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Der westfälische Glaubensbote

Wir waren damals unser drei Lateinschüler in Bernau.

Wenn wir zu Ostern und im Herbst in die Ferien heimkamen, mußten wir unsere Zeugnisse im Pfarrhofe vorweisen, denn der Herr geistliche Rat Hefter war der gesetzmäßige und sachverständige Beurteiler unserer Fortschritte.

Er war eben ein milder Richter.

Von einem Dreier wußte er zu sagen, daß er immerhin kein Vierer sei, und die zweite Note nötigte ihm schon Hochachtung ab. Wenn er alles geprüft und recht befunden hatte, lud er seine Studentlein für den kommenden Tag zum Essen ein.

Die Mahlzeiten waren reichlich und von auserlesener Güte, nach der schönen Tradition altbayrischer Pfarrhöfe. Da gab es brave Leberknödel, herzhafte Stücke Rindfleisch, auf die wir den Gansbraten setzten. Den herrlichen Schluß bildete allemal ein Rahmstrudel, über dessen Bereitung der hochwürdige Herr eine lehrhafte Rede hielt.

Denn er unterschied gewissenhaft zwischen dem ausgezogenen Strudel und dem Pfannenkuchenstrudel, und er sagte, daß leider die Kunst, den Teig in rechter Weise zu behandeln, allmählich verfalle.

Nach beendetem Mahle, wenn der Kaffee aufgetragen war, kam Fräulein Cornelia in das Zimmer und ließ sich von ihrem Herrn nötigen, Platz zu nehmen.

Ihr rundes Gesicht war gerötet vom Herdfeuer und strahlte ungemeines Wohlwollen aus. Sie wußte die Worte der Bescheidenheit zierlich zu setzen, wenn der Herr Rat die Mahlzeit lobte, und allemal beteuerte sie, es sei ihr nicht alles nach Wunsch geraten.

Dann fragte sie einen jeden von uns nach Gesundheitszustand und Befinden während des Jahres und wußte hier ein Tröstliches zu sagen, wenn ein Zeugnis schlecht ausgefallen war, und dort ihre Bewunderung auszudrücken, falls einer gute Noten heimgebracht hatte.

Woraus zu schließen war, daß auch Fräulein Cornelia unserem Studiengange Beachtung schenkte.

Das taten übrigens viele Leute in Bernau; und wenn der beste von uns dreien, der Joseph Haslinger, wieder einmal Noten heimbrachte, die uns recht in den Schatten stellten, ging die Kunde davon im Markte herum, und die Frommen freuten sich in der Hoffnung, daß er dereinst ein Diener Gottes werden würde.

Der geistliche Rat Hefter machte sich nicht viel aus dem Haslinger Pepi, der schon jetzt eine auffallende Heiligkeit herumtrug. Wir andern waren ihm lieber; und wir mußten ihn oft begleiten, wenn er in die Nachbardörfer ging, um die Herren Amtsbrüder zu besuchen.

Da saßen in den Pfarrhöfen von Aschau und Endorf wohlgeratene Altbayern, die uns in schattigen Gärten bewirteten und uralte lateinische Späße kannten.

Ab und zu auch einen deutschen, der recht nahe an die Grenze hinging, wo die Zimperlichkeit aufhört.

Das Liebste war es uns, wenn die ehrwürdigen Herren einen Kantus anstimmten, wobei wir mit Stolz bemerken konnten, daß unser Herr Rat mit seinem dröhnenden Basse die anderen aus dem Felde schlug. Hinterdrein kam der fröhliche Heimweg. Da war der hochwürdige Herr allemal redselig gestimmt und erzählte uns von der alten Zeit, in der er selber noch jung war.

Er führte sich aber nicht etwa als Beispiel der Tugend und des Fleißes auf, sondern verweilte lieber bei der Schilderung einer weltlichen Lustbarkeit. Wie er denn überhaupt von der glücklichsten Gabe der Heiterkeit beschenkt war.

Er war noch von der alten Art. Ein fröhlicher Junggeselle, dem das Alter den Humor mehrte, und der recht behaglich über den irdischen Kümmernissen stand.

Er hatte nie eine Streitfrage angefangen, aber manche geschlichtet; er hat nie Dummheit verdammt, aber über manche gelacht.

