit den dicken Fingern in seinem Hirnkasten herum, und Franz Paul merkte mit Staunen, daß er Federn und Räder darin hatte, die abschnurrten, wenn Molluske sie berührte, und er hatte heftige, stechende Schmerzen dabei.

Dann zog Molluske sein Notizbuch heraus und schrieb feierlich und mit großen lateinischen Buchstaben auf ein Blatt die Worte:

SCRIBAX ROMANTICUX VERSIFEX

das Blatt rollte er zusammen, verpappte es mit seinem Speichel und legte es obenauf in den Hirnkasten und klappte die Schädeldecke zu. Paul fühlte einen heftigen Stich, als sie ins Schloß schnappte.

Er griff sich bestürzt, mit einer wilden Bewegung, an den Schädel, um ihn wieder zu öffnen und den Zettel, der einen dumpfen Druck auf sein Gehirn ausübte, zu entfernen. Aber wie er auch zerrte und schob, das Dach ließ sich nicht mehr emporheben, und so faßte ihn eine grimmige Wut gegen Molluske, der an seinem Bette stehen blieb und bedeutsam mit dem Kopfe nickte, als sei er wohl zufrieden damit, diesen Dichter ein für alle Male klassifiziert zu haben.

Franz Paul wollte heftig auffahren, aber seine Schmerzen hinderten ihn, und wie er in seiner Hilflosigkeit einen wütenden Blick auf Molluske schleudern wollte, war dieser verschwunden.

Statt seiner stand ein sonderbarer Greis am Fußende des Lagers.

Er war nackt bis auf eine Schwimmhose, von der ebenso wie von dem mächtigen Körper Wassertropfen herunterrannen. Auch der lange weiße Bart war naß, nicht weniger die Haare, um die ein Schilfkranz geschlungen war.

Der Greis hob warnend den Finger auf und heftete seine Augen streng und mißbilligend auf Franz Paul.

»Wer bischt denn?« fragte dieser mit erstickter Stimme.

In hohlem Basse kam die Antwort:

»I bi d'r Seegoischt vom Boddesee. Schand' gnua, daß d' mi net kennscht.«

Und nun sah Franz Paul, daß der grimmige Alte ein gewaltiges Ruder mit mächtiger Schaufel in der Linken trug, und daß er es wie prüfend in der Hand wog, als gedächte er, baldigst damit zuzuschlagen.

Der Dichter zog ängstlich die Decke höher und fragte leise:

»Was willscht no?«

Diesmal redete der Greis noch drohender, und sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an.

»I will d'r bloß saga, du rotziger Lausbalg, i hau kreuzweis und überzwear drei' und verschlag d'r dei Goscha, wenn it machscht, daß d' weiterkommscht. Gang hoim, du hoscht do nix z' suacha!«

Der Alte hatte das Ruder mit beiden Händen gefaßt und zog mächtig aus, und Franz Paul streckte mit einem Angstgeschrei die Arme abwehrend aus; da fühlte er sich an der Hand gefaßt und schlug erschrocken die Augen auf.

Ein älteres, stattliches Frauenzimmer stand mit freundlichem Lächeln vor ihm und sagte:

»Sie haben unruhig geschlafen, Herr Eisenreich; ich hätte Sie nicht gestört, aber Sie haben einen Zettel vor die Türe gelegt, daß Sie um zehn Uhr geweckt sein wollten. Es geht schon auf elf.«

Franz Paul fuhr sich über die Stirne, die ganz und heil war und an keiner Stelle verriet, daß man sie auf- und zuklappen konnte. Der dumpfe Druck war wohl noch da, aber der Dichter besann sich jetzt, daß er nicht von einem eingeschobenen Zettel herrührte.

Er lächelte auch, aber etwas schmerzlich, und sagte: »Ei ja, Frau Haase, i bin schpät heimkomme, und i hab wüeschte Träum g'habt.«

»Sie werden die Premiere ordentlich gefeiert haben,« erwiderte die gutmütige Hausfrau, »und hier, sehen Sie, habe ich Ihnen mit dem Frühstück gleich ein Paket Zeitungen bringen lassen. In jeder steht was über Sie.«

Sie nickte ihm aufmunternd zu und ging.

Franz Paul setzte sich auf und griff hastig nach den Zeitungen.

Gleich die erste zeigte unterm Strich die Aufschrift »Gwendolin« Uraufführung usw.

Er flog die Zeilen hastig durch:

»Ein ganz nettes Talent, man könnte, da es im ersten Aufblühen ist, auch Talentchen sagen. Unverdorben, der Frische nicht ermangelnd, freilich nicht kühn auf einsamer Heide emporgeschossen, sondern im Buschwerk der heimatlichen Dichtung schüchtern emporgeblüht ...«

»Vo' wem isch denn des Zuig?« murmelte Franz Paul und blätterte hastig um. Da stand auf der nächsten Seite:

Ernst Molluske. –

»Wa ...?!«

Er wollte seinen Augen nicht trauen. Das war doch nicht möglich, nach dem, was er gestern von dem Manne gehört hatte!

Diese unverschämte Art, ihn so von oben herab zu behandeln!

Er las weiter, aber es kam nicht anders, und es blieb dabei.

Molluske drehte ihn wie ein Nippfigürchen, das ein Zufall dem strengen Richter in die Hand gespielt hatte, vor dem Publikum nach allen Seiten hin, betrachtete es nicht gerade lieblos, tätschelte dem Büble die Wange, hoffte, es könne noch mal was aus ihm werden, und legte es beiseite, um zu Wichtigerem überzugehen.

Franz Paul war wie betäubt. Er suchte in seiner Erinnerung nach Gründen, aber er fand keine, und der Unerfahrene dachte nicht daran, was ein solcher Mann sich selbst und seinem Ansehen schuldig ist.

»Ah!« machte Franz Paul angewidert, ballte die Zeitung zusammen und warf sie in eine Ecke.

Die andern wollte er gar nicht erst lesen, dachte er, aber bald genug griff er zögernd nach dem nächsten Blatte und schlug es auf.

»Gwendolin«

Seit gestern sind wir um einen Naturburschen reicher. Es gibt Leute, und darunter sogar nicht unbekannte Kritiker, die sich mit diesem Gewinne zufrieden abfinden. Ich muß sagen, daß ich von der Herzigkeit solcher taufrischen Erscheinungen längst übersättigt bin, und daß ich ganz und gar nicht an das Heil glaube, das von der Provinz ausgehen soll. Ich muß sagen, daß ich an die Gefühle, die sich immer singend und jodelnd bahnbrechen müssen, nicht glaube – – –

Franz Paul las weiter und las den Namen ohne Neugierde erst am Schlusse ... Dr. Erich Wünsche.

Auch einer, der mit ihm am Tische gesessen war, ihm die Hand geschüttelt und ein paar Phrasen entgegengegrinst hatte, und der jetzt nach ihm spuckte. Aber das reizte nun seine Lachlust. Es war gut, daß ihm Tobies ein richtiges Licht aufgesteckt hatte.

Hätten ihn die Eigenarten seiner Gönner und Feinde unvorbereitet getroffen, dann wäre er nicht so schnell damit fertig geworden.

Er stand langsam auf, zog sich ohne Hast an und war mit seinem Entschluß im reinen.

Mit einem Lächeln, das wirklich ohne Bitterkeit war, bat er Frau Haase um die Rechnung und erfuhr, daß ein günstiger Zug schon zwei Stunden später abgehe.

»Warum so rasch?« fragte Frau Haase.

»Vier Tag' isch lang g'nueg, und dahoim isch am schönschte,« erwiderte Franz Paul.

»Ich gratuliere noch von ganzem Herzen.«

»Zu was, Frau Haase?«

»Zum Erfolg! Sie haben doch gelesen, wie günstig der Herr Doktor Molluske geschrieben hat ...«

»Finde Sie des wirklich so günschtig?«

»Aber Herr Eisenreich, wenn Sie wüßten! Das bedeutet bei Molluske schon kolossal viel. Mein Mann sagt das auch.«

»So? No, na mueß i ihm von Herze dankbar sei', und wenn i 'n wieder sieh, derf er m'r da Hobel ausblosa.«

Die gutmütige Hauswirtin lächelte verbindlich, denn weil sie vom Schwäbischen nichts verstand, glaubte sie, daß dem berühmten Kritiker das Beste zugedacht sei, und daß ihr Gast glückbeladen ihr Haus verlasse.

Zwei Stunden später saß Franz Paul in dem Zuge, der schwer schnaubend dem Süden zueilte, und entging mancher schönen und erzieherischen Stunde, der Einladung bei Frau Lepiner, dem Wiedersehen mit Molluske, einer wohldurchdachten Rede Gelbmanns und manchem andern, das sich daran gereiht hätte.

Er sah zum Fenster hinaus; Straßen, Plätze, Anlagen, Fabriken, Hinterhäuser, die er vor wenigen Tagen mit klopfendem Herzen angestaunt hatte, flogen an ihm vorbei, und er betrachtete sie jetzt recht gleichgültig.

Vielleicht saß hinter dem und jenem verhängten Fenster ein kluges Menschlein, das, einen Bericht über »Gwendolin« lesend, sich freute, daß es doch nicht gar so leicht sei, in der bedeutenden Stadt aufzukommen.

Der Naturbursche aber saß bald vergnügt und zufrieden in Tübingen und meldete die erfreuliche Tatsache seinem Freunde Schröfele.

Tobies wünschte ihm Glück dazu und schrieb, er wolle den bitteren Molluske künftighin als nützliches Insekt betrachten. »Denn er hat, vergleichbar der Schlupfwespe, Eier in die Raupe deiner Eitelkeit gelegt und sie dadurch, wie ich hoffe, vernichtet.«


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