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XVII.

Es war zwei Tage später, eine Passionszeit für die Riviera. Die Erdstöße hatten Tag und Nacht nicht geschwiegen, hatten die zerborstenen Häuser vollends in Trümmer geworfen und das Signal zu allgemeiner Flucht gegeben. In langen Reihen waren die Wagenzüge zum Bahnhof gehastet, und seit die Schienenstrecke wieder frei war, jagten unablässig auf ihr nach Osten und nach Westen die überfüllten Waggons mit Flüchtenden. Niemand wollte bleiben. Nizza, das vor wenigen Tagen noch im tollsten Faschingstaumel geschwelgt hatte, glich einer von den Einwohnern verlassenen, der Zerstörung durch die Elemente widerspruchslos preisgegebenen Stadt. Fast alle Häuser standen leer, auf den großen Plätzen, am Strand und in den Gärten waren Zeltlager und Baracken aufgeschlagen. Man kochte und aß im Freien. Die milde Temperatur begünstigte dies ungewohnte Leben. Nur ein lästiger Südwind erfüllte die gesamte Atmosphäre mit einem atembeklemmenden Staub, den er von den Trümmerstätten aufwirbelte und der die fahle Sonne, welche an einem weißgrauen Dunsthimmel stand, vollends verfinsterte. Mit müden, traurigen, verängstigten Gesichtern schlichen die Menschen durch die Straßen der sonst so lauten und lustigen Stadt, die nun vom Schicksal gezeichnet zu sein schien. Dazu liefen immer neue Schreckensnachrichten aus den anderen Ortschaften der Riviera ein und verdüsterten die Gemüter. Das nachbarliche Mentone hatte schwer gelitten, einzelne Fischerdörfer der italienischen Küste waren so gut wie völlig zerstört; die Zahl der Toten und Verwundeten wuchs mit jedem Tage. Die Bande der öffentlichen Ordnung hatten sich vielfach gelockert, und die Zeitungen wußten aus all den von der vernichtungsschwangeren Naturgewalt heimgesuchten Orten häßliche Geschehnisse zu melden, welche von »der Bestie im Menschen« schreckliches Zeugnis ablegten.

Aber nicht nur zur brutalen Selbstsucht hatte die allgemeine Gefahr die Tausende aufgestachelt, die sie gleichermaßen bedrohte, vielmehr war durch sie der Gemeinsinn vielfach geweckt worden und die Barmherzigkeit hatte Taten der Menschenliebe vollbracht, die bewundernd von Mund zu Mund weiter berichtet wurden. Die zerstörende Elementarkraft, der gegenüber man sich machtlos sah, brachte allen in der nämlichen Art ihre Hilflosigkeit zum Bewußtsein und stachelte zu weichem Mitleid, zu einer todesmutigen Verbrüderung auf. Man hatte es erlebt, daß die Inhaber der luxuriösen Jachten, die im Hafen von Nizza ankerten, statt den unheilvollen Strand alsbald zu verlassen, die in der ersten Verwirrung obdach- und hilflos auf der Straße lagernden Kranken, deren Namen sie nicht kannten, auf ihre Fahrzeuge bringen ließen.

Auch die Villenbesitzer, deren Häuser verschont geblieben, öffneten dieselben den Unglücklichen, die kein Dach mehr über dem Kopfe hatten, spendeten Bettstücke, Diwans, Decken für die heimatlos Umherirrenden und Frierenden, Lebensmittel für die Hungernden.

Menschen, die sich früher nie gesehen, verschiedenen Nationen und Ständen angehörten, betrachteten sich plötzlich als eng zusammengehörige Genossen, lagerten unter demselben Zeltdach und teilten ihre Vorräte untereinander. Die Behörden konnten in der Fülle des Elends, das jeder neue Tag erzeugte, nicht überall helfend und lindernd einschreiten; wenn das Gebot der Menschlichkeit nicht mit jedem Tag neue, freiwillige Helfer hätte erstehen lassen, hätte man verzagen müssen.

Zu denen, die mit unermüdlicher Opferwilligkeit sich auf eigene Faust den Rettungsarbeiten und Hilfsleistungen zugunsten der vom Erdbeben heimgesuchten Bevölkerung Nizzas hingaben, gehörte Erich Holdheim. Vom Totenbett seiner Mutter war er fortgeeilt, um die erste seiner Rettungstaten zu vollbringen, eine, bei der er kaltblütig sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und bei der sein Herz beteiligt gewesen war wie bei keiner anderen mehr, die ihr folgte. Denn als er die bewußtlose Margot von Detten, die er auf seinen Armen aus dem bröckelnden Trümmerwerk der Villa Erminia, das sie wenige Minuten später unter sich begraben haben würde, ins Freie hinausgetragen, in sicherer Pflege und Obhut unter seinem eigenen Dache wußte, war er mit einigen seiner Leute weiter in die Straßen geeilt, um nach Gelegenheiten auszuspähen, wo er seine Hilfsbereitschaft betätigen konnte. Und an solchen Gelegenheiten hatte es wahrlich nicht gefehlt! In den engen, gegen den Schloßberg zu ansteigenden Gassen der Altstadt gab es kaum ein Haus, das nicht den Erdstößen erlegen wäre und aus dessen Innern nicht das Hilfegeschrei Verschütteter geschallt hätte. Hier tat schleuniges Eingreifen not.

Erich Holdheim hatte nicht gezögert, todesmutig hier zwischen die wankenden Mauern einzudringen, um Verwundete, Greise und Kinder aus dem Schutt hervorzuziehen, und sein hochherziges Beispiel hatte rasch Nachahmer und Genossen gefunden.

Durch zwei Tage und Nächte hatte Erich Holdheim gearbeitet, fast ohne sich Ruhe zu gönnen, immer den anderen voran. Es war, als ob er in der alle Kräfte heischenden Tätigkeit eine willkommene Ablenkung fände für das an ihm zehrende Leid. Sein Name war bald in aller Munde. Der Maire, der gelegentlich einmal mit den Feuerlöschmannschaften in den Gassen der Altstadt erschien und dort ein wohlorganisiertes Rettungswerk unter der Leitung des »Fremden aus der Villa La Paix« in voller Tätigkeit fand, drückte ihm mit einigen bewundernden Dankesäußerungen die Hand, versicherte, der Präfekt solle alles erfahren, und man könne nicht wissen, ob die Regierung sich nicht zur Verleihung der Ehrenlegion an den uneigennützigen Helfer bestimmt sehen werde. Erichs dringende Bitten, die Sache mit Stillschweigen zu übergehen, hielt er nicht für aufrichtig.

Ein paarmal hatte Erich in der Villa La Paix nach Margot von Detten fragen lassen, immer war die Nachricht zurückgekommen, daß sie noch nicht bei klarer Besinnung sei, der Arzt aber die bestimmte Erwartung hege, daß sie ohne ernstlichen Schaden in Kürze die schwere Nervenerschütterung überwinden werde. Doktor Leuthold hatte einmal sogar einen eigenhändig geschriebenen Zettel mitgesandt, worin er Erich versicherte, daß für die Kranke alles geschehe, was ihr Zustand erfordere, und ein Grund zur Besorgnis nicht vorliege. Durch denselben erfuhr Erich auch, daß Harro von Detten, der seine Schwester bei der Rückkehr von Monte Carlo mit wachsender Angst gesucht, sie endlich in der Villa La Paix aufgefunden habe und nun mit der Bergung der Habseligkeiten beschäftigt sei, welche die zusammengebrochenen Mauern der Villa Erminia unter sich begraben hatten.

Am Abend des zweiten Tages kam Harro selber. Erich hatte gerade den Transport einiger letzter Verwundeter überwacht, die wieder in die Baracken des zu einem großen Hospital umgeschaffenen Parkes seiner Besitzung gebracht werden sollten, und ruhte, todmüde mitten im Getrümmer eines demolierten Hauses im Armenviertel hingestreckt, seine erschöpften Glieder aus, während seine Helfer um ihn her sich mit Brot und Wein stärkten, als Harro, der sich unschwer bis zu ihm durchgefragt hatte, in tiefer Bewegung vor ihm stand. Erich wollte aufspringen, aber der andere litt es nicht. Eine Zeitlang hielten sie sich nur stumm bei den Händen.

»Worte dürfen Sie von mir nicht verlangen, lieber Freund«, sagte Harro dann, »jetzt so wenig wie neulich, als uns allen zu unserer Beschämung klar wurde, unter welchem Verdacht Sie schuldlos gelitten, ohne die Lippen zu einem erklärenden Bekenntnis zu öffnen. Ich verdanke Ihnen das Leben meiner Schwester und weiß Ihnen doch nichts zu sagen als: möchte ich es Ihnen einmal im Leben vergelten können.«

Erich wehrte wehmütig, mit einer müden Handbewegung ab. »Ein glücklicher Zufall«, erwiderte er. »Und Sie hätten ihn ebenso genützt wie ich – Sie und jeder andere. Was braucht's da Dank? Lassen Sie uns hoffen, daß alles glücklich vorübergehe. Wie haben Sie Ihre Schwester verlassen?«

Harro berichtete, daß Margot heute abend ihr Bewußtsein zurückerlangt habe, allerdings noch sehr schwach sei, aber eine ernste innere Verletzung nicht davongetragen zu haben scheine. Sie wünsche lebhaft, sobald als möglich fortzukommen, worin er mit ihr übereinstimme. Hier werde die Erinnerung an die überstandenen Schrecknisse ihre Genesung verzögern, um so mehr, als die immer wiederkehrenden Erdstöße diese Erinnerung nur allzu wach hielten. In Monte Carlo, wohin er Margot zunächst bringen wolle und wo auch seine Braut weile, sei das alles ganz anders.

Nirgends werde das Auge dort an das unheilvolle Naturereignis gemahnt, das Leben spiele sich ganz so ab, wie wenn der tiefste Friede herrsche. Die Spielsäle seien voller als je, und geradezu wie ein Hohn erscheine es, daß diese zauberumwobene Brutstätte des gleißenden Lasters verschont geblieben sei, wo rundum die Wohnstätten armer, arbeitender Menschen in Schutt und Trümmer gefallen wären, ihre Opfer unter sich begrabend. Man habe aber deshalb noch keinen Grund, dies Eiland, das aus der allgemeinen Sündflut herausrage, als vorläufige Zuflucht zu verschmähen. Reisefähig werde Margot nach Doktor Leutholds Ausspruch noch längere Zeit hindurch nicht sein, aber die Überführung der Kranken nach Monte Carlo hoffe der Arzt bald erlauben zu können.

Erich hatte diesen Auseinandersetzungen schweigend zugehört, mit halb geschlossenen Augen zu Boden starrend, und hin und wieder nur zuckte ein bitteres Lächeln um seine Lippen. »Ich begreife, daß Fräulein von Detten die Villa La Paix so bald als möglich zu verlassen wünscht«, sagte er jetzt.

»Sie meinen, weil Sie ein Hospital daraus gemacht haben?« fiel Harro ein. »Aber davon sieht und hört sie ja dank Ihrer Fürsorge nichts. Und es würde ihre dankbare Bewunderung auch nur erhöhen. Nein, nein, es ist nicht das – auch nicht der ausgestandene Schreck allein und die nervöse Angst. Margot hat Schweres innerlich durchgemacht –.« Er blickte nachdenklich vor sich hin und ein ernster Zug trat auf seiner Stirn hervor. Dann strich er sich mit der Hand darüber hin und sagte plötzlich: »Haben Sie irgendwelche Nachrichten über Arno Meyburg?«

»Ich?« Erich sah ihn erstaunt an. Eine Furche stand zwischen seinen Brauen.

»Ja, ich glaubte – es hätte doch sein können – Herr von Saldern behauptet nämlich – Sie müssen wissen, daß Arno Meyburg seit jenem Unglückstage verschwunden ist.«

Erich zuckte die Achseln, ohne seine Miene zu verändern. »Er wird geflüchtet sein wie Tausende. Sie werden schon Nachrichten von ihm erhalten. Post und Telegraph sind jetzt überall an der Riviera in wirrer Unordnung. Fräulein von Detten soll sich gedulden.«

Harro überhörte den bitter wehvollen Ton der letzten Worte und schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, sagte er, »in Monte Carlo sind alle seine Sachen zurückgeblieben. Und es ist auch kein Zweifel, daß er sich hier an den Rettungsarbeiten beteiligt hat.«

»Der Baron Meyburg?« Erich stieß ein kurzes, spöttisches Lachen aus.

»Ich begreife, daß Ihnen das unglaublich erscheint«, sagte Harro immer im gleichen Ernst. »Und doch ist es so. Herr von Saldern ist Zeuge dafür. Sie wissen nicht, was alles in jener Unglücksnacht neulich vor sich gegangen ist. Vor Ihnen habe ich keine Geheimnisse mehr.

Erfahren Sie also, daß Saldern, der wohl selbst eine stille Neigung für Margot gehegt, ihr den Beweis bringen wollte, sie habe sich an einen Unwürdigen verschenkt, und daß dieser Beweis ihm nur allzu gut gelang. Eine Herausforderung zum Duell zwischen den beiden war die Folge. Saldern nahm an, obgleich er Arno Meyburg gegenüber nicht dazu verpflichtet gewesen wäre, und vereinbarte sofort ein Renkontre, das am Morgen auf einer abgelegenen Wiesenfläche im Westen von Nizza stattfinden sollte. Gerade als die Parteien hinausfahren wollten, ist das Erdbeben erfolgt; die Kutscher haben sich geweigert, weiterzufahren, der Arzt, den man mitgenommen, hat es für seine Pflicht erklärt, sofort umzukehren, und Saldern selber hat Arno Meyburgs Zeugen gegenüber seine Zusage zurückgezogen, da es im gegenwärtigen Augenblicke frivol sei, einen Ehrenhandel zum Austrag zu bringen, statt alle seine Kräfte in den Dienst der werktätigen Nächstenliebe zu stellen. Man hat das Renkontre vertagt, ist in die Stadt zurückgekehrt, und Saldern hat alsbald tatkräftig sich an dem Rettungswerk beteiligt. Er selbst ist dabei so erheblich verwundet worden, daß er jetzt im Garten einer Strandvilla in ärztlicher Pflege unter einem Zelt daniederliegt und man ihn gern weitertransportieren möchte – vielleicht nach Cannes oder Grasse, wo man das Erdbeben kaum gespürt hat. Er hat eine Botschaft geschickt, und ich habe ihn aufgesucht. Seine erste Frage war nach Margot, seine zweite nach Arno Meyburg. Er hat ihn zuletzt mitten unter den stürzenden Trümmern eines Hauses in der Rue de France gesehen – zu seinem eigenen nicht geringen Erstaunen, Verwundete bergend, Tote hinaustragend. In diesem Menschen scheint plötzlich dem gewaltigen Elementarereignis gegenüber das Gute, das in ihm geschlummert hat, noch einmal erwacht zu sein, und er hat ein Leben voller Schmach durch selbstlose Taten wettmachen wollen. Ein tüchtiger Kern war sicherlich in ihm. Eine wahre Raserei der Opferwilligkeit scheint ihn sogar ergriffen zu haben, denn Saldern hat durch Augenzeugen von den waghalsigen Rettungsversuchen gehört, die er unternommen. Die Möglichkeit, daß er dabei zugrunde gegangen, ist nicht ausgeschlossen. Jedenfalls ist er spurlos verschwunden, und ich halte es für meine Pflicht, nach ihm zu forschen – trotz allem, was er getan, uns und anderen angetan. Ich habe überall gefragt und gesucht, aber nur immer Achselzucken zur Antwort erhalten.«

Erich Holdheims Mienen hatten sich während dieses Berichts allmählich verändert. Bitterkeit und Hohn schienen daraus zu weichen, und ein sinnender Ernst allein lag auf seinen Zügen. »Fräulein von Detten ist in Unruhe über Baron Meyburgs spurloses Verschwinden?«, fragte er jetzt.

»Meine Schwester?« Harro schüttelte den Kopf. »Vor Margot darf sein Name wohl überhaupt nicht mehr genannt werden. Was sie erfahren hat, trennt sie auf immer von diesem Manne, und Arno würde selber nicht mehr wagen, ihr vor die Augen zu treten. Margot hat das Gefühl, daß ihr durch ihre Verlobung mit diesem Unwürdigen ein Schandmal aufgedrückt worden ist und daß sie sich deshalb vor niemand mehr blicken lassen könne. Schon deshalb muß sie so bald als möglich in andere Umgebung.« Erich war aufgestanden. »Gehen wir«, sagte er nach einem tiefen Atemzuge.

»Wohin?«

»Wir wollen ihn suchen.«

Harro warf dem Sprecher einen erstaunten Blick zu, entgegnete aber nichts. Sie brachen auf. »Wenn er in Nizza ist, werden wir ihn finden«, sagte Erich, während sie die Trümmerstätte verließen und im beginnenden Nachtdunkel durch die verödeten Straßen den Weg nach dem Fremdenviertel zu einschlugen.

Eine Weile wanderten sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte Harro: »Sie fragen nicht, was Margot erfahren hat, daß sie auf immer von einem Unwürdigen scheiden mußte?«

Erich schüttelte den Kopf. »Es steht mir nicht zu, darüber zu richten und danach zu forschen. Ich habe in diesen Tagen zuviel Menschen elend gesehen, um noch Kraft und Stimmung in mir zu spüren, über Menschen sünden zu Gericht zu sitzen. Ich habe Fräulein von Detten damals vor diesem Menschen gewarnt. Sie hat mir nicht geglaubt. Wenn man liebt, will man sich nicht warnen lassen. Jetzt kann sie es bei allem Schmerz, den sie empfinden wird, doch nur dankbar begrüßen, daß sie noch rechtzeitig Klarheit erlangt hat. Wieviel bitterer und trauriger würde es nachher gewesen sein!«

Wieder gingen sie beide stumm weiter. Dann fing Harro plötzlich an: »Sagen Sie mir nur eins noch, Herr Holdheim! War Arno Meyburg mit jener unglückseligen Bluttat verknüpft, über deren Ursache und Folgen wir neulich durch das Vermächtnis Ihrer verstorbenen Mutter aufgeklärt wurden?« Erich nickte, düster vor sich hinblickend, und Harro atmete schwer auf. »Ich ahnte es«, sagte er leise, »daher diese Todfeindschaft zwischen Ihnen beiden!«

Erich gab keine Antwort mehr, er machte nur eine müde Handbewegung, als ob er sagen wollte: »Lassen Sie es begraben sein. Wir haben an anderes zu denken. Heute gibt es keine Feinde mehr für uns – nur noch Menschen.«

Sie kreuzten die Avenue de la Gare. Wie prächtig diese sonst um die abendliche Stunde im Lichterglanz mit ihren Schaufenstern, auf den beiden Trottoiren mit einer bunten eleganten Menge belebt, mitten durch die lustig lärmende Fremdenstadt sich als die Hauptader ihres Verkehrs hingezogen hatte; und heute, wie öde und still lag sie da – kein Wagen rasselte, die Schaufenster waren geschlossen, kaum eine Laterne brannte. Das Schweigen schien Harro zu beklemmen. Er fing an von seiner Morgenfahrt zu sprechen, wie er bangen Herzens Monte Carlo nach dem heftigen Erdstoß verlassen hatte und nun nach Nizza gekommen war – in eine Stadt der Trümmer und des Elends; mit welchen Empfindungen er die zerstörte Villa Erminia betrachtet hatte, vor der Jean und seine Frau, eben aus der Frühmesse zurückgekehrt, bei welcher sie mit knapper Not nur dem Tode entronnen waren, in stumpfem Jammer vor sich hinbrüteten; mit welcher Angst er nach Margot gefragt hatte, bis er sie in so trefflicher Hut gefunden und von einem der Diener gehört hatte, wer sie gerettet und wie die todesmutige Hilfe im letzten entscheidenden Augenblick gekommen war.

Währenddem hatten sie die Rue de France eine Strecke weit durchwandert, und Erich trat jetzt in eines der Auskunftbureaus, um bei dem Beamten nach Baron Meyburg zu fragen. Der Name desselben befand sich jedoch weder in den Listen der Toten noch in denen der Verwundeten. Man konnte also mit Bestimmtheit behaupten, daß der Gesuchte nicht in einem der von den Behörden errichteten Barackenlazarette Aufnahme gefunden hatte. Da man heute auch bereits einen Überblick über die in privater Pflege befindlichen Kranken gewonnen hatte, glaubte der diensttuende Beamte überhaupt nicht daran, daß ein Baron Meyburg verwundet worden sei. »Wir würden davon erfahren haben«, sagte er. »Sie begreifen. Ein Baron! Den übersieht man nicht, trotz des ausländischen Namens. Übrigens, wenn er bei den Rettungsarbeiten in Nummer dreiundneunzig beteiligt gewesen ist, wie dieser Herr hier meint, so steht von vornherein fest, daß er bei diesen nicht verunglückte; denn die Opfer dieses Zusammenbruches sind – sämtlich in unseren Baracken am Var untergebracht – lauter schwere Fälle, einer sogar verzweifelt schwer – und ein Baron Meyburg ist nicht darunter. Bitte, überzeugen Sie sich selbst.« Er wies Erich die Listen. Erichs Blicke gingen eine kurze Weile darüber hin, dann nickte er und sagte kurz: »In der Tat, Sie haben recht. Ich danke Ihnen. Guten Abend, mein Herr.« Er lüftete seinen Hut und trat mit Harro auf die Straße hinaus. Dort fragte dieser: »Saldern hat sich also geirrt? Nun, um so besser. Ich wünsche von Herzen, daß es Arno gelungen ist, heil und unbeschadet in dieser allgemeinen Verwirrung zu entfliehen. Ich kann eben doch immer nicht umhin, daran zu denken, daß meine Mutter eine Meyburg war. Ich brauche Sie nun nicht weiter zu bemühen.«

»Zu entfliehen?« fragte Erich, erstaunt stehenbleibend. »Warum? – Vor wem?«

»Vor den Behörden – vor der Polizei. Konnte er denn wissen, ob wir nicht sofort Lärm geschlagen und durch das Konsulat seine Verhaftung beantragt haben? Seine und die seiner sauberen Komplizin? Wo es sich um eine Millionenerbschaft handelt und er weiß, wieviel für mich davon abhängt, wird er uns sicherlich das Äußerste zutrauen, überhaupt wissen nun so viele von seinem Verbrechen. Wie kann er da auf Schweigen rechnen, und was bleibt ihm anderes als Flucht? Einen Teil seiner Beute hat er schon eingeheimst, und der wird ihm dazu dienen, ein neues Leben anzufangen. Ich würde aufatmen, wenn ich ihn geborgen wüßte!« Als er Erichs verständnislose Mienen gewahrte, fügte er hinzu, während seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern herabsank: »Sie wollten es vorhin nicht hören. Es ist herausgekommen, daß Arno Meyburg durch seine Geliebte, die er im Falle des Gelingens zu heiraten versprach und als Gesellschafterin bei seinem Erbonkel, meinem Großvater, zu placieren wußte, das zu seinen Ungunsten abgefaßte Testament des letzteren bei dessen Tode stehlen ließ – aller Wahrscheinlichkeit nach gleichzeitig auch den dort befindlichen Trauschein unserer Eltern, der uns beim Fehlen eines Testaments als die nächstberechtigten Erben legitimiert hätte und nicht leicht zu ersetzen war. Nach dem Gelingen des Verbrechens wollte er sein Versprechen nicht einlösen, weil er inzwischen Margot liebgewonnen hatte, und nun –«

»Ah!« Erich staunte. »Nun, wenn es so steht, könnte ein Verdacht, der mir dort im Bureau eben durch den Kopf schoß, ja doch wohl berechtigt sein. Unter den Verwundeten, die im Var-Lazarett untergebracht sind, befindet sich nach der Liste ein Herr Birkner. Wenn Baron Meyburg Ursache hat, seinen Namen geheim zu halten, könnte er unter diesem falschen Namen –«

»Um so eher, als es der seiner Komplizin ist«, fiel Harro erregt ein. »Jedenfalls ist da eine Fährte. Wollen Sie mit hinaus?«

»Unverzüglich. Ich kann Ihnen vielleicht dienlich sein, da ich neuerdings eine angesehene Persönlichkeit in Nizza geworden bin.« Er lächelte bitter-wehmütig bei den letzten Worten. Dann bestiegen sie einen der wenigen Wagen, die an dem sonst üblichen Halteplatz nahe dem Polizeibureau hielten, und sie fuhren im Schritt, immer sorglich die Straßenmitte innehaltend, gegen den Strom zu, in dessen Nähe auf freiem Platze in gemessener Entfernung von allen steinernen Gebäuden die primitiven Holzbaracken errichtet waren, die sich zum Teil noch in sehr unfertigem Zustande befanden, aber schon ganz von Kranken und Verwundeten gefüllt zu sein schienen. Wimmern und Stöhnen drang aus dem Innern, geschäftig eilten die Heilgehilfen und Krankenwärterinnen hin und her. Der Platz glich einem großen Biwack. Es wurde im Freien gekocht, selbst die Erneuerung des Verbandes wurde bei manchen Verwundeten im Freien vorgenommen. Lebensmittel und Arzneiwaren lagen auf Brettern aufgespeichert.

Erich ließ sich bei dem überwachenden Beamten melden und trug sein Anliegen vor. Er wurde sehr höflich empfangen, erhielt aber die Antwort, daß Herr Birkner der schwerste Patient der Station sei und man wenig Hoffnung mehr für sein Leben habe. Ohne den ausdrücklichen Wunsch des Kranken oder die spezielle Erlaubnis des Arztes könne er unmöglich einen Besuch bei demselben gestatten, am wenigsten, wenn man nicht einmal sicher sei, den Gesuchten vor sich zu haben.

Während Erich sich bemühte, eine Personalbeschreibung Arno Meyburgs zu geben, um danach den Beamten zu einer Auskunft darüber zu veranlassen, ob der Kranke mit dem Geschilderten identisch sei, erfuhr er von diesem, daß Doktor Leuthold der behandelnde Arzt desselben sei. Sofort ging er, diesen aufzusuchen.

Doktor Leuthold, der das Lazarett leitete und in der ärztlichen Behandlung nur noch von zwei jungen Assistenten unterstützt wurde, trat sogleich aus einer der Baracken, als ihm Erich gemeldet wurde. Die letzten Tage hatten ihn anscheinend um Jahre altern lassen. Schweigend bot er Erich die Hand. Als er gehört hatte, um was es sich handelte, blickte er zu Boden und sagte erst nach einer Weile:

»Ich würde es für pflichtwidrig halten, das Inkognito irgendeines meiner Patienten zu lüften – es sei denn, daß man vor Gericht eine eidliche Aussage von mir forderte –, wenn ich hier nicht einen Sterbenden vor mir hätte, dem kein irdischer Richter mehr etwas anhaben kann. Ich mache Ihnen aus diesem Grunde kein Hehl daraus, daß der unter dem Namen Birkner eingetragene Patient in der Tat Baron Meyburg ist. Warum er sich einen falschen Namen gegeben hat, weiß ich nicht und kümmere mich auch nicht darum. Seine inneren Verletzungen sind so erheblich, daß eine Amputation seiner durch herabgefallene Balken zerschmetterten Beine nicht mehr vorgenommen werden konnte und man seiner Auflösung noch in dieser Nacht entgegensehen kann. Das Traurige ist, daß er sich zeitweise bei voller Besinnung befindet, sich über seinen Zustand klar ist und die unerträglichsten Qualen leidet. Was unsere schwache Kunst vermag, geschieht natürlich, um seine Pein zu lindern. Und wenn man nun bedenkt, daß er bei einer freiwilligen Rettungstat verunglückte, ja, wie Zeugen versichern, jene fremden Menschen aus einer so verzweifelten Lage befreite, daß unweigerlich sie oder der Retter zugrunde gehen mußten, so wird man diesem Sterbenden gegenüber wohl kaum mehr Empfindungen der Rache oder des Hasses hegen können. Man darf doch wohl annehmen, daß er sterben wollte, und das Schicksal hat ihm gewährt, einen schönen – einen sühnenden Tod zu sterben, nicht den des unglücklichen Spielers, der sich abseits eine Kugel durch den Kopf jagt. Stören Sie seine letzten Stunden nicht, lieber Herr Holdheim! Was Sie betrifft, Herr von Detten –«

»Auch ich verzichte darauf, ihn zu sehen«, fiel Harro ergriffen ein. »Mein Anblick würde ihm jetzt gleichfalls Qual bereiten.«

»Ich weiß nicht«, versetzte Doktor Leuthold nachdenklich, »den Namen Ihrer Schwester hat er oft in seinen Phantasien genannt. Es könnte sein, daß er ihr noch etwas zu sagen hätte. Ich will ihm für alle Fälle melden, daß Sie hier sind. Er mag dann selbst entscheiden; er ist augenblicklich ziemlich klar und unter der Einwirkung des Morphiums auch nicht zu sehr von Schmerzen gepeinigt.« Er wollte gehen, wandte sich aber noch einmal um und fügte zögernd hinzu:

»Ich muß Ihnen noch mitteilen, daß er nicht allein ist. Eine Dame, die sich für seine Verwandte ausgibt, weilt seit heute morgen an seinem Bett. Wie sie ihn gefunden hat, weiß ich nicht. Sie selbst ist leicht verwundet, pflegt den Sterbenden aber mit aufopfernder Treue. Falls Ihnen aus irgendeinem Grunde diese Begegnung peinlich sein sollte – ich kenne die Dame nicht –«

Harro winkte verneinend mit der Hand.

»Wahrscheinlich dies Fräulein Birkner«, sagte er zu Erich, als Doktor Leuthold gegangen war. »Sie muß ihn noch immer leidenschaftlich lieben. Dieser Mann hat eine fast dämonische Macht über die Frauen ausgeübt.«

Erich erwiderte nichts mehr. Er hatte sich ermüdet auf einen Bretterstapel niedergelassen und blickte in trübem Sinnen in die Nacht hinaus, die ihre Schatten über die Landschaft gebreitet hatte. In der Ferne rauschte leise der Strom in seinem breiten Bett, und hin und wieder schlug das Meer draußen mit dumpfem Klatschen zum Gestade herauf.

In den Baracken wurde es stiller. Manchmal nur scholl leises Weinen und Wimmern daraus ins schweigende Dunkel.

Auf einen Wink Doktor Leutholds, der in der Tür der einen Baracke erschienen war, trat Harro diesem zur Seite, während Erich unbeweglich draußen unter dem Sternenhimmel sitzenblieb.

»Er will Sie sehen«, sagte der Arzt leise.

»Kommen Sie!«

Harro folgte ihm. Sie schritten an mehreren Krankenbetten vorüber in ein enges Kämmerchen, wo beim fahlen Scheine einer Nachtlampe die Umrisse einer menschlichen Gestalt in den Kissen eines primitiven Lagers sichtbar wurden. Neben demselben auf dem Boden kauerte ein Weib mit verbundener Stirn, das von Mattigkeit überwältigt in einen leichten Halbschlaf verfallen war. Außer dem Bett, einem hölzernen Tisch mit allerlei Geräten und einem Stuhl befand sich nichts in dem Raum.

Harro hatte Mühe, sich zu fassen, nachdem er einen Blick auf den Kranken geworfen hatte, der unter seinen Tüchern so entstellt aussah, daß man ihn kaum wiedererkannte. Sein bleiches Gesicht war von Wunden und Schrammen aller Art zerrissen, der Mund des Sterbenden stand offen und zuckte wie von verhaltenen Schmerzenslauten.

»Seien Sie tapfer, Herr von Detten!« flüsterte Doktor Leuthold Harro zu.

Dieser raffte sich zusammen und trat dicht an das Bett. Er griff nach der Hand Arnos, die kalt und feucht war wie die eines Toten. Da ging ein Schimmer über die verwüsteten Züge hin, und wie ein Hauch kam es über die blutleeren Lippen:

»Verzeih'! Sag' ihr, sie soll verzeihen. Ich habe sie sehr – sehr geliebt. Ich wäre durch sie und mit ihr ein guter Mensch geworden. Ich wollt's. Verzeih! Zu spät!«

Seine Augen schlossen sich, ein mattes Röcheln quoll aus seiner krampfhaft arbeitenden Brust.

»Es ist alles verziehen«, sagte Harro, in tiefer Bewegung die reglose Hand haltend, »quäle dich nicht mehr!«

Ein Seufzer kam von den Lippen des Sterbenden, seine Finger klammerten sich fest um die Harros, als wollten sie nie wieder sie lassen. Etwas wie Ruhe schien ihn zu umfangen. Dann fuhr er plötzlich doch wieder auf, stierte mit großen, erschrockenen Augen wirr um sich, entdeckte plötzlich die Schlafende neben sich und stieß mit einem Blick auf sie aus:

»Laß sie fliehen! Sie hat – mich so geliebt –«

Die letzten Worte klangen noch wie ein Ächzen, die Glieder des Verwundeten begannen zu zucken, seine Zähne knirschten aufeinander.

Doktor Leuthold trat heran, löste Harros Hand aus der Arnos und sagte halblaut:

»Gehen Sie jetzt! Es strengt den Patienten zu sehr an. Ich muß eine neue Einspritzung machen. Morgen – morgen dürfen Sie wiederkommen.«

Sein Blick bei den letzten Worten besagte für Harro, daß er morgen keinen Lebenden auf diesem Lager mehr vorfinden werde. Er berührte mit seiner zitternden Hand leicht die Stirn des Sterbenden.

»Es soll alles werden, wie du willst«, sagte er leise, aber fest. »Sorge dich nicht! Schlaf wohl!«

Und in tiefer Erschütterung schlich er hinaus.


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