Und darum steht er bei mir im lieben Andenken, weil er oft meine Mutter mit Weltweisheit getröstet hat, wenn sie verzagte an meiner Zukunft.

Mein junges Herz hat sich an ihn gehängt, und zu den vielen Trübseligkeiten, die der Schulbeginn für mich hatte, gehörte auch der Abschied vom Herrn geistlichen Rat Hefter.

Eines Herbstes aber, als ich wieder in die Ferien kam, hatte sich vieles geändert.

Wie ich dem alten Herrn mein Zeugnis vorwies, las er es nur so obenhin, und er war nicht wie sonst.

Ich erfuhr bald, was ihm die Fröhlichkeit genommen hatte, wenn ich auch nicht alles verstand.

Nämlich: da war ein Fremder im Pfarrhofe eingezogen, ein junger Kooperator aus dem Westfälischen. Hieß Heinrich Wilmans.

Sein Aussehen hat mir gleich gesagt, daß er mir nie gefallen könne.

Er war ein himmellanger Mensch, und alles war ungeschlacht an ihm. Arme und Hände und Füße und am meisten der Kopf.

Der war wie viereckig mit der niedrigen Stirn und der furchtbaren Kinnlade.

Wäre der Wilmans ein Schmiedgeselle gewesen, so hätten ihm Arbeit und Ruß vielleicht zu einer anständigen Erscheinung verholfen.

Aber wenn einer mit solchen Knochen faulenzt und den Heiligen im Volke vorstellt, gibt es allemal ein schlechtes Bild.

Es war über die Maßen widerlich, wenn der Longinus zierlich tat mit den Händen, oder wenn er recht jüngferlich seine Füße setzte.

Wer ihm das noch verzeihen wollte, hat ihm gram werden müssen wegen seines Gesichtes.

Die Augen saßen ihm tief und waren graugrün und schauten so fromm, als wenn sie den Herrgott auch an Werktagen suchten.

Aber der Mund strafte sie Lügen. Die schwulstigen Lippen verrieten es, daß der heilige Heinrich dem Irdischen keineswegs entrückt war; und es war eine recht gemeine Sinnlichkeit, von der sie erzählten.

Für unseren geistlichen Rat muß es von der ersten Stunde an eine Qual gewesen sein, den Menschen in seiner Nähe zu haben. Denn alles war fremd und feindselig an ihm.

Die Gesinnung und die Art, wie er sie versteckte, und die Art, wie er sie von sich gab in dem spitzigen harten Dialekt.

Er war aus der Münsterischen Gegend, wo sie heute noch die Andersgläubigen am liebsten in Käfigen zum Verhungern aufhängen würden.

Vielleicht hätte er zu dem dummen Volke gepaßt, das dort oben haust und seine Quäler und Meinungsverfolger für Heilige hält. Aber hierher ins Altbayrische gehörte er nicht, und das hat niemand deutlicher gewußt wie unser braver Franz Hefter.

Er hat ihn aber eine Zeitlang haben müssen, denn die hohe Obrigkeit warf ihre Gunst auf den Kooperator.

Es war nämlich der Heinrich Wilmans ein Glaubenszeuge oder Märtyrer, indem ihn der Minister Falk mit mehreren seinesgleichen aus dem Königreiche Preußen vertrieben hatte.

So kam er von einem Glorienschein umgeben in unseren stillen Markt und prangte fürs erste in Tugend und Glaubensstärke.

Es fehlte ja auch zu Bernau nicht an Betschwestern, die ihr Katholisches schärfer haben wollten wie andere Menschen, und die es nicht genug loben konnten, wie der preußische Held ins Zeug ging. Und die alten Jungfern schnurrten wie die Katzen, wenn ihnen der Wilmans eigenartige Nerven aufregte und die christliche Kost pfefferte.

Dieses zwar hätte den geistlichen Rat wenig bekümmert; was da von alten Schafen zur neuen Tränke zog, ging ihm gut und gerne verloren. Aber bald mußte er bemerken, daß sich ein heimlicher Unfrieden festsetzte, daß erbitterte Feindschaften aufgingen unter dem befruchtenden Himmelstau, den der Herr Kooperator ausströmte.

Es gab jetzt Leute, die scharf auslugten, ob auch die Nachbarn dem Herrn dienten, und alle Tugenden wurden mit einemmal recht öffentlich durch die Gassen getragen und den Nebenmenschen vor die Nase gesetzt. Und je mehr Heilige aus dem Volke erstanden, desto größer wurde auf der anderen Seite die Schar der Verlorenen, für die man inbrünstig beten mußte.

Herr Hefter sah betrübt auf diese Wandlung. Wie seine Pfarrkinder jetzt die Ohren hängen ließen und nach der Vollkommenheit strebten, wollten sie ihm gar nicht gefallen. Bald begegnete er allenthalben giftigen Gerüchten, die alles Behagen aus den Häusern vertrieben, und er mußte persönlich darunter leiden, weil auch das brave Fräulein Cornelia nicht verschont wurde, sondern den Gegenstand sittsamen Abscheus bilden mußte.

Wenn sie nunmehr mit tiefer Wehmut in den Schüsseln rührte und häufig mit nassen Augen ihre Arbeit tat, schwoll der Ingrimm des gutmütigen Pfarrers mächtig an.

Jedoch konnte er den Feind nicht zum Kampfe stellen, denn auch hitzige Fragen beantwortete Wilmans mit einer himmlischen Sanftmut. Und er wußte nie etwas von den Bernauer Geschehnissen, Lügen und Feindseligkeiten, dieweilen sie irdischen Ursprungs waren.

Ich bin in derselbigen Zeit mit dem geistlichen Rat wieder einmal nach Aschau gegangen, wo uns der Dekan Staudacher gastlich aufnahm.

Es kam jedoch nicht zum fröhlichen Kommersieren, denn die Alten saßen mit ernsthaften Mienen einander gegenüber und tranken Bier in stiller Wut.

Herr Staudacher richtete halbe Fragen an seinen Freund, die ich nicht verstehen sollte, ob noch keine Aussicht bestünde, daß das Übel entfernt werde, und so ähnlich.

»Ja, Aussicht!« polterte unser Rat los. »Aussicht! Immer schlechter werde es, und den Herren oben gefalle es gerade deswegen. Die brauchten jetzt Hetzer und Wühler, und wer nicht mittue, gelte nichts. Und der niederträchtige Halunke habe bei ihnen das größte Ansehen.

Herr Staudacher zwinkerte mit den Augen gegen mich hin, aber unser Rat sagte, ich dürfe es schon hören und wissen, daß der Wilmans ein Tropf sei. Es brächte bloß Schaden, den Menschen für anständig zu halten. Und er habe Vertrauen zu mir, daß ich nicht wie der Haslinger Pepi mit dem Kerl herumlaufe.

Allgemach wurde er warm und schlug grimmig in den Tisch hinein.

Da sagte Herr Staudacher zu mir, ich solle doch bei der Frau Arzböck gute Birnen und Äpfel in seinem Namen holen; er wolle sie mir für meine Frau Mutter geben.

Ich verstand wohl, warum er mich fortschickte, und ich blieb lange aus.

Als ich wieder kam, klopfte mir der Herr Staudacher auf die Schulter und zeigte seine Zufriedenheit. Ich konnte deutlich merken, daß die Alten noch etliches über den Wilmans geredet hatten, denn unser Rat hatte einen roten Kopf, und auf dem Heimwege blieb er oft stehen und brummte vor sich hin.

Und auf einmal sagte er zu mir: »Gelt, Ludwigl, du gibst dich nicht ab mit dem? Der Kerl ist schlecht. Grundschlecht.«

Ich antwortete recht männlich: »Niemals.« Da mußte er lächeln über meine feierliche Art.

Es war mir aber recht ernst mit meinem Versprechen, und ich hätte gerne durch eine verwegene Tat den Herrn Hefter von seinem Feinde befreit. Mein bester Wille konnte ihm nicht helfen, und er mußte noch ein halbes Jahr und darüber den westfälischen Glaubensboten um sich haben.

Bis sich die Vorsehung seiner erbarmte und den Wilmans über die eigenen Beine stolpern ließ. Der fühlte sich immer wohler in Bernau und breitete sein Reich darinnen aus. Und zuletzt glaubte er, daß er Herr über alles sei und verfahren könne wie die Heiligen in der Münsterischen Landschaft.

Da mußte er indessen mit Bitterkeit erkennen, daß die Altbayern nicht ganz so ehrfürchtig vor den Dienern des Altars aufwachsen. Es stand im Orte ein wichtiges Fest bevor. Schon seit Jahren wollte der Veteranenverein den Kameraden, die in Frankreich gefallen waren, ein Denkmal setzen, und er hatte fleißig gesammelt, bis er endlich die Mittel beisammen hatte.

Die drei kunstverständigsten Leute von Bernau begaben sich ins Schwäbische, wo eine Metallwarenfabrik zahlreiche Monumente im Vorrat hatte. Sterbende Soldaten, welche noch die Fahne halten, lebende Soldaten, welche die Fahne schwingen, Engel, die sich über Tote beugen, Engel, die Lorbeerkränze mit ausgestreckten Armen tragen. Die Bernauer Kommission, an deren Spitze der Zimmermeister Martin Degenbeck stand, wählte einen Engel mit Lorbeerkranz, obwohl sie eine lebhaftere Gruppe vorgezogen hätte. Aber leider steckten alle lebenden und toten Soldaten der Fabrik in preußischen Uniformen.

Nun waren die Käufer wohl oder übel zufrieden mit ihrem bronzenen Himmelsboten und priesen als kluge Leute daheim das Kunstwerk in allen Tonarten, so daß starke Neugierde herrschte.

Der Steinmetz Bonholzer stellte den Sockel her und brachte mit vergoldeten Buchstaben auf polierten Marmortafeln die Namen der Gefallenen an.

Seine Werkstätte war mit Zuschauern angefüllt, welche die saubere Arbeit bewunderten und kunstsinnige Betrachtungen anstellten, wie schön wohl der Engel auf diesem Sockel stehen werde.

Neben der Kirche richtete man den Platz für das Denkmal; da war ein großes Viereck durch steinerne Säulen gebildet; von einer Säule zur anderen schlangen sich eiserne Ketten von martialischem Aussehen. In der Mitte des Vierecks war ein Loch für den Sockel aufgeworfen, und um dasselbe herum war Gartenerde eingestampft, denn es sollten schöne Blumenbeete das Denkmal umgeben.

So gab es immer Neues zu sehen und zu besprechen, und viele Leute boten kluge Ratschläge dar, und die Spannung wuchs.

Der Zimmermeister Degenbeck war in diesen Tagen wieder einmal die wichtigste Persönlichkeit. Denn es oblag ihm, als dem Vorstande des Veteranenvereins, die Sorge um die richtige Ablieferung des Engels, um die sichere Aufstellung, um das Gelingen des Festzuges, um die angemessene Beteiligung der Honoratioren und der Vereine, um den würdigen Verlauf des Gartenfestes und um die Abhaltung der Reden. Man sah ihn jetzt im Laufschritte von einem Hause in das andere eilen, mit fliegenden Rockschößen durch die Gassen stürmen, immer atemlos, sorgenvoll und schweißtriefend.

Und wenn er abgehetzt des Abends heimkam, saß er einsam bei der Lampe und setzte die Reden auf. Denn es war notwendig, daß er sie halten mußte, weil es im weiten Umkreise von Bernau keinen zweiten für eine zündende Veteranenrede gab.

In den siebziger Jahren war ein gemächlicher Liberalismus in Altbayern eingezogen. Beamte, Schullehrer und die besseren Bürger nahmen ihn an und trugen das neue Gewand wie einen sonntäglichen Bratenrock und augenfälliges Zeichen der vorgeschrittenen Bildung.

Sie waren frei von Kampflust und paßten mit Klugheit ihre Ansichten dem bürgerlichen Zusammenleben an, welches bei klaffenden Gegensätzen nicht gedeiht. Die Politik mochte nur als Beschäftigung für Feierabende gelten, als Gegenstand leichter Gespräche im Wirtshause; sie griff nicht hinüber in gemeindliche Dinge, in das Erwerbsleben, und sie konnte die Gemüter nicht trennen. Man darf sogar annehmen, daß gerade die Rückständigen von heimlicher Hochachtung erfüllt waren gegenüber den Leuten, die verwegen über die uralten Grenzen geschritten waren.

