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Junker Hans

Eine Kleinstadtgeschichte

Wie es gekommen war, ob Herr Pfaffinger höflich oder in barschem Tone das Schließen der Türe verlangt, ob Herr Tresser nach dieser Aufforderung erst recht die Türe aufgerissen, ob Herr Pfaffinger in rüder Weise sie dann ins Schloß geworfen hatte und hierauf von Herrn Tresser als ungebildeter Lümmel bezeichnet wurde, während Herr Pfaffinger diesen, Herrn Tresser nämlich, mit dem Worte Lauskerl schon vorher betitelt hatte, läßt sich aus den erregten Schilderungen der angesehenen Bürger Dornsteins nicht unwiderleglich feststellen, – Tatsache ist, daß Herr Tresser Herrn Pfaffinger einerseits an der Gurgel packte, während Herr Pfaffinger andererseits diesem, dem Herrn Tresser nämlich, eine derart schallende Ohrfeige versetzte, daß der Schlag sogar in den hintersten Sitzreihen des Höllbräusaales vernommen wurde.

Von vielen Zeugen des Vorfalles wird erzählt, daß die Tochter des Herrn Magistratsrates Trinkl, Fräulein Fanny Trinkl, über Zugluft geklagt habe, was den neben ihr sitzenden Brauereivolontär Pfaffinger veranlaßte, aufzuspringen und die Saaltüre zu schließen, worauf Herr Rechtspraktikant Tresser dieselbe sogleich wieder öffnete, sei es nun, weil er und einige mitanwesende Beamte es zu heiß fanden, sei es, weil er über die eigenmächtige Handlung des Herrn Pfaffinger entrüstet war, was aber wiederum diesem, Herrn Pfaffinger, als eine Beleidigung seiner Dame erscheinen mußte, so daß er sich zu einem Schimpfworte hinreißen ließ, wobei freilich nicht bestimmt behauptet werden kann, daß nicht etwa Herr Tresser schon vorher den Ausdruck ungebildeter Lümmel gebraucht hatte, kurz und gut, was hier auch übereinstimmend oder verschieden berichtet wird, – Tatsache ist, daß Herr Pfaffinger von Herrn Tresser an der Gurgel gefaßt wurde, und daß dann Herr Tresser eine dermaßen starke Ohrfeige erhielt, daß seine linke Wange anschwoll.

Mir war und ist es nur darum zu tun, eine vollkommen wahrheitsgetreue Schilderung des Herganges zu geben, wobei ich keineswegs, wie Herr Magistratsrat Trinkl, das Verhalten des Herrn Pfaffinger oder, wie Herr Sekretär Hundertkäs, das Benehmen des Herrn Tresser als absolut berechtigt hinstelle, sondern ich möchte ausschließlich die Tatsache klarstellen, daß Herr Tresser einerseits Herrn Pfaffinger körperlich anfiel, während Herr Pfaffinger andererseits diesem eine wuchtige Maulschelle applizierte.

Das Geschehnis läßt sich weder leugnen noch beschönigen, noch auf irgendeine Weise aus der Welt schaffen, und es ist weiter nichts zu erörtern als die Frage, welche Folgen die Mißhandlung eines den besseren Kreisen angehörigen Mannes haben konnte.

 

In der Tat wurde der Vorfall auch von den bürgerlichen Elementen nach Verlassen des Höllbräusaales lebhaft erörtert, und Bäckermeister Schwarz bewies vielleicht die größte Heftigkeit der Gesinnung.

»Also mir ... net ... also mir bal oana so was saget ... net ... also ung'hobelter Lackel oder so was ... net ... also i ... mei Liaba ... i den bei de Ohrwaschel nehma und beuteln ... hast d' g'hört ... und nacha oani links und oani rechts abahau'n ... vastehst ... und nacha no a paar ... also mir bal oana kam! Was? sag i ... an ung'hobelter Lackel bin i ... moanst du vielleicht, weil di dei Vata studieren hat lass'n ... derfst du an Bürgersmann, der wo seine Steuern zahlt ... net ... und wo seine Familli rechtschaff'n ernährt ... schimpf'n ... sag i ... Wer is ung'hobelt? sag i ... vielleicht net a Beamta, der sie a so aufführt? Was bin i? A Lackel bin i? Hab Eahna i scho amal an Lackel abgeb'n? Han? Du Herrgottsakrament! sag i. Da hast a paar! sag i ...«

»Plärr do net a so!« rief Magistratsrat Trinkl ... »Bleib'n ja d' Leut steh' und schaug'n ....« – »Ja no ... muß ma si so was hoaß'n lass'n?« – »Zu dir hat er nix g'sagt!«

»Dös is sei Glück, mei Liaba ... mir bal er so was saget! Also den schlaget i sei Batterie scho a so her, daß er alle Engel pfeif'n hörat ... Ung'hobelter Lackel möcht er an Bürgersmann hoaß'n ... so a Schreibersg'sell, so a notiger, der wo si net amal was G'scheit's z' fress'n kaff'n ko ... Dir gib i scho an Lackel ... also bloß sag'n braucht er's zu mir ... nix als wia sag'n ... sag' i ...«

»Mir g'fallt de G'schischt gar netn ... dös ... dös ... i woaß net ... da derleb'n mir no was!« sagte der Gold- und Silberarbeiter Elfinger und machte ein bekümmertes Gesicht ... »De G'schicht is no net firti ...«

»Was is net firti?« fragte Trinkl.

»Ja ... dös mit dera Schell'n ...«

»Dös is allerdings firti. Der hat sei Fotz'n, und gar is ...«

»Wer'n ma's sehen, ob die Sache so einfach verläuft, also gewissermaßen im Sande,« erwiderte Elfinger, der nicht ungerne hochdeutsch sprach.

»Was will er denn mit a Klag?« höhnte Magistratsrat Trinkl.

»Bal er z'erscht 's Maul aufreißt, net, und ganz ordinär werd' ... und nacha auf's G'richt laff'n! Na, mei Liaba!«

»G'richt laufen!«

»Ja ... da werd halt 's G'richt sag'n, Herr Rechtspraktikant, werd's sag'n, bald Sie eine würkliche Bildung besitzen, dürfen Sie nicht anfangen und die Leute aufreizen, und bald Sie aber die Leute aufreizen, müssen Sie Ihnen halt diese Behandlung gefallen lassen. A so red't 's G'richt! Vastand'n?«

»Ich rede ja überhaupts nicht vom Gericht,« sagte Elfinger etwas ungeduldig.

»Net?«

»Nein ... durchaus nicht. Das weiß man doch, daß diese Herren ... also ... die wo auf der Universität studiert haben ... eine Ohrfeige durchaus nicht hinnehmen dürfen wie unsereiner ...«

»Geh! Hör' auf!«

»Nein! Das lest man doch in der Zeitung, daß für solchene Herren eine Ohrfeige sozusagen eine tödliche Beleidigung ist, und auch bald sie nicht wollen, müssen sie doch, indem es ein Ehrenstandpunkt ist ...«

»Geh! Hör auf!«

»Na, frag' halt Leut', die 's wissen! Ob eine Ohrfeige nicht mit Blut abgewaschen werden muß, und bald der Betreffende auch vielleicht nicht will ...«

»Jetzt muaß i scho sag'n ... Elfinger ... red' net gar so saudumm daher!«

»Ich rede durchaus nicht saudumm daher ... und überhaupts möchte ich mir das verbitten ... net wahr ...«

»Kam er da mit'n Bluat o'wasch'n ... und solche Sprüch!«

»Weil es wahr ist! Jawohl! Wenn einer natürlich seiner Lebtag in Dornstein hockt als Lebzelter, weiß er nicht, wie solche Vorkommnisse sich auswachsen ...«

»O mei! Da balst net gehst! ...«

»Ich war dritthalb Jahr in Erlangen, mein Lieber, wo sich eine Universität befindlich ist, und bald du das nicht woißt, kannst es ja nachles'n im Sulzbacher Kalender ...«

»I huast dir auf dei Universität!«

»Das ist die Sprache der Ungebildeten ... das kann ich dir sagen ...«

»Han?«

»Jawohl! Da muß man einmal in der Welt herumgekommen sein, dann schaut man die Sache etwas anders an. Ich hab viel erlebt in dieser Beziehung, und bald ein Student dem anderen eine Ohrfeigen gibt, diese Fälle kenn' ich, und da entscheidet dann das Ehrengericht, ob dieser Betreffende nicht mit der Pistole in der Hand Rechenschaft verlangen muß ...«

»Herrgottsakrament, jetzt sag' i 's nomal, a so a spinnata Tropf is ma do aa no net fürkemma ...«

»Da spinnt niemand!«

»Net z' weni, sag' i ...«

»Nein! Durchaus nicht! Das ist der Standpunkt der Satisfaktion, wennst d' scho amal was g'hört hast von dem! ...«

»Da müaßt da Schorschl ...?«

»Jawohl!!«

»Da müaßt da Pfaffinger Schorschl si vo an so an notinga Hanswurscht'n nauf schiaßn lass'n?«

»Jawohl!! Das heißt, in dieser Beziehung weiß ja der Betreffende nicht, ob ihn das Schicksal trifft, und äh ...«

»Da Pfaffinger Schorschl, der in a paar Jahr de Brauerei von sein Vata kriagt mit achtavierz'g Wirt ... und ...«

»Was hat denn das damit zu tun ...«

»Und dös schöne Sach in Matzing drauß'n ... langa koan? vierhundert Tagwerk ...«

»… Also ...«

»Und a Stuck an achtz'g Küah im Stall ... der soll si ...? Geh! Wia no a Mensch so daher red'n ko!«

»Wenn du oan net red'n laßt und all's besser woaßt, na brauch ja i net red'n,« schrie Elfinger, den der Zorn wieder ins Altbayrische brachte.

»Für dös Red'n kriagst d' nix,« erwiderte der Herr Magistratsrat Trinkl mit gleichfalls erhobener Stimme. »Kam er do mit sein Student'nschmarr'n daher! A Duwäl! Ah! Ah! da kunnt'st scho Grean Baamwirt wer'n!«

»Wenn er an Ehr im Leib hat ... vastehst!«

»An Ehr! Woaßt, was da Pfaffinger Schorschl hat? An Diridari hat a! Maxi hat a! Und auf dei Ehr is ...«

»Mit dir ko ma net streit'n; dös woaß ma scho! Weil du a Hammi bist!«

»I?«

»Ja du! Für dös bist du bekannt in ganz Dornstoa!«

»Ah! Der is guat! Was bist na du?«

»Is scho recht!«

»Was bist na du? A spinnata Deifi bist d'. Mit'n Bluat o'wasch'n kam er daher! Wasch da du 's Hirn mit Salmiak, dös werd g'scheiter sei!«

»Sie sind ein ordinärer Mensch, Herr Trinkl! Ich verkehre nicht mehr mit Ihnen ...«

»Bleib' halt weg, spinnata Deifi! Spinnata!«

Herr Elfinger hatte sich mit raschen Schritten entfernt und war schon in der Dunkelheit entschwunden, da schrie ihm Herr Trinkl noch durch die hohlen Hände nach: »Druck di, du Hanswurscht, mit dein Duwäl!«

Und zum Bäckermeister Schwarz sich noch immer erregt wendend, fragte er: »Hast d' scho amal so was Dumm's g'hört? Der bracht's außa, als wenn da Pfaffinger Schorschl so a Karmenadlstudent waar!«

»I hab'n net recht vastand'n,« sagte Herr Schwarz. »Moant er, daß de mit'n Sabl da so aufanand trischak'n müaßt'n?«

»Oder schiaß'n, vastehst? Mit da Pistol'n! Der Pfaffinger Schorschl werd si von so an Hungerleider aufi schiaß'n lass'n. Dös kost da denk'n!«

»Als der oanzige Sohn vom Danglbräu in Matzing!« rief Bäckermeister Schwarz voll Hohn aus, denn auch er hatte sogleich die ganze Lächerlichkeit dieses Gedankens erfaßt.

»Also mir sollt oana mit so a'ra Duwälforderung kemma!« setzte er hinzu. »Grad kemma sollt oana! Was? sag i ... fordern möcht'n Sie mi? Auf was denn, sag i ... und an Schiaßa fürag'langa hintern Bachofa und den am Kopf aufi hau'n mit da Pretsch'n ... vastehst ... daß er drei Tag lang auf alli vieri umanandkriachat ... fordern möcht er mi ... so waar's recht! Fordern! An Bürger aa no koan Ruah lass'n mit dena Duwälg'schicht'n! I tat an Nudelwalgla nehma und den aba scho so umanandlass'n ... da hast dei Duwäl! sag i ... und hau eahm oani über sein Gipskopf umi, daß er grad staubet ... da ... sag i ... und da ... hast d' no oani ...«

»Herrgott! Gib do acht! Haut er mir an Huat aba!« schrie Trinkl.

»Muaßt scho entschuldinga ... aba da kunnt'st scho belzi wer'n ... net ... bal oan so was unterkimmt ... Fordern möcht oan der Schreiberg'sell ...«

Und man hörte noch lange ihre erregten Stimmen, da sie den Stadtplatz mehrmals hinauf und wieder herunter gingen.

 

»Sie san aber einer!« lispelte Fräulein Fanny Trinkl, als sie in Gesellschaft des Herrn Pfaffinger den Höllbräusaal verließ.

Der stattliche Brauereivolontär warf sich in die Brust und sagte mit geheucheltem Gleichmute: »Da gibt's bei mir nix!«

»Ich bin so derschrocken, wie Sie auf einmal aufg'sprungen sind. Jessas Maria! hab ich mir denkt, es werd doch kein Unglück geb'n, daß er Ihnen was tut ...« – »Der – mir?«

»Man weiß halt oft nicht ...«

Herr Pfaffinger schob den Hut verwegen aus der Stirne.

»Solchene derfen drei daherkemma, nacha fürcht' i s' aa no net.«

Das üppige Mädchen sah bewundernd zu dem Ritter auf, der sich kraftvoll in den Hüften wiegte und mit den Fingern schnalzte, gleichsam um zu beweisen, wieviel ihm an einer ganzen Schar von Gegnern läge.

Fannys rehbraune Augen trafen sich mit seinen etwas hervorquellenden wasserblauen und senkten sich sofort, indessen sie wiederum rief:

»Nein, Sie sind aber einer!«

Offenbar hegte Herr Pfaffinger die gleiche günstige Meinung von sich; denn sein ganzes Gebaren verriet, daß er mit der Bewunderung seiner Persönlichkeit beschäftigt war.

»Ich hätt' mir gar nicht denkt, daß Sie so heftig sein können ...« sagte Fräulein Fanny.

»Ja, da kenn i nix.«

»Wie Sie den Stuhl z'ruckg'stössen haben, und auf und hin ...«

»Da gibt's koana Würschtel! ...«

»Und wie Sie ihm eine hing'haut haben, daß 's ihn gleich draht hat!«

Wieder gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander, und indessen Herr Pfaffinger beim Schein einer Straßenlaterne respektvoll seine große Hand betrachtete, huschten Fannys Blicke wieder beifällig über ihn hin. Schön war er nicht –

Ein gewissermaßen viereckiger Kopf auf einem kurzen Halse; eine stumpfe Nase, dicke Lippen, die sich nicht ganz schlossen, so daß man die unregelmäßigen Zähne sah, der Teint von jener biersäuerlichen Blässe, wie sie Schenkkellnern und Bräuburschen eigen ist ... All das ließ den Pfaffinger Schorschl nicht gerade als verführerisch erscheinen, und doch besaß er Reize, die ein altbayrisches Mädchen, wenn auch noch so flüchtig, wohl bemerken konnte.

Derbe Rundungen und Breiten und Grobschlächtigkeiten, die vielverheißend waren.

»Eigentlich san S' wegen meiner in die G'schicht nein kommen, weil ich mich beschwert hab', daß die Tür offen war, und mich hat's nachher schon g'reut ...«

»Da braucht Ihnen nix reu'n, Fräulein Fannerl ...«

»Aber do, wenn S' jetzt solchene Unannehmlichkeiten hamm ...«

»Dös is mir ganz egal ...« Schorschl sagte wirklich egal ... »Bald ich amal bei einer Dame sitz ... nacha muß ich auch für die Dame eintreten ...« Ein zärtlicher Blick traf ihn, und seine wasserblauen Augen streiften wohlgefällig über den sehr stattlichen Busen des Mädchens und blieben daran haften.

Vielleicht war es der Wunsch, diesen straffen Formen näher zu rücken, vielleicht war es eine aufquellende Zärtlichkeit ... Schorschl streckte seinen Ellbogen hin und fragte: »Darf ich Ihnen nicht meinen Arm anbieten, Fräulein?«

Fanny hing sich ein, und beide fühlten wohlig eines die Wärme des anderen.

»Da gibt's nix,« sagte Schorschl, »bal ich amal mit einer Dame beisammen bin ...«

»Sie sind einer!«

»In Freising, wia 'r i studiert hab', da hat amal oana auf an Ball meiner Dame auf'n Fuaß tret'n. Dem hab i a paar abazog'n und hab'n über d' Stiag'n abi g'schmiss'n, daß er dös halbe G'lander mitg'numma hat ...«

»Jessas Maria! ...«

»Und amal hat inser Verbindung a Gartenfest g'habt ...«

»Waren S' bei an Studentenkorps?«

»Bei der Cerevisia in Weihenstephan in der Brauschul' ... und da hamm mir a Gart'nfest g'habt, und da hat oana mit meiner Dame 's Speanzeln o'g'fangt ... dem hab i aa zoagt, wo der Bartl an Most holt ...«

»Sie sind g'wiß ein rechter Don Schuang g'wesen?«

»Han?«

»Daß Sie recht poussiert hamm?«

»Gar so arg is 's net g'wes'n ...«

Schorschl lächelte aber doch vielsagend, und Fanny wollte hastig ihren Arm zurückziehen und wurde festgehalten.

»Mit Ihnen sollt' man sich gar net geh'n trauen ... Sie sind vielleicht ein ganz gefährlicher ...«

»Eahna waar i net feind, Fräulein Fannerl!«

»Sie Schlimmer!«

»G'wiß is wahr, i hab's Eahna scho lang sag'n woll'n ...«

»Was?«

»Daß S' mir gar so guat g'fall'n ...«

Ein zärtlicher Blick streifte ihn.

»Sie möcht'n mich g'wiß derbleck'n!«

»G'wiß net ... überhaupts gibt's dös bei mir durchaus net ... Freil'n Fannerl ... dös dürfens net glaub'n ... Fannerl ...«

Sie drückte sich näher an ihn, und er wurde eifriger.

»Moana S' denn, i hätt' mi so gift' über den Tresser, wenn i Eahna net gern hätt ...«

»Das sagen S' halt so ...«

»Na! Wenn i no red'n kunnt ... aba da auf da Straß ko ma ja net red'n ... wenn S' mi bloß a bisserl ins Haus nei lasset'n, Fannerl!«

»Aba Herr Pfaffinger!«

»Bloß in Hausgang! Daß ma dischkrier'n kunnt'n ...«

»Aba dös geht doch net!«

»Warum denn net? Bloß red'n, Fannerl, weil i Eahna gar so gern hab'.«

»Dös merkt doch der Vata!«

»Der merkt nix!«

»Hören S' auf! Was Sie red'n!«

Und wenn Herr Pfaffinger auch nicht gewandt genug war, um eine Situation blitzschnell zu überschauen, bemerkte er doch den sachlichen Ernst, der in der Abwehr des Mädchens lag.

»Geht's gar net ... Fannerl?«

»Genga's Sie!«

»I waar mäuserlstaad ...«

»Aba Herr Pfaffinger!«

»Geh! Wenn i d' Stiefeln ausziahg ...«

»Jessas na!«

»Höret mi koa Mensch ...«

»Ja, wia red'n denn Sie?«

»Fannerl!«

Er zog das Mädchen an sich. Seine linke große Hand verirrte sich auf den prallen Busen, indes er mit der rechten die schwach sich Sträubende rückwärts faßte und auch hier Anlaß zur stürmischen Werbung fand.

»Du Trutscherl, du liab's!«

»Herr Pfa…«

Seine breiten Lippen erstickten ihre Stimme, und sie legten sich breit und feucht auf ihren Mund. Ehrlich erwiderte sie den Kuß.

»Du Gschmacherl, du!«

»Schorschl!«

*

»Also paß auf, Fannerl, i ziahg d' Stiefeln aus ... werst sehg'n, es hört mi neamd ...«

»Aba da Vata schlaft do no net ...«

»Der schlaft scho!«

»Geh! Wenn er do jetzt erst hoam geht ...«

»Nacha wart i halt a halbe Stund, bis er eing'schlaf'n is ... und du machst mir d' Haustür auf!«

»Na ... Schorschl ... dös geht net ...«

»Leicht geht's.«

»Was denkst da denn du von mir? So schnell! Na ... dös geht amal net ...«

»Geh weiter ... Trutscherl! Jetzt dös derfst mir net o'toa!«

»Was?«

»Jetzt hab' i mi a so g'freut ... und nacha waar's nix!«

»Aba wenn's net geht!«

»Und i hab' mi so für di ins Zeug g'legt!«

»Aba Schorschl!«

»Ja ... Und du tatst mir gar koan G'fall'n!«

»Wenn aba da Vata net so g'schwind ei'schlaft!«

»Na ... wart i a Stund ...«

Fannerl schien zu überlegen, und da die Ergebnisse solcher Überlegungen immer die gleichen sind, sah Schorschl beseligt in die Zukunft ...

»Aba daß d' ja net früher kummst ...«

»Na ...«

»Und net an d' Stiag'n hi stößst ...«

»I sag da ja ... daß i d' Stiefeln ausziahg ...«

»Jessas! Jessas! Was muaßt dir du von mir denk'n!«

»Daß du a G'schmacherl bist!«

»Dös hast g'wiß scho zu viele g'sagt!«

»Dös? Na ... dös hab i no zu gar koane g'sagt! Derfst d'as g'wiß glaab'n ...«

Er war doch ein Don Schuang und kannte das weibliche Herz.

Ein neuer Kuß befestigte das Versprechen, und innig aneinandergeschmiegt schritten die beiden dem Hause zu, in das Schorschl so bald einzuschleichen gedachte.

Auf dem Stadtplatze hörten sie die rauhen Worte des Herrn Schwarz durch die stille Nacht schallen und stießen auch bald auf den ahnungslosen Vater, der sie freudig begrüßte.

»Ah! Der Herr Pfaffinger! Hamm S' mei Fannerl begleit'?«

»Ich hab mir erlaubt, weil mir Ihnen nicht mehr g'sehen haben ...«

»Ja ... i hab da a kloane Aussprach' g'habt ... über Eahna, Herr Pfaffinger ...«

»Ah so! Weg'n der Gaudi? ...«

»Ja ... und die Folgen, wo mir der Elfinger, der Hansdampf, der spinnate, hätt erzähl'n mög'n, daß Sie a Duwäl kriag'n ...«

»I?«

»Ja ... sagt der Elfinger ...«

»Um Gott'swill'n ... Herr Pfaffinger ... weg'n mir ...«

»Da brauchen Sie keine Angst nicht zu haben, Fräulein!«

»Dös hab i aa g'sagt ... so a Schmarrn, sag i ... auf d' Kirta laden S' den Kerl ei, wenn er Eahna was will ...«

»Geh, Vata!«

»Is ja wahr aa ... dös is de richtige Antwort ... Also guat Nacht, Herr Pfaffinger, und b'suachen S' mi amal ... werd mir an Ehr sei!«

»Guat Nacht, Fräulein!«

»Gut Nacht!«

Noch ein Blick, der alles auf ein neues bestätigte, dann huschte das Mädchen ins Haus, die Türe klappte ins Schloß, Herr Pfaffinger entfernte sich mit absichtlich lauten Schritten.

*

Ob es nun gerade eine Ehre für den Stadtvater Trinkl war, als Schorschl eine schwache Stunde später und sehr viel leiser wieder zu dem Hause kam, die Türe frohlockend geöffnet fand und auf den Fußspitzen gehend sich einschlich? Für ihn war es jedenfalls ein Glück.

Da stand er im Dunkeln und fühlte die Nähe des Mädchens. Ein leises Rascheln. »Pst!«

Eine Hand ergriff die seine ... eine Stimme flüsterte dicht an seinem Ohr: »Ziahg d' Stiefeln aus!«

Und er zog sie aus.

 

Es ist Zeit, von Anton Gumposch zu reden. Denn über allem darf nicht vergessen werden, daß in der tätlichen Mißhandlung eines akademisch gebildeten Mannes der Anlaß zu einem Ehrenhandel vorlag, jedenfalls vorliegen konnte, wenn anders die uralten Gebote der Ehre auch in diesem südlichen Winkel unseres deutschen Vaterlandes noch nicht alle Geltung verloren hatten.

Daß sie es nicht hatten, daß sie zum mindesten nicht stillschweigend übergangen werden konnten, dafür bürgte die Existenz des Herrn Anton Gumposch.

Er war wohlhabender Rentner, Sohn und Enkel reicher Gutsbesitzer, der seine Stellung in der Gesellschaft wie seinen Bildungsfonds als Hospitant einer Universität erhöht hatte, oder, genauer gesagt, als Mitglied eines Korps. Er liebte den Schein der Arbeit und war immer bemüht, ihn sich zu geben, und wenn ihm auch jeder Trieb zu ernsthafter Beschäftigung fehlte, war er doch Tag für Tag lebhaft und regsam und beobachtete nicht ohne Strenge die Arbeit seiner Nebenmenschen.

Wer sich rechtschaffen plagte, durfte sicher sein, daß ihm Gumposch wohlwollend auf die Achsel klopfte, und wer es im Kampfe ums Dasein vorwärts brachte, konnte in dem anerkennenden Lächeln des Herrn Gumposch den Ansporn zu neuen Anstrengungen erblicken.

Naturgemäß und ganz von selbst mußte sich ein so liebevolles Interesse für die Umwelt auch auf das Gemeinwohl erstrecken, und Gumposch war denn auch rastlos bemüht, alle Maßnahmen, Fürsorgen, Veranstaltungen und Anordnungen der städtischen Behörden Dornsteins einer sachlichen Prüfung wie einer ständigen Besprechung zu unterziehen. Sein nie ruhender Geist ersann täglich Pläne zur Hebung des Wohlstandes und Ansehens der Gemeinde; Hebung, Entwicklung, Fortschritt waren die Leitmotive seiner unzähligen Probleme, und so sehr stand er unter ihrem Banne, daß er nicht einmal die Möglichkeit eines Vorschlages prüfte, wenn er unter dem Zeichen von Hebung und Fortschritt zu stehen schien.

Gumposch versah im Geiste alle Berge der Umgebung mit Drahtseilbahnen, wollte auf den Höhen Riesenhotels anlegen, Bäche anstauen, um Seen für den Wintersport zu erhalten, rundum im Lande alle Wasserkräfte erwerben zu großen städtischen Fabrikanlagen, er projektierte elektrische Bahnen nach allen Ausflugsorten, Konzertsäle und Kaffeehäuser in der Stadt, und war immer mit einem neuen Plane zur Hand, wenn die Dornsteiner Rückständigkeit den alten kopfschüttelnd abgelehnt hatte, und war immer begeistert und ließ über den Häuptern einer grämlichen Philisterschar die Fahne des Fortschrittes flattern, des Fortschrittes, der Hebung und der Entwicklung.

Gumposch war als Politiker jenem früher allgemein üblichen Liberalismus zugetan, der ohne eigentliches Programm nur ab und zu bemerkbar wurde, wenn er sich gegen ultramontane Bedrückung aufbäumte oder sich bei Festen in Liedern erging. In gewöhnlichen Zeitläuften machte er nicht viel Aufhebens von seinen politischen Meinungen und vermochte sie auch wohl zu ändern und anzupassen, aber wenn Wahlen im Reiche waren, erhob Herr Gumposch einen starken Lärm, ließ sich auf den Schild heben und vermaß sich, der liberalen Idee neues Terrain zu erobern. Im »Dornsteiner Boten« tauchten Nachrichten auf von Reden, die unser Herr Gumposch hier und dort gehalten hatte, und von sichtbaren Eindrücken, die seine vaterländisch tiefempfundenen Worte auf die Bevölkerung gemacht hatten.

Das »Dornsteiner Wochenblatt« hingegen strotzte von hämischen Invektiven gegen den verdienten Bürger der Stadt und mußte in jeder Nummer Gumposchische Erwiderungen auf Grund des bekannten Paragraphen bringen, mit Repliken und Dupliken, in denen ein überlegener Hohn bald auf dieser, bald auf jener Seite zu finden war.

In solchen Zeiten, da deutsche Männer ihre ganze Vaterlandsliebe aufbieten müssen, um nicht vom Ekel übermannt zu werden, und ihre ganze Kraft, um nicht erschöpft zusammenzubrechen, und ihren nimmer versiegenden Glauben an Deutschlands Zukunft, um nicht daran zu verzweifeln, in solchen Zeiten fühlte sich Gumposch am wohlsten.

Das Zielscheibesein für gewissenlose Angriffe oder für Pfeile aus dem Hinterhalte war seiner Natur so recht entsprechend und stillte sein Bedürfnis, ein Mittelpunkt zu sein.

In solchen Zeiten konnte er es freudig erleben, daß auch stumpfe Naturen bei seinem Anblick in Bewegung gerieten, daß sonst gleichgültige Bürger vielsagend mit den Augen zwinkerten, wenn sie ihm begegneten, daß im Gasthause bei seinem Eintritte die Leute die Köpfe zusammensteckten, und es kam auch vor, daß der eine und andere ihm lautes Lob erteilte.

Und wenn dann am Wahltage, wohlgemerkt auf Kosten des Herrn Gumposch, im Redaktionsfenster des »Dornsteiner Boten« nach ganz neuzeitlichen Prinzipien die Wahlresultate hinter beleuchtetem Glase auftauchten und in diesem magischen Licht auch der Name Gumposch erstrahlte, und war es mit noch so wenig Stimmen des Durchfalles, dann bildete dieser Moment einen schönen Abschluß beseligender Wochen. Man sieht, daß dieser Mann ein Pol im Kreise der öffentlichen Interessen war, und darum noch einmal: es ist Zeit, bei diesem Ehrenhandel von ihm zu reden.

Er stand vor der Tatsache, daß Herr Rechtspraktikant Tresser nach einem heftigen Wortwechsel im überfüllten Höllbräusaale von Herrn Pfaffinger geohrfeigt worden war, und er war keineswegs geneigt, diesen Vorfall leicht zu nehmen oder ihn mit sattsam bekannten Vernunftgründen aus der Welt schaffen oder mit Worten einer billigen Entrüstung abtun zu lassen.

Nein! Hier war endlich ein wirklicher Skandal gegeben, an dem Leute beteiligt waren, von denen der eine gewiß, der andere vielleicht zum Verständnisse des tiefen Ernstes der Sache gebracht werden konnte.

Und Gumposch fühlte sogleich, daß er der Mann dazu war, diese Angelegenheit in die Hand zu nehmen, ihr Einschlafen zu verhindern, ihr einen honetten Ausgang zu verschaffen.

War es ohne Bedeutung für den gebildeten Teil der Dornsteiner Gesellschaft, wenn die bürgerliche Welt sah, daß dieses Renkontre nicht anders und nicht ernsthafter behandelt wurde wie etwa eine Schlägerei in den niederen Schichten? War es ohne erzieherischen Wert, wenn das Bürgertum einsehen lernte, daß zwischen seiner Auffassung von Händeln und ihren Folgen und der Auffassung von satisfaktionsfähigen Männern denn doch ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte? War es zuletzt für die Reputation der Stadt so gleichgültig, wenn hier Prügeleien nicht anders bemessen wurden als in dem nächsten Bauerndorfe?

Noch einmal nein!

Hier war Gelegenheit geboten, mit höheren Ansichten durchzudringen, dem Ehrenstandpunkte Geltung zu verschaffen, gegenüber einer Bevölkerung, die nur zu leicht geneigt war, die Schranken nicht zu sehen, welche sie von der gebildeten Klasse trennten.

Wenn diese Bevölkerung mit aus Grauen und Bewunderung gemischten Empfindungen sehen mußte, daß in gewissen Sphären ein Mann eben doch anders für seine Handlungen einzustehen habe als Krethi und Plethi – jawohl Krethi und Plethi – dann fiel von der abgerungenen Hochachtung auch für den Mann ein gut Teil ab, der dem Ehrenstandpunkte zum Siege verhalf und seine Zugehörigkeit zur besten Klasse klar und deutlich und weithin sichtbar bewies.

Alle diese Gründe, in einem Selbstgespräche und vor dem Spiegel mit Kraft vorgetragen, brachten Herrn Anton Gumposch schnell zu dem Entschlusse, seine Person in den Vordergrund zu schieben und das pöbelhafte Ereignis auf ein höheres Niveau zu bringen.

Der Weg zu diesem Unternehmen war vorgezeichnet. Daß Herr Tresser nicht erst einer Überredung bedurfte, um in der Sache klar zu sehen, war wohl anzunehmen.

Hingegen erschien es mehr als zweifelhaft, ob Herr Georg Pfaffinger nach Erziehung und Charakter in der Lage war, seine Pflicht zur Genugtuung voll zu begreifen.

Hier also mußte der Leiter der Angelegenheit einsetzen.

Zum ersten war die Frage zu prüfen, ob der Brauereivolontär satisfaktionsfähig war.

Vor nicht langer Zeit hatte die Regierung der Brauereiakademie den Charakter einer Hochschule verliehen, und damit war offenbar nicht nur dem Biersieder die Würde einer gelehrten Beschäftigung zugesprochen worden, sondern auch den Kandidaten die Eigenschaft des akademischen Bürgers.

Es bestand sohin gegründete Hoffnung, daß Herr Georg Pfaffinger auch von strengen Beurteilern für satisfaktionsfähig betrachtet werden konnte – – aber!

Ob sich der Mann diese Eigenschaft selbst zuerkannte, in einem Zeitpunkte, da sie für ihn brenzlich war, das mußte bezweifelt werden.

Gumposch, der sich zuweilen auch jovial zu geben wußte, kannte Schorschl von einigen gemeinsamen Früh- und Abendschoppen her und hatte einen Einblick getan in dessen robustes und bildungsfremdes Wesen.

Der ungeschlachte Jüngling hatte von Welt und Menschen eine durchaus bräuburschige Ansicht, und seiner Art lag es bestimmt näher, Streitigkeiten mit Watschen als mit Pistolenschüssen auszutragen.

Vielleicht wäre jeder andere zurückgeschreckt vor der Aufgabe, einen Pfaffinger über ritterliche Pflichten aufzuklären, vielleicht hätte jeder andere dieses hoffnungslose und übel angebrachte Beginnen von sich gewiesen, aber Gumposch hatte das stärkste Vertrauen auf die Macht seiner Persönlichkeit, und er ging sogleich daran, sein Vorhaben auszuführen.

Er zog seinen Gehrock an und bedeckte das Haupt mit einem Zylinderhute, und wenn dieser feierliche Aufzug an einem Werktage in Dornstein Aufsehen erregen mußte, so war das ganz und gar nicht den Absichten des Herrn Gumposch zuwider, denn er war nicht der Mann, eine so wichtige Sendung in Heimlichkeit und Stille zu vollziehen.

Im Gegenteil, als er an diesem hellen Vormittag über den Stadtplatz wandelte, verstärkte er so viel er nur konnte durch seine düstere Miene die Seltsamkeit seiner Erscheinung, und er bemerkte es gerne, daß man die Hälse reckte und aus Fenstern nach ihm sah.

Der Metzgermeister Eder pfiff und schrie hinter ihm her, was denn los wäre, und der Uhrmacher Haas nahm hastig das Vergrößerungsglas von seinem Auge und humpelte ins Freie.

»Herr Gumposch! Pst! Sie, Herr Gumposch, is a Leich oder was?«

»Heut is keine Leich oder was,« sagte Gumposch ungnädig und wie ein Mann, der nicht aufgehalten zu werden wünscht.

»Ja no! Weil S' an Bratlrock o'hamm. Machen S' an B'suach?«

»Besuch?«

Gumposch bückte dem neugierigen Uhrmacher ins Auge und sagte, jede Silbe betonend: »Jawohl, Herr Haas, ich mache einen Besuch!«

Haas verstand, daß hier irgend etwas im Hintergrunde lauere und erschrak beinahe darüber.

»S ... soo? Und bei wem, wenn i frag'n derf?«

»Sie dürfen eben nicht fragen.«

»Net?«

»Respektive,« sagte Herr Gumposch, »respektive ich darf Ihnen keine Antwort nicht geben ...«

»Ja, aber ...«

»Was?«

»I moan, warum nacha net?«

»Weil es Dinge gibt, Herr Haas, über die man nicht spricht.«

Bei diesen Worten machte Gumposch eine scharfe Wendung nach links in die Hafnergasse und ließ den verblüfften Uhrmacher in tiefem Sinnen stehen.

»… Wei ... weil ...?«

Weil es Dinge gibt, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen läßt, schlichter Bürger ...

Schauen Sie ihm nach, wie er dahingeht mit dem in die Stirne gedrückten Zylinder, winken Sie Ihrem Nachbar, dem Lohgerber, zu, der mit noch aufgekrempelten Ärmeln unter der Türe steht, wispert miteinander, lacht oder klopft vielsagend an die Stirne, ihr ahnt es nie, daß dieser Mann einen Gang geht, von dem Leben oder Tod abhängen kann!

Obwohl dem bedeutsam Ausschreitenden auch von hinten etwas anzusehen wäre, was man Schicksalsschwere nennen könnte.

 

»Herein!«

Mit stark verschleimter Stimme: »Herein!«

Herr Pfaffinger drehte sein Haupt, auf dem alle Haare wirr durcheinander geraten waren, mühsam gegen die Türe hin und versuchte es, die verklebten Augen zu öffnen.

Sein unsagbar leerer Blick fiel auf seine Hausfrau Margarete Holdenried, die ihn eifrig und mehrmals anrief.

»Herr Pfaffinger! Herr Pfaffinger!«

»Wos denn?«

»Da Herr Gumposch is da!«

»Da ... da ...?«

»Da Herr Gumposch!«

Das Erinnerungsvermögen Schorschls erstreckte sich offenbar nicht auf diese bedeutende Persönlichkeit.

Er sagte »von mir aus!«, gähnte und drehte sich um.

»Ja, aba Herr Pfaffinger, da Herr Gumposch möcht Ihnen doch sprechen!«

»Han?«

»Er muß Ihnen auf der Stell sprechen, hat er g'sagt ...«

»Mi?«

»Freilich, es muaß was Dringends sei ...«

»Er soll ma mei Ruah lass'n ...«

»Ja, aba, wenn er do sagt ...!« – »I steh net auf.«

Frau Holdenried stand ratlos unter der Tür und sah auf ihren Zimmerherrn, der die Decke über die Schultern zog und zu schnarchen anfing.

»Aba ...«

»Lassen S' mich nur herein,« sagte Herr Gumposch, schob sie höflich ein wenig beiseite und betrat das Zimmer.

»Jessas, wia's aba da ausschaugt!« seufzte Frau Holdenried, »… und ... und ...« setzte sie bei und öffnete ein Fenster.

»Ich muß eine Viertelstund' allein sein mit 'n Herrn Pfaffinger,« mahnte der Besucher.

»Aba wia's da ausschaugt!«

»Das ist jetzt Nebensache ... auf das geb' ich gar nicht acht ...« sagte Herr Gumposch.

»Ja no, wenn S' meinen, aba ...«

Frau Holdenried schüttelte mißbilligend das Haupt und übersah noch einmal mit einem Blick die wüste Unordnung im Zimmer, hob die Weste vom Boden auf, erhaschte die beiden Stiefel, schüttelte wieder das Haupt und ging.

Es war still in dem Zimmer; vom Bett her tönte es leise und gleichmäßig wie der Klang einer langsam gezogenen Säge.

»Herr Pfaffinger!«

Es kam keine Antwort, und die Haarwildnis, welche in den Kissen lag, geriet nicht in die geringste Bewegung.

Gumposch klopfte mit dem Stock auf das Bett, einmal, zweimal, öfter. »Herr Pfaffinger!«

Die Haarwildnis drehte sich um, langsam schob sich die Decke ein wenig herunter, und langsam schob sich der Deckel des einen Auges so weit hinauf, daß dieses verständnislos auf Herrn Gumposch starren konnte.

Dieser nahm einen Stuhl und setzte sich mitten in das Zimmer. Sein Kinn stützte er fest auf die Hände, die er über der Krücke seines Spazierstockes gefaltet hatte, und richtete seine Augen ernst und unverwandt auf den jungen Menschen, dem er eine Pause gönnte, um die Wichtigkeit des Augenblickes wie jene des Besuchers allmählich zu begreifen.

Schorschl schloß vor den strengen Blicken des Herrn Gumposch die Augen und öffnete sie nur zögernd wieder, und immer auf ein neues zeigte sich darin Erstaunen über die Erscheinung des Sendboten der Ehre.

Dieser räusperte sich etliche Male und sagte mit tiefer Stimme:

»Ja, ja ... das ist eine böse Sache, Herr Pfaffinger!«

Schorschls Gedanken reihten sich noch keineswegs geordnet aneinander.

»Wia?« fragte er.

»Sie haben sich was Böses eingerührt, gestern nachts ...«

Die Erinnerung an eine leise knarrende Stiege, an eine Türe, die beim Schließen ein wenig geächzt, an eine Hand, die ihn geführt hatte, die Erinnerung an volle Arme, die sich um seinen Hals geschlungen hatten, tauchte in Herrn Pfaffinger auf und vermochte ihn, seine Augen weiter zu öffnen.

Da saß vor ihm ein Mann, der ihn bitterernst anblickte und beinahe traurig mit dem Kopfe nickte ... irgendein Grund mußte ihn doch hergeführt haben ... sollte wirklich der Vater was gemerkt ... die Tochter was gestanden haben?

Sein Herz fing an, schneller zu schlagen.

»Wia?« fragte er unsicher, beinahe ängstlich.

Gumposch, als ein gewiegter Menschenkenner, sah wohl, daß seine Anwesenheit Gemütsbewegungen verursachte, und das freute ihn und erregte in ihm sogar ein gewisses Wohlwollen mit seinem Opfer.

»Tja!« sagte er, »lieber Pfaffinger, wie stellen Sie sich das vor, daß die Sach 'nausgeht?«

Wie stellte man sich das vor?

Die Gedanken Schorschls richteten sich langsam auf ein paar Möglichkeiten, Unannehmlichkeiten, auf Verdruß daheim, Verlust an Geld, auf lange Weibsbilderreden.

Er sah zerknirscht aus, was Gumposch sich hoch anrechnete, und da er nun den Augenblick gekommen sah, wo er mit einer wohlgesetzten Rede einfallen mußte, erhob er sich und wandelte im Zimmer hin und wider und war darauf bedacht, seine Perioden abzurunden.

»Da haben wir die alte Geschichte,« sagte er, »die Jugend, die einfach ... brrr ... drauflos stürmt, nichts überlegt, an keine Folgen nicht denkt, hitzig, nichts wie hitzig! Wacht man hernach am andern Tag auf, dann kommt die Überlegung. Jetzt sieht der Mensch, was er für eine Dummheit gemacht hat. Wie? Was sagen S'?«

Schorschl sagte eigentlich nichts. Er brummte wohl etwas in die Bettdecke hinein, aber es gehörte nicht unbedingt zur Sache und paßte keineswegs zu dem würdigen Ton, den Herr Gumposch angeschlagen hatte und festhielt. Bemerkenswert war nur, daß der junge Mensch in diesem Augenblicke beschloß, faustdick zu lügen und nichts zu gestehen, nicht das geringste zu gestehen und faustdick zu lügen. »Ja, da brummen Sie!« konnte nun der Redner fortfahren, »das verdrießt Sie womöglich noch, daß man Ihnen die Wahrheit sagt, aber die müssen Sie schon annehmen von einem Manne, der das Leben kennt und der in solchen Dingen seine Erfahrung hat. Seine reichliche Erfahrung, mein lieber Pfaffinger, und Sie müssen ja nicht glauben, daß ich über die Sache urteile, wie ... wie ... sagen wir ... ein Prolet oder ein Bürger ... Ich sage auch nicht, daß so was absolut nicht vorkommen kann ... du lieber Gott! Ich war auch kein Guter, wie ich so alt war wie Sie, ich war ein verdammt scharfer Kerl, das kann ich Ihnen sagen, und deswegen verstehe ich das Vorkommnis, verstehe es vollkommen. Sie müssen nicht glauben, daß ich Ihnen Vorwürfe machen will, ich betrachte es nur als meine Aufgabe, Ihnen mit Rat und Tat beizustehen ...«

Schorschl fand, daß dieser Mann sehr lange brauchte, bis er die Katze aus dem Sack ließ, und er betrachtete ihn blinzelnd und voll Unbehagen, wie er da auf und ab schritt und redete wie ein Buch.

Er sollte endlich einmal herausrücken mit der Farbe, damit man frischweg lügen konnte ...

»Pfaffinger,« sagte Herr Gumposch nun väterlich und zutunlich und sah den jungen Menschen wohlwollend an, »Pfaffinger, Sie betrachten sich doch selber als satisfaktionsfähig?«

»… Wia?«

»Nachdem Weihenstephan jetzt eine Hochschule ist, nicht wahr, haben doch die Angehörigen dieser Hochschule, nicht wahr, auch ihrerseits das Bestreben, als satisfaktionsfähig zu erscheinen ...?«

»Wia?«

Gumposch wurde ärgerlich.

»Also, das ist doch klar, daß Sie dem Herrn Rechtspraktikant Tresser nicht bloß eine herunterhauen können und damit fertig! Wir leben doch nicht unter den Aschantis, nicht wahr, oder unter den Bauern ...«

»Ja so!« Schorschl sagte es nicht eigentlich und deutlich. Seine ganze ängstliche Spannung löste sich auf in einem »Ja so!« Er rutschte mit einem kaum zu beschreibenden wohligen Gefühle tiefer unter die Decke, er streckte froh und erleichtert die Beine aus und spielte behaglich mit den Zehen und drehte sich gegen die Wand, und sein ganzes Wesen war nur ein »Ja so!« »Wir leben doch nicht unter den Aschantis!« wiederholte Gumposch, der diesen seelischen Vorgang nicht bemerkte, weil er eben seinen Marsch durch das Zimmer wieder aufnahm. »Wenn ihr Weihenstephaner das Bestreben habt, unter die Gebildeten aufgenommen zu werden, so müßt ihr euch auch klar sein, daß es hier, daß es in solchen Dingen nur ein Entweder – Oder gibt. Entweder man ist Knote, oder man gehört zu den Leuten, welche die Verantwortung für ihre Handlungen auf sich nehmen. Ist man Knote, will man Knote sein, – gut! Dann war es nicht notwendig, daß ich mich hierher bemüht habe, dann war es sehr überflüssig, sich den Rat eines Mannes zu erbitten, der von Jugend auf gewohnt ist, Differenzen in ehrenhafter Weise auszutragen. Dann war es ganz und gar nicht angebracht, sage ich, einem solchen Manne die Entscheidung zu überlassen, die Entscheidung darüber, ob hier anständig oder proletenhaft, jawohl, ich sage proletenhaft, verfahren werden soll; denn darüber konnte kein Zweifel sein, wie meine Ansichten sind, und jedenfalls würde ich es mir ganz energisch verbitten, in diesem Punkte Zweifel zu haben. Wie gesagt, die Frage lautet ganz einfach: Wollen Sie ein Knote sein und als Knote gelten, Herr Pfaffinger? Ja oder nein?«

Es ertönte weder das eine noch das andere. Sondern, erst leise einsetzend, dann zäh und wuchtig, als gelte es, Verlorenes nachzuholen, schnarchte der junge Mensch, dem hier so eindringlich wie uneigennützig ins Gewissen geredet worden war. Schnarchte dergestalt, daß jede Aussicht auch auf zeitweilige Unterbrechung ausgeschlossen erschien. Gumposch war mehr als indigniert, er war angefüllt mit Verachtung. Er nahm Stock und Hut, stellte sich vor das Bett und warf einen stechenden Blick auf diese jedes Pflichtgefühles bare und trotzdem in tiefstes Behagen versunkene Masse.

»Also Knote!« sagte er und ging.

Aber, wie gesagt, über all dem darf man nicht vergessen, daß ein Mitglied der besseren Stände, und einer, dem die Laufbahn im Staatsdienste eröffnet war, vor einem zusehenden Publikum das erhalten hatte, was auch eifrigste Beschönigung eine Maulschelle heißen mußte. Daß sie nicht einfach hingenommen werden konnte, war die Meinung aller Beamten, deren Leidenschaftlichkeit nicht gänzlich unter Aktenstaub erloschen war, und so konnte denn ein aufmerksamer Beobachter wohl bemerken, daß zwei Tage nach dem Vorfalle ein lebhafter Frühschoppen im Gasthofe zur Post herrschte. Der gebildete Teil der Bevölkerung trank hier ein Glas Wein und trank es mit tiefstem Unwillen, mit einem Gefühle, das man seiner weisen Mäßigkeit halber Indignation nennen könnte. Er hatte sich immer mehr erhitzt, als Gumposch erklärte, daß der ungehobelte Flegel, nämlich Herr Georg Pfaffinger, nicht das geringste Verständnis für das Wesen der Satisfaktion besitze.

Solange darüber nicht Klarheit herrschte, hatten die alten Studenten und freien Burschen das unangenehme Nebengefühl gehabt, daß ein Waffengang in Dornstein auch für entfernt Beteiligte große Unannehmlichkeiten nach sich ziehen könne. Jetzt, da für ängstliche Bedenken kein Platz mehr war, traute sich bei Oberamtsrichter Herzensfroh wie bei jedem der tiefe Ingrimm über den Lümmel hervor. Man war sich sogleich darüber einig, daß unter diesen Umständen dem ganzen klobigen Spießbürgertum ein heilsamer Schrecken eingejagt werden müsse durch eine scharfe Forderung auf Pistolen.

Natürlich würde sie Pfaffinger nicht annehmen, wie Herr Gumposch immer wieder versicherte, aber die bange Erkenntnis würde in ihm aufdämmern, daß er mit seiner Roheit an Kreise geraten war, deren scharfkantige Ehrbegriffe ihm furchtbar erscheinen mußten. Ihm und den anderen, die gegenüber von der Post beim Lammwirt saßen und, wie man recht gut wußte, ein unflätiges Vergnügen an dem bisherigen Gang der Ereignisse bezeigten.

Also über diese Notwendigkeit war man sogleich einig, und nun warf Oberamtsrichter Herzensfroh die wichtige Frage auf, wer das Amt des Kartellträgers, des, wie Gumposch versicherte, vergeblichen Kartellträgers übernehmen sollte.

In die engere Wahl kamen nur zwei Herren: Anton Gumposch und der pensionierte Leutnant Hans Mühlritter, denn es stand fest, daß kein Beamter sich der Aufgabe widmen durfte, weil die Expedition nicht geheimbleiben konnte und sollte.

Gumposch, ein mit dem Kodex der ritterlichen Pflichten vertrauter Mann, mußte die Wahl ablehnen, da er schon in anderer Eigenschaft, als Ratgeber und eventueller Sekundant, dem Menschen, nämlich Herrn Georg Pfaffinger, nähergetreten war, und so blieb nur Mühlritter übrig, der, ohne einen Augenblick zu zögern, seine Zusage gab.

»Für einen alten Soldaten,« sagte er, »gibt es da kein langes Hin und Her. Man stellt sich auf den Posten. Bong!« Alle dankten ihm herzlich, fast lärmend, und Gumposch, der, wie immer, den günstigen Augenblick ersah und das Richtige traf, bestellte eine Flasche guten Rheinweines.

Unter ihrem Einflusse wurde Mühlritter sehr gesprächig, und da er in seinem Leben wohl nie derartig in den Mittelpunkt des Interesses gestellt gewesen war, nützte er diese einzige und späte Gelegenheit nach Kräften aus.

Er war durch den magersten Ruhegehalt gezwungen, als Inspektor einer Lebensversicherung Nebenverdienst zu suchen, und in dieser Eigenschaft hatte er sich eine hinströmende und bilderreiche Redeweise angeeignet.

So verbreitete er also eine Atmosphäre von Ritterlichkeit und rauher Soldateska um sich und gab zu verstehen, daß solche Gänge, wie der vorhabende, zu seinen Gewohnheiten gehört hätten in jenen Tagen, die er mit Zungenschnalzen und Verdrehen der Augen seine tolle Leutnantszeit hieß.

Da Gumposch fleißig einschenkte und die Tafelrunde ihn mit Wohlwollen anhörte, geriet er immer tiefer in seine waffenklirrende Vergangenheit und berichtete Abenteuer, als wäre er bei Pappenheims Kürassieren gestanden und nicht im glorreichen Jahr 1866 zum Leutnant auf Kriegsdauer ernannt worden, und er überschüttete die Krämer, Brezelbäcker und Kälberstecher Dornsteins mit unsäglicher Verachtung, ganz vergessend, daß sie seine Mitbürger und Gläubiger waren.

Als die Mittagsglocke läutete, erwachten alle Familienväter aus ihren Heldenträumen und erhoben sich.

Junker Hans Mühlritter sah jedem vielversprechend ins Auge und teilte derbe Händedrücke aus und vermaß sich noch einmal und immer wieder, er wolle noch desselbigen Tages ein Feuerlein anschüren, an dem die Frechheit Pfaffingers wie Butterschmalz zergehen werde.

Dann blieben sie zu dritt am Tische sitzen, der Leutnant-Inspektor, Anton Gumposch und Tresser.

Die Gläser klangen hell und häufig aneinander, und Mühlritter trank, wie es recht war, Bruderschaft mit dem Jüngling, dessen Fehdebrief er dem Gegner überbringen sollte, und der Korpsphilister Gumposch hielt nicht an sich, sondern bot dem alten Kriegsknecht das traute »Du« an und küßte ihn auf das weinsäuerlich, duftende Maul.

Und ein rauhes Wort gab das andere, und jugendliche Abenteuer tauchten auf und verschwanden wieder im Nebel des Zigarrenrauches, und Tresser versank in tiefe Traurigkeit darüber, daß sein Feind nicht auf dem Plan erscheinen werde.

»Und nacha,« so erzählt die Kellnerin Zenzi, »und nacha hat der Herr Gumposch an Schampaniger zahlt, und da san s' allaweil b'suffener worn, und der notige Leitnant is auf an Sessel durchs Zimmer g'ritt'n und hat kummadiert, und de andern san hinter eahm drei' g'ritt'n, und wenn er Galopp g'schriean hat, san s' mit die Stuhl so umanandbockelt, daß zwoa brocha san, und g'sunga ham s', und da Herr Gumposch hat mit sein Steck'n umanandg'fuchtelt, als wenn er an Sabl in da Hand hätt', und nacha hat er a Lamp'n aba g'haut, und nacha san s' hoam.«

 

Nicht alle gingen heim, wie Zenzi glaubte, sondern Junker Hans marschierte über den Stadtplatz, und obwohl er krampfhaft sein Ziel, den Eingang der Hafnergasse, ins Auge faßte, landete er dennoch in schräger Linie seitab davon auf dem jenseitigen Bürgersteig und gelangte erst nach mehreren Schwierigkeiten vor die Wohnung der Frau Holdenried, welche erschrocken über den heftigen Klang der Glocke herausstürzte.

Der ihr nicht unbekannte Inspektor der Assekuranzgesellschaft Bolivia gab sich die größte Mühe, finster und ahnungsschwer auszusehen und das selige Lächeln aus seinem Antlitze weichen zu lassen.

Er fragte mit hohler Stimme, ob ein gewisser Georg Pfaffinger anwesend und gegenwärtig sei.

Nein, der komme erst in einer guten Stunde heim, und Jessas – Jessas na! was es denn schon wieder gebe?

»Nichts für Weiber!« war die Antwort, und da schaute nun die gute Witwe Holdenried dem über die Treppe hinab Polternden in banger, aber ungestillter Neugierde nach und faltete die Hände ineinander, wie es die Frauenzimmer in solchen Lagen tun.

»Jessas na! Also seit zwei Tag' is keine Ruh und kein Fried mehr im Haus ...«

Und eine Treppe tiefer kam die Frau Sattlermeister Widmann, welche durch den lauten Abstieg Mühlritters in Argwohn versetzt worden war, aus ihrer Wohnung.

»Was gibt's denn, Frau Holdenried?«

»Denken S' Ihnen nur, g'rad jetz is der Inspektor dag'wes'n und hat nach 'n Herrn Pfaffinger g'fragt ...«

»Der Mühlritter?«

»Ja, und wie der ausg'schaut hat, sag' ich Ihnen, und wie der g'fragt hat ... na ... das is grad, als wenn mein Zimmerherr kein Ruh' mehr krieg'n derf ...«

Frau Widmann kam nach oben und stand lange bei ihrer Hausgenossin und tauschte mit ihr die schlimmsten Befürchtungen aus.

Aber das war an diesem Tage das Los aller Dornsteiner, dieses Leben in Angstzuständen.

Als Anton Gumposch, den Hut tief in die Stirne gedrückt, nach Hause ging, befiel ihn ein Gedanke, der seiner Gewissenhaftigkeit und allgemeinen Fürsorge angemessen war.

Wie? Wenn er sich getäuscht hatte? Wenn der junge Mensch die Last der Verachtung als zu groß befand und im letzten Augenblicke den Forderungen der Ehre Gehör schenkte?

Mußte nicht zum wenigsten die Möglichkeit ins Auge gefaßt werden?

Und wer sollte sie ins Auge fassen, wenn nicht er?

Die Verantwortung, die so mit einem Male vor ihm stand, hob beinahe alle Nachwirkungen des Frühschoppens in ihm auf, und er vermochte sich Rechenschaft zu geben über die Reihenfolge der Pflichten, die ihm bevorstehen konnten.

Einen Platz auswählen, Fuhrwerke besorgen, einen Arzt ins Vertrauen ziehen, nun natürlich ... einen Arzt um Beistand ersuchen, drei Kutschen bestellen, einen Platz aussuchen ... einen Arzt ... Da lag nun wieder einmal, wie so oft schon, alles auf seinen Schultern, die anderen redeten und ließen sich's weiter nicht kümmern, bloß er natürlich hatte die Arbeit, die Lauferei, die Sorge.

Er war zu Hause angelangt und stellte sich vor den Spiegel und sah kummervoll in das blaurote Antlitz, welches ihm mit verschwommenen Augen entgegenblickte.

»Wer dankt dir's eigentlich, Toni?« fragte er wehmütig. »Und was hast du davon? Scherereien und Ärgernis, jawohl, und zuletzt Undank ...«

Als er so fast in Schmerz versinken wollte, fiel sein Blick auf die Pistolen, die an der Wand hingen, und sogleich fand er seine Tatkraft wieder. Freilich! Pistolen brauchte man ja auch, und in ganz Dornstein war vielleicht kein gleiches Paar außer den seinen zu finden.

Er nahm sie herunter, und da sie Rost angesetzt hatten, wollte er sie sogleich zum Büchsenmacher bringen.

Vergessen war jedes lähmende Gefühl.

Er umwickelte die Waffen sorgfältig mit einer alten Zeitung und stand schon eine Viertelstunde später mit seinem Paket unterm Arm in der Werkstatt des Xaverl Reindl, der einen Gewehrlauf putzte und dabei Unterhaltung pflog mit Herrn Magistratsrat Trinkl.

Gumposch setzte seine geheimnisvollste Miene auf und erregte die Neugierde des Büchsenmachers durch Nicken und Blinzeln.

Er räusperte sich, gab ausweichende Antworten, trat von einem Fuß auf den andern und zeigte so viel Ungeduld und Heimlichkeit, daß es sogar Herr Trinkl merkte und ging.

»Reindl,« sagte nun Gumposch, indes er dicht vor den Meister hintrat und ihn durchbohrend anblickte, »Reindl, können Sie schweigen?«

»Ja, was glauben S' denn, Herr Gumposch ...«

»Kein Mensch darf nichts erfahren ...«

»Aba, Herr Gumposch, i bin do a Mann, der ...«

»Gut, ich verlaß mich auf Sie.«

Bei diesen Worten öffnete Gumposch sein Paket.

»A paar alte Vorderladerpistol'n?«

»Reindl, die Pistolen müssen heut noch herg'richt werden, Lauf, Piston, alles sauber geputzt.«

»Heut no?«

»Es muß unbedingt sein.«

Wieder traf ein durchbohrender Blick den Büchsenmacher.

Der musterte eine Pistole und probierte die Feder.

»Rostig san s' ... no, wenn's sei muaß.«

»Unbedingt.«

»Aber net, daß i ...«

»Was?«

»Aber net, daß i da in a Schlamassel nei kimm.«

»Wieso denn? Ich brauch die Pistolen zum Übungsschießen. Sie haben sich um gar nichts zu kümmern.«

Der Meister drückte sein linkes Auge zu und schaute Herrn Gumposch vielsagend an.

Der nickte und wiederholte: »Zum Übungsschießen. Hab' ich was andres g'sagt?«

Seine Blicke verrieten freilich, daß hinter seinen Worten ein blutiges Geheimnis lauerte, aber es kam nichts über seine Lippen, und darum konnte Reindl sein Gewissen beschwichtigen.

»Von mir aus,« sagte er, »Sie schaffen's o – net? Und i mach's – net? Und es g'hört zu mein G'schäft – net?«

»Ganz richtig,« entgegnete Gumposch, »und dann bleibt's dabei, ich hol' abends die Pistolen und komm' hinten herein. Adieu!«

»Adjes! Sie ... Herr Gumposch ...«

»Was?«

»Aba net, daß i in a Schlamassel einikimm?«

»Nein, sag' ich. Reden nur Sie nix drüber.«

Er ging.

Der Meister kratzte sich hinter den Ohren und schaute bedenklich vor sich hin. »Sakera! Sakera!«

»Pst! Xaverl! Is der spinnata Deifi weg?«

Reindl wandte sich hastig um. Der Herr Magistratsrat Trinkl war durch die hintere Tür eingetreten. »I bin zu deiner Alt'n eini und hab' g'wart', bis der furt is. Was hat er denn woll'n, daß er's gar so gnädi g'habt hat?«

»Ah ... nix B'sunders!« – »So?« machte Trinkl mißtrauisch und warf flinke Blicke herum.

»Zu was g'hörn denn de Pistol'n?«

»De? Ah ... de hab i scho lang do.«

»Lüag no net a so, Mannderl! De hat der bracht. Ah, da schau her! Jetzt kam's do no so weit!«

»Was denn?« fragte der Büchsenmacher neugierig.

»De möcht'n den junga Mensch'n frei zwinga zu dera Dummheit! De Spitzbuab'nbande überananda!«

»Red do!« drängte Reindl.

»Ja ... red! Und du muaßt aa no dazua helf'n!«

»I? Zu was?«

»De Pistol'n herricht'n, gel, daß de eahna Duwäldummheit ausführ'n kinna!«

»Was denn für a Duwäl?«

»Du woaßt nix, du Schlaucherl!«

»I woaß aa nix. Mach' halt amal 's Maul auf!«

»So, woaßt d' net, daß de an Pfaffinger Schorschl o'stift'n möcht'n, er müaßt si duwälieren, weil er an Tresser a richtige Pretsch'n geb'n hot, wia 's a si g'hört. Vo dem host du no gar nix läut'n hör'n?«

Reindl pfiff durch die Zähne.

»So? Dös waar's!«

»Ja, dös waar's, und du bist der Dumm' und laßt di in de G'schicht einiziahg'n ...«

»Herrgott, wenn i nix woaß ...«

»Jetzt woaßt d' as, weil i dir's g'sagt hab. Aba wart no, da wer i glei g'holf'n hamm,« sagte Trinkl und nahm mit einem raschen Griff die Pistolen und steckte eine in die linke und eine in die rechte Tasche.

»Wart! De ko si der Hansdampf jetzt bei mir hol'n.«

»Aba Michl!«

»Wos aba? Nix aba! I bin an Amtsperson, verstand'n? Und bal i a Werkzeug siech, wo ein Verbrech'n damit beganga wer'n soll, dös konfiszier i ganz oafach ...«

»Ja, mir is gleich ...«

»Derf da scho gleich sei ... Derfst d' sogar froh sei, daß i di von dera Dummheit z'ruckg'halt'n hab. Dös waar dös Wahre, wenn a Bürger aa no zu so was helfat!«

»Wenn i dir sag, daß i nix g'wißt hab!«

»Aber unwissend was hättst du eahm de Waff'n g'liefert. Wurdst scho g'schaugt hamm, Manndei, wia s' di füra zog'n hätt'n!«

»Ja no, du host jetzt de Pistol'n, und mi geht's nix mehr o, bal du sagst, daß du s' von Amts weg'n gnumma host ...«

»Hab' i aa.«

»Aba, was soll i denn zu eahm sag'n, bal er kimmt?«

»Zu eahm? Zu dem Gschaftlhuaba? Sagst d' eahm, die Waffe hat der Magistrat an sich gezogen, sagst d'; und bal er a Duwäl hamm will, soll er si a Wurschtspritz'n z' leicha nehma, sagst d' eahm! Pfüat di Good!«

Und in aufrechter Haltung schritt Herr Trinkl hinaus und schritt durch die Gassen Dornsteins, anzusehen wie ein Räuberhauptmann, denn aus jeder Tasche sah drohend ein Pistolenkolben hervor.

 

Gärung in der Stadt. Die Bürgerschaft, durch einen ihrer Besten in Kenntnis gesetzt und durch Vorzeigung zweier Pistolen zur zweifelsfreien Überzeugung gebracht, daß in den Mauern Dornsteins ein hoffnungsvoller, auch wohlhabender junger Mensch zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, ja zu einem Verbrechen gezwungen werden solle, fühlte sich bedroht und vergewaltigt und in ihrem Glauben an die Gesetzlichkeit der Zustände schwankend.

Jeder wußte über Beobachtungen zu berichten, die er in den letzten Tagen gemacht hatte. Der eine war dem Rädelsführer Gumposch, der andere dem notigen Leutnant in der Pfaffengasse begegnet, dieser hatte den Oberamtsrichter, jener den Assessor in die »Post« wandern sehen, ein dritter wußte schon, welche drohenden Reden beim Frühschoppen gehalten worden waren, und die ganze Kette der Verdachtsgründe war geschlossen durch die Entdeckungen, welche Trinkl beim Büchsenmacher zu machen so glücklich war.

Es bestand also eine Verschwörung in dieser friedlichen Stadt, angezettelt von Dienern des Staates und darauf gerichtet, das Blut eines jungen, auch wohlhabenden Menschen zu vergießen und dem Moloch der Ehre ein Opfer zu bringen.

Der Abendschoppen beim Lammwirt glich einer Volksversammlung, und Bäckermeister Schwarz konnte die ganze Zügellosigkeit seines Wesens offenbaren, ohne den geringsten Widerspruch zu finden.

Von Lohgerber Holzböck aber ging eine Anregung aus, die Besseres bezweckte als diese wütende Despektierlichkeit: die Anregung, eine Deputation nach München zu schicken, dem Abgeordneten Hiempsel den Sachverhalt vorzulegen und durch ihn den Landtag zum schleunigsten Einschreiten zu veranlassen.

Dieser Antrag fand außerordentlichen Beifall, und man ging sogleich daran, die geeigneten Männer auszusuchen.

Bäckermeister Schwarz erbot sich freiwillig, als Sprecher dieser Deputation das seinige zu tun, wurde aber von dem Vater der Idee, Herrn Bartholomäus Holzböck, darüber belehrt, daß Männer, die gewissermaßen als Gesandte der hier versammelten Bürgerschaft auftreten müßten, nur nach geheimer Abstimmung aus einer Wahlurne hervorgehen könnten, und man war eben dabei, die dazu nötigen Zettel zu verteilen, als die Tür aufging und – Georg Pfaffinger an der Seite Hans Mühlritters eintrat. Die überraschende, sonderbare und alle bisherigen Vermutungen zerstörende Erscheinung der beiden wirkte so stark, daß sogleich betretenes Schweigen herrschte.

Man konnte in Gegenwart Mühlritters, der doch aus dem feindlichen Lager kam, nicht in der Wahl fortfahren, man konnte auch angesichts der Gelassenheit Pfaffingers nicht mehr so fest an einen Mordplan glauben, man fühlte sich behindert und unsicher und fühlte auch mit Bedauern, daß eine schönste Gelegenheit zum Spektakelmachen zu entschlüpfen schien.

Die Gegenstände der Aufmerksamkeit setzten sich in offenbarer Harmonie an einen Nebentisch, bestellten Bier und stießen wahrhaftig miteinander an. Da hielt es Trinkl nicht mehr aus!

Er bat den Jüngling, für dessen Menschenrechte er so lebhaft eingetreten war, um eine Unterredung und ging mit ihm an jenen Ort, wo solche geheimen Angelegenheiten mit Vorliebe behandelt werden, und erfuhr nun, daß nichts los sei.

Daß rein gar nichts los sei.

Keine Rede von einer Forderung, einem Duell, einem Mord.

Aber der Gumposch? Der Frühschoppen in der Post? Aber die Pistolen?

Was wußte Schorschl davon? Nichts. Was gingen ihn der damische Gumposch und seine Geschichten an? Gar nichts.

»Aba der Mühlritter? Sie wer'n do mir d' Wahrheit sag'n, Herr Pfaffinger, indem daß mir für Eahna so auftret'n!«

»Natürli sag' i Eahna d' Wahrheit, Herr Trinkl. Überhaupts ...«

»Indem daß mir a Deputation auf Minka hamm schick'n woll'n!«

»I tat do Eahna nix verheimlinga, Herr Trinkl!«

»Aba was hat na da Mühlritter von Eahna woll'n?«

»Nix. Oder daß i's richtig sag', er hat mi in sei Lebensvasicherung aufgnumma ...«

»In ...?«

»In sei Boliefia ...«

»Ja ... Herrgott ... und mir strapazieren ins da oba ...«

Gewiß war es merkwürdig. Noch viel merkwürdiger, als ein Bürger wissen konnte, der den Schwur des Junker Hans nicht mit angehört hatte. Aber trotzdem – es war so.

Sei es nun, daß Mühlritter unter der Einwirkung der starken Weine den Zweck seines Besuches vergessen, sei es, daß er sich bei allmählicher Ernüchterung auf seine eigentlichen Berufspflichten besonnen hatte, Tatsache ist, daß er Herrn Georg Pfaffinger in gewählten Worten die Vorzüge der Assekuranzgesellschaft Bolivia vor jeder anderen gleichen oder ähnlichen Unternehmung vor Augen stellte und ihn, Herrn Pfaffinger nämlich, auch bewog und überredete, seine Unterschrift zu geben; Tatsache ist ferner, daß von einer Forderung oder irgend etwas dem Ähnlichen nicht die leiseste Erwähnung geschah. Mit diesen Tatsachen hatte sich, da in Dornstein nichts verborgen bleiben konnte, die gesamte Einwohnerschaft abzufinden, und sie erregten, was hier konstatiert werden soll, allgemeine Zufriedenheit.

Die größere bei dem Beamtenkörper, dessen Mitglieder jene beim Frühschoppen gefaßten Beschlüsse noch am selben Nachmittag heftig bereut hatten, die kleinere Zufriedenheit bei den Bürgern, die schon begonnen hatten, sich in aufgeregten Zuständen behaglich zu fühlen.

Ein einziger Mensch war empört über das unglaublich niedrige Niveau, auf dem sich die Gesellschaft Dornsteins nun ein für allemal zu bewegen schien: Herr Anton Gumposch.


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