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XV.

Harro von Detten hatte schon mehrmals in wachsender Ungeduld und Erregung das Maskengewühl durcheilt, das den Bühnenraum überschwemmte, um nach Margot zu suchen. Er begriff nicht, daß sie verschwunden war, ohne ihm durch die anderen irgend eine Meldung zu hinterlassen. Und in seiner Brusttasche knitterte die Depesche, die er eben, in tiefer Bewegung aus der Villa de la Paix heimkehrend, zu Hause erhalten hatte – eine Depesche von Eugenia, die ihn unverzüglich nach Monte Carlo rief – an das Krankenlager – vielleicht an das Sterbebett ihres Vaters, den am Spieltisch ein Schlaganfall getroffen hatte. Von einem Sterbebett an das andere! Und dazwischen das jauchzende Getöse des Maskenballs der Karnevalsaison.

Er war hierhergestürzt, um Margot zu benachrichtigen und um von Arno das Geld in Empfang zu nehmen, das dieser ihm für heute abend noch versprochen und das vielleicht noch dazu dienen konnte, einem Sterbenden die letzten Lebensstunden zu erhellen. Der Boden brannte ihm hier unter den Füßen. Und dies tolle, ausgelassene Gewühl ertrug er in seiner jetzigen Stimmung keinen Augenblick länger. Er wollte sich eben dem Bühnenausgang zuwenden, der direkt auf die Straße hinabführte, als er Margot an Herrn von Salderns Arm die schmale Logentreppe herniederschwanken sah. Erschrocken stürzte er auf sie zu. »Um Gottes willen, was ist denn vorgefallen?« rief er erblassend. Der Leutnant legte ihm die Hand auf den Arm.

»Lassen Sie uns kein Aufsehen erregen, Herr von Detten«, raunte er ihm zu. »Hier hinaus – Ihr Fräulein Schwester muß sofort nach Hause. Ich selbst muß leider gleich wieder zurück –«

»Ich muß ohne Aufschub nach Monte Carlo – an das Krankenbett meines Schwiegervaters –. Es handelt sich doch wohl nur wieder um eine Ohnmacht bei Margot? Und wo ist Arno Meyburg?«

»Sie können ihn jetzt nicht sehen, Herr von Detten. Am besten sehen Sie ihn überhaupt nicht wieder. Ihr Fräulein Schwester wird Ihnen später alles erklären. Leider kann ich sie nicht begleiten; – wenn Sie aber selbst nicht abkommen können, wird gewiß Frau Reiher oder Fräulein Lindenthal – Sie finden sie dort unten, nahe dem Eingang –«

Während dieses erregten Wechselgesprächs waren die drei durch den Ausgang der Bühnenmitglieder auf die Straße gelangt. In der kühlen Nachtluft, die ihr hier entgegenschlug, schien Margot rasch wieder zu sich zu kommen. Sie richtete sich empor und versuchte zu lächeln. Ihre Farbe kehrte zwar noch nicht zurück und ihre Augen blickten Harro fremd an, aber ihre Hand drückte doch beruhigend die seine und sie murmelte: »Beunruhige dich nicht! Mir ist wieder ganz gut. Und ich werde mit dir fahren.«

»Nach Monte Carlo? Du? Jetzt? Nein, das ist unmöglich.«

»Fräulein von Detten«, fiel auch Herr von Saldern ein, dessen Arm Margot losgelassen, um zu zeigen, wie kräftig sie sich wieder fühle, »ich bitte Sie dringend, nicht hierauf zu bestehen. Eine neue seelische Erregung würde wahrscheinlich die schlimmsten Folgen haben. Ich beschwöre Sie, das nicht zuzugeben, Herr von Detten.«

Harro blickte unruhig auf seine Uhr. »Natürlich nicht. Aber ich habe noch Zeit, dich vorher selbst nach Hause zu bringen, Margot, ehe mein Zug abgeht. Nur rasch, rasch!« Er half ihr einen der am Straßenrand bereitstehenden Wagen zu besteigen. Dann sah er sich nach dem jungen Offizier um, der mit seltsam traurigen Mienen auf dem Trottoir stehengeblieben war und vor sich hinstierte.

»Ihnen statte ich meinen Dank morgen ab, mein lieber Herr von Saldern. Ich erfahre dann auch alles Nähere. Sie begreifen, wohin mich jetzt meine erste Pflicht ruft. Gute Nacht! Auf Wiedersehen!«

Er begriff nicht, weshalb Bruno von Saldern seine Hand so lange und so warm drückte und weshalb er einen so schwermütigen Blick dabei zu Margot hinüberwarf. Das machte ja geradezu den Eindruck, als wollte er einen Abschied auf wer weiß wie lange nehmen. Aber darüber nachzudenken war jetzt keine Zeit. Er winkte nur noch einmal, in den Wagen springend, zurück und gab dem Kutscher das Zeichen, zu fahren. »Und rasch! Ich zahle doppelt.« Margot hatte den Kopf gewandt und Harro gewahrte, daß Bruno von Saldern noch immer auf der gleichen Stelle stand, wo er ihm die Hand gedrückt; Margot und er schienen noch einen stummen Gruß zu tauschen. Dann rasselte der Wagen in tollem Laufe über das Pflaster, Harro hatte seinen Arm um Margots Schulter gelegt, und diese drückte ihren Kopf leicht gegen die seine.