Und so wurde sicher auch der Zimmermeister Martin Degenbeck von vielen in Bernau bewundert. Er las häufig im Konversationslexikon und breitete vor seinen Mitbürgern fremdartige Kenntnisse aus. Dazu war er in der Weltgeschichte gut beschlagen und urteilte über Menschen und Dinge mit dem überlegenen Rationalismus, den man aus Karl von Rottecks Schriften gewinnt. Er hatte sich ein treffliches System erbaut, in das er auch die kleinen Bernauer Dinge einfügte, und er geizte nicht mit seinen tiefbegründeten Meinungen. Er gab sie gerne und reichlich von sich und wurde angestaunt auch da, wo er nicht verstanden wurde. Mit Kirche und Obrigkeit lebte er in Frieden, so häufig er auch den Vertretern dieser Hoheiten seine Überlegenheit andeutete. Der geistliche Rat Hefter ließ ihn bei seinem Glauben und schätzte ihn als braven Familienvater; daneben auch als einen Mann, mit dem man einen anständigen Tarock spielen konnte.

Es war selbstverständlich, daß der neue Kooperator in Martin Degenbeck allsogleich seinen Gegenfüßler und grimmigsten Feind erkennen mußte.

Heinrich Wilmans brauchte ein Objekt für seinen Eifer; und welches wäre tauglicher gewesen als dieser laue Katholik und politisierende Handwerksmeister? Er begann also unverweilt ihn als abschreckendes Beispiel zu benützen, und Degenbeck konnte nun erfahren, mit wieviel Recht sein Lehrmeister Rotteck sagt, daß der philosophische Geschichtsforscher die Auswüchse der Priestermacht mit Unwillen und mit empörten Gefühlen betrachten müsse.

Es war ein Glück, daß die Friedensliebe in Bernau stärker war als diese neue Glaubenswut, und daß man in dem schmählichen Heiden immer noch den erprobten Mitbürger sah.

Da sollte jetzt Degenbeck Gelegenheit finden, bei der Errichtung des Kriegerdenkmals sein Ansehen neuerdings zu befestigen. Schon dieserhalb war das Fest Heinrich Wilmans unwillkommen, und er gab sich redlichen Eifer, im stillen Hindernisse aufzubauen.

Einige Mädchen, die als Ehrenjungfrauen prangen sollten, wiesen das Ansinnen zurück; ihre fadenscheinigen Ausreden ließen erkennen, daß sie fremdem Einflusse gehorchten. Der Sohn des Hafnermeisters Söll, den man als tüchtigen Trommler schätzte, sagte ab; der Lebzelter Höß ließ wissen, daß er zu heiser sei, um bei der Liedertafel mitzuwirken, und der Magistratsrat Späth erklärte mit rauher Offenheit, daß er bei dem preußischen Feste keine Rolle spielen werde. Was bedeuten aber diese kleinlichen Dinge neben der Begeisterung, die sich überall kundgab! Nahezu vierzig Veteranenvereine hatten ihre Beteiligung mit Fahnen zugesagt, mehrere Musikkorps waren angemeldet, die freiwilligen Feuerwehren der ganzen Umgegend, Schützenvereine, Turner wurden erwartet, Triumphpforten waren errichtet, das Barometer versprach herrliches Wetter, die Gastwirte hofften, daß die Landbevölkerung in Scharen herbeiströmen werde, und sie verhackten ungezählte Schweine zu Würsten.

Überall zeigte sich geschäftiges Treiben, überall regte sich die altbayrische Freude an lauten Festen. Wenn es Feierabend war, spazierte jung und alt durch die Straßen und bewunderte die Dekorationen. Zwei Tage vor der Feier kam der bronzene Engel sorgfältig verpackt an.

Der Zimmermeister Degenbeck mit seinem Gesellen nahm ihn auf der Bahn in Empfang und brachte ihn auf geschmücktem Wagen zum Festplatze.

Zwei Veteranen hielten die Ehrenwache bei dem Kunstwerke, dessen Formen sich unter den hüllenden Tüchern kaum erraten ließen. Trotzdem drängten sich die Leute herzu und wurden des Schauens nicht müde. Als es dunkelte, rückten Meister Bonholzer und Degenbeck mit ihren Leuten an; der Engel sollte vermittels eines Kranens auf den Sockel gehoben werden.

Der Turnverein hielt Ordnung. Während die einen hinter gespannten Stricken die Menge zurückhielten, leuchteten die anderen mit Fackeln zur Arbeit.

Degenbeck wußte, daß ganz Bernau anwesend war, und er ließ seine Kommandorufe laut über den Platz ertönen. Endlich stand der Engel oben; er wurde von seiner Verpackung befreit, aber zugleich errichtete man die Hülle, welche erst am Festtage fallen durfte.

Als die Arbeit beendet war, marschierten Meister, Gesellen und Turner in geordnetem Zuge ab. Und Martin Degenbeck sah in der Fackelbeleuchtung kriegerisch und ehrfurchtgebietend aus.

Der Platz leerte sich, und bald stand das Denkmal einsam hinter den schützenden Vorhängen.

Um die Mitternachtstunde aber ging der Hutmacher Bergwieser an ihm vorbei. Er hatte mit einigen Freunden im Kronprinzen gezecht und war nun auf dem Heimwege. Er ging achtlos seines Weges und hatte den Platz schon überschritten, als er plötzlich ein sonderbares Geräusch vernahm.

Es war das Kreischen einer Feile.

Er blieb stehen und horchte. Eine Weile hörte er nichts mehr, dann setzte es wieder ein. Gedämpft und doch deutlich. Das Kreischen einer Feile. Und das Geräusch kam von der Mitte des Platzes her, wo das Denkmal stand.

Bergwieser war sonst ein beherzter Mann; wenigstens versicherte er das allen, denen er den Hergang schilderte.

Aber diesmal, sagte er, wurde es ihm sonderbar zumute; denn es hatte gerade zwölf geschlagen, und das Geräusch war so merkwürdig.

Er ging mit Herzklopfen weiter, und wie er beim Weinwirt Söllhuber Licht sah, stürzte er in die Gaststube, und da saßen noch der Degenbeck und der Kilger hinter der Flasche. Der Schmied Kilger.

Bergwieser war blaß im Gesicht und stieß seine Erzählung hervor, es sei nicht richtig auf dem Platze, es kratze und feile, und ja, weiß der Teufel, es feile.

Der Zimmermeister Degenbeck springt auf. »Himmel Laudon! Beim Denkmal?«

»Beim Denkmal oder nicht weit davon; ganz gewiß mitten auf dem Platze.«

Die drei laufen hinaus, und der Kilger sagt zum Bergwieser, er solle nun still sein. Denn der Bergwieser hat es auf einmal mit der Wut gekriegt und hat das Schimpfen angefangen.

Sie schleichen bis zum Platze vor. Kein Laut. Der Kilger schaut den Degenbeck an; der Degenbeck schaut den Bergwieser an. Da! Jetzt wieder!

Wie das Kreischen einer Feile; gedämpft, aber ganz deutlich.

Der Degenbeck voraus; der Kilger hinterdrein!

Der Bergwieser sucht in seiner Wut, ob er nicht etwas zum Zuschlagen findet; dann will er auch hinterdrein.

Aber da schreit es schon vom Denkmal herüber: »Hund verfluchter!«

Und eine andere Stimme jammert. Und dann patscht es.

Wenn das eine Ohrfeige war, dann war sie nicht schlecht.

Und da patscht es wieder. Einmal, zweimal, und nochmal, und wieder.

Wenn das lauter Maulschellen waren, dann ist keine daneben gegangen.

Und da jammert es wieder.

»Hören Sie auf! Hören Sie auf!«

Aber – – – patsch! patsch!

Und die wütende Stimme vom Degenbeck.

»Lumpenhund!« schreit er. »Hab ich dich!«

Der Bergwieser hat nichts gefunden zum Zuschlagen und geht jetzt ohne Waffe hin.

Voll Wut.

Der Degenbeck und der Kilger kommen ihm entgegen; sie halten einen, der sich losreißen will.

Aber wenn der Schmied Kilger einen hat, läßt er nicht los.

Sie zerren den Kerl vorwärts bis zu der Laterne beim Lebzelter Höß.

Da kann man ihn jetzt genau anschauen. Ein langer Mensch, die Haare hängen ihm in das Gesicht, und die Backen sind angeschwollen.

Aber man kennt ihn ganz gut.

»Ja, Degenbeck!« schreit der Bergwieser. »Das ist ja Hochwürden, der Herr Kooperator!«

»Nix mehr Hochwürden!« sagt der Degenbeck, und der Kilger zieht den Herrn Wilmans weiter.

»So helfen Sie doch!« kreischt der Kooperator.

»Aber Degenbeck ...« sagt der Bergwieser.

»Druck dich!« brummt der Schmied Kilger, »der hat unser Denkmal kaputt g'macht, und jetzt geht er mit zum Söllhuber, und nachher holen wir die Schandarmerie.«

Also, der Bergwieser kann ihm auch nicht helfen.

Sie kommen zum Söllhuber in die Gaststube; das heißt, der Degenbeck nicht; der lauft jetzt zum Kommandanten.

Der Söllhuber schaut groß und klein, und die Kellnerin schlagt die Hände überm Kopf zusammen.

»Jesus Maria! Was ist das mit unserem Herrn Kooperator! Nein, wie der ausschaut!«

Er hat nicht schön ausgeschaut. Die Backen!

»Laß doch los!« sagt der Söllhuber zum Kilger.

»Erst wenn der Kommandant da is,« brummt der Kilger.

Es dauert nicht lang, kommt der Kommandant mit dem Degenbeck.

Er sagt zum Kilger, daß er den Kooperator auslassen muß; und wie der hochwürdige Herr frei ist, schreit er schon.

Er ist mißhandelt worden. Roh, gemein, niederträchtig mißhandelt. Er will sehen, ob es Gerechtigkeit gibt. Der Degenbeck muß ins Zuchthaus, ohne Gnade!

»Ta ... ta ... ta ... ta!« sagt der Kommandant. »Nur Ruhe!«

Und er fragt den Degenbeck, wie die Sache war.

»Ja, wie die Sache war? Ganz einfach.«

Der Bergwieser hat sie geholt, weil er eine Feile gehört hat. Sie sind hinaus und haben es auch gehört. Sie sind zum Denkmal hingeschlichen und hören es deutlich, wie einer oben an dem Engel herumfeilt. Sie heben den Vorhang auf, da springt einer vom Sockel, aber pumms! Der Schmied hat ihn schon. Der Mensch hat noch die Feile in der Hand. Die läßt er jetzt fallen; sie muß noch dort liegen.

»Und ja, das ist die ganze Sache.«

»Lügner! Lügner!« schreit der Kooperator. »Geschlagen hat er mich! Mißhandelt hat er mich! Roh, gemein! Niederträchtig!«

»Ta ... ta ... ta ... ta!« sagt der Kommandant. »Nur Ruhe! Ist das wahr, Herr Degenbeck?«

»Ist schon wahr,« sagt der Degenbeck. »Ich habe dem Inkognitoattentäter die erste Strafe verabreicht.«

Nämlich, der Degenbeck hat es mit den Fremdwörtern.

»Er hat mich gekannt!« schreit der Kooperator.

»Das geht mich vorläufig nichts an,« sagt der Kommandant, »aber ich muß Sie fragen: Geben Sie zu, daß Sie das Denkmal beschädigt haben?«

»Ich gebe gar nichts zu. Was ich getan habe, ist mein heiliges Recht.« – »Sie geben es nicht zu?«

»Nein. Was ich getan habe, ist mein heiliges Recht.«

»Ja, wir werden halt jetzt das Denkmal untersuchen,« sagt der Kommandant.

»Sie werden jetzt protokollieren, wie mich dieser Mensch mißhandelt hat,« schreit der Kooperator.

»Das geht mich vorläufig nichts an,« sagt der Kommandant. »Sie können mitgehen, Herr Kooperator, oder Sie können heimgehen. Was Sie wollen.«

Jetzt fragt der Kilger: »Ja, soll ich ihn nicht halten bei der Untersuchung?«

»Ist nicht notwendig,« sagt der Kommandant.

Der Herr Kooperator schaut den Degenbeck an. Nicht freundlich. Und dann ist er hinaus; schnell, ohne Hut, und war gleich verschwunden. Die anderen haben vom Söllhuber eine Laterne genommen und sind zum Denkmal gegangen.

Die Feile ist dort gelegen, und der Kilger hat sie angeschaut.

»Eine zweihiebige Zollfeile,« hat er gebrummt, »die gibt aus.«

Dann hat sie der Kommandant genommen.

Der Degenbeck ist schnell unter den Vorhang und hinauf auf den Sockel.

Da flucht er mörderisch.

»Was ist?« fragt der Kommandant.

»Ein Loch ist an der linken Brust; die halbe Brust weggefeilt! Himmel Laudon! So ein Lump!«

»Nur Ruhe!« sagt der Kommandant, »wir wollen es untersuchen.«

Er steigt auch hinauf und leuchtet mit der Laterne hin; wie er herunter ist, schaut der Kilger die Sache an. Dann kommen die anderen.

Der Kommandant schreibt etwas in sein Buch und sagt: »Es ist schon so. Die Figur ist stark beschädigt.«

Das war der Hergang, wie ihn der Hutmacher Bergwieser erzählte.

Die Geschichte ging wie ein Lauffeuer durch den Markt. An jeder Haustür stand am anderen Morgen ein Mensch, der grimmig erzählte, und ein Mensch, der grimmig zuhorchte.

Meiner Mutter erzählte es die Frau Degenbeck, und ich stand dabei. Aber als die Geschichte eine Wendung gegen den geistlichen Stand nahm, mußte ich mich entfernen. Denn meine Mutter wollte in mir den Respekt vor den Dienern Gottes lebendig erhalten.

Beim nächsten Hause hörte ich schon Anfang, Mitte und Ende aus anderem Munde. Die Wut in Bernau war riesengroß. Denn selbst wer die Gemeinheit der Handlung nicht verstehen konnte, stand fassungslos vor den Folgen der Untat.

Das Fest mußte verschoben werden, den Vereinen mußte abtelegraphiert werden, und ein neuer Engel mußte gekauft werden.

Das alles ging noch.

Aber wer aß die Würste, die schon gemacht waren? Wer zahlte sie?

Und wer konnte den Hohn ertragen, der aus allen Schleusen sich über Bernau ergoß?

Die himmlischen Scharen selbst mußten den armen Leuten verhaßt werden; denn wer konnte noch von Engeln reden, und dachte nicht gleich an Bernau und abgefeilte Busen?

Und doch gab es einen, der sich trotz Schimpf und Schande über die Untat freute; ganz gewiß freute trotz aller Güte, die ihm eigen war.

Und dieser eine hieß Franz Hefter und hatte Grund zum Vergnügen. Denn Heinrich Wilmans, der Liebling des Himmels, brach den Hals bei der Geschichte.

Am Morgen nach seinem Beginnen erstattete er seinem Pfarrherrn Bericht.

Nicht freiwillig, denn der Kommandant hatte ihm schon vorgegriffen.

Nicht reumütig, denn er bestand stolz darauf, daß er eine heilige Pflicht erfüllt habe.

An diesem bronzenen Engel nämlich war das Obergewand zu kurz gewesen, und so war ein Teil des linken Busens unverhüllt geblieben.

Welcher Mensch aber, der im Umkreise von zehn Stunden bei der Stadt Münster geboren ist, kann einen solchen Anblick ertragen?

Nein, er nimmt die Feile und rottet aus, was Ärgernis gibt.

Das ist heiliges Recht für jeden Münsteraner.

Der alte, gute Rat Hefter sah seinen Kooperator während der feurigen Verteidigung nachdenklich an.

Ich fürchte, daß er nicht so sehr auf die frommen Worte achtete, als auf die Farben und Schwellungen, welche Wilmans Backen zur Schau trugen. Ich fürchte, daß er im stillen den Zimmermeister Degenbeck segnete.

Als der westfälische Glaubensbote mit seinem Berichte fertig war, lächelte der geistliche Rat voll der Güte.

Und er sagte, daß er dem jungen Streiter die Tat nicht verarge.

Durchaus nicht. Aber wirklich ganz und gar nicht. Nur Sorge habe er; recht ernstliche Sorge um das leibliche Wohlergehen seines Kooperators. Wenn man erwäge, welche Verwüstung ein zorniger Bernauer angerichtet habe, was habe man demnach von allen zu erwarten? Wenn er Heinrich Wilmans wäre, so würde er sich in seinem Kämmerlein verstecken und noch diese Nacht zum Wanderstabe greifen, bevor alle Haselnußstauden in Bernau lebendig würden.

Der Heilige aus Münster sah seinen wohlmeinenden Vorgesetzten an; vielleicht entging es ihm nicht, daß dieser Rat ohne Trauer erteilt wurde. Aber er folgte ihm.

Und als er denselbigen Abend seine Habseligkeiten packte, hörte er im stillen Kämmerlein ein vergnügliches Pfeifen.

Es kam aus dem Zimmer des Herrn Franz Hefter, der für sich selber Melodien flötete. Und alle hatten einen altbayrischen Rhythmus. So einen recht lustigen.


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