»Armer Junge!« sagte sie leise. »Aber du solltest mich wirklich mit dir fahren lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Warum nicht gar! Es ist ohnehin schrecklich, daß ich dich jetzt hier allein lassen muß.« Er streichelte ihre Wange. »Wie blaß du noch immer bist! Wenn ich nur wüßte, was eigentlich geschehen ist! Das ist alles so geheimnisvoll – Und von Arno kein Wort –«

»Harro, ich kann jetzt nicht sprechen. Morgen! Nur soviel, daß alles aus ist, aus sein muß – weil er ein Verbrecher ist –!« Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust, als ob sie sich schämte, ihm nach dieser Eröffnung noch in die Augen zu sehen. Ihre Stimme war nur wie ein Flüstern gewesen. Harro zuckte zusammen. »Also wirklich, er – er war es? Sekundenlang kam mir eine Ahnung – dieser Arthur von Hagen war ja sein Freund –. Aber ich wies den Gedanken wie einen Verrat an ihm von mir.«

»Wovon sprichst du?« fragte Margot, sich aufrichtend, und strich mit der Hand über die Augen hin, in die ihre Haare wirr herabhingen.

»Ja so, du weißt ja natürlich nicht – diese Eröffnungen in der Villa La Paix – du mußt das alles noch erfahren – Doktor Leuthold hat es mir noch besonders zur Pflicht gemacht. Erich Holdheim ist völlig unschuldig!«

Ein tiefer Atemzug schwellte Margots Brust. »Ich hab' es gewußt«, hauchte sie vor sich hin, »Gott sei Dank!«

»Seine Mutter hat die Tat begangen – im Irrsinn – um eines Schurken sich zu erwehren, der nach ihrem Heiligsten tastete. Und er hat ihre Schuld auf sich genommen. Ein ganzer Mann, dieser Holdheim! Aber wenn du das nicht meintest – daß Arno Meyburg der eigentliche Urheber dieser gemeinen Erpressung war –«

»Auch das«, murmelte Margot, »ich glaube auch das. Es hat sich soviel in diesen Tagen zusammengedrängt« – sie preßte mit beiden Händen ihre Schläfen – »mir schwindelt davon. Aber noch Schlimmeres ist geschehen. – Morgen! Morgen! Er ist auch noch ein Dieb, dieser Mann, dessen Frau ich werden wollte, Harro! – Und nun wieder diese Nachricht von Eugenias Vater! Und daß ich nicht zu ihr kann! Mein Platz wäre jetzt an ihrer Seite. Laß mich mit, Harro!«

Er strich ihr besänftigend über die Wangen hin. »Nein, nein, Margot! Du mußt Ruhe haben, mein Herz. Und da sind wir ja.« Der Wagen hielt vor der Villa Erminia, Jean und seine Frau liefen herzu. Harro küßte Margots Stirn. Dann rief er beiden zu, daß sie für Mademoiselle sorgen müßten und daß er sie ihnen anvertraue, ließ wenden und spornte weiterfahrend den Kutscher zu noch größerer Eile an.

»Er glaubt mir nicht«, dachte Margot, während sie ins Haus trat, »er hält es für eine krankhafte Einbildung meiner erregten Nerven. Und es ist ja auch ungeheuerlich: ein Dieb – ein gemeiner Dieb!« Sie schauerte zusammen und mußte sich auf Jennys Arm stützen, um ihr Zimmer zu erreichen.

Dort fühlte sie sich wohler. Die Stille nach all dem wüsten Lärm draußen tat ihr gut. Sie lehnte jede weitere Hilfe des dienstbeflissenen Ehepaares ab, ließ sich nur ein Glas Wein reichen und schickte die beiden dann fort. Sie wollte zu Bett gehen. Nur ein paar Stunden Schlaf – weiter brauchte sie nichts, dann würde sie die alte sein, alles wie einen wirren, widrigen Traum von sich abschütteln, dies Häßliche! Stark und ruhig würde sie wieder werden. Und etwas gab es, was ihr dabei half, sie aufrichtete, sie innerlich durchwärmte: Erich Holdheim war unschuldig! Sie hatte es immer gewußt, aber nun würde es alle Welt wissen. »Ein ganzer Mann!« hatte Harro gesagt. Jawohl: einer, zu dem man aufsehen, auf den man bauen konnte wie auf Fels und Erz. Nur sie war nicht mehr würdig, das Auge zu ihm emporzuheben – entwürdigt, wie sie sich fühlte, durch die Verlobung mit diesem Manne! Und er hatte sie vor ihm gewarnt, er hatte es gut mit ihr gemeint. Nur daß sie nicht auf ihn gehört hatte! So geschah ihr dann also recht.

Margot warf ihre Kleider von sich, trank das Glas Wein leer und wühlte sich in ihre Kissen ein. Sich verstecken können – das wäre das rechte gewesen. Bleischwer waren ihre Glieder und ihr Kopf wüst und wund. Denken konnte, wollte sie nicht mehr. Wenn nur ihr Herz nicht so sinnlos geklopft hätte! Wozu? Wozu? Nun war ja alles vorbei. Und wenn nichts anderes sie mehr rein baden konnte von dieser Besudelung, die ihre Seele erlitten, ein Leben voll Arbeit, ein Leben voller Entsagung würde dazu imstande sein. Das waren ja doch die mächtigen Hilfsfaktoren, deren Kraft niemals versagte, die einzigen: Arbeit – Entsagung. Und gleich ihr würde jetzt Harro sie üben müssen – der arme Harro! Aber sie konnte ihm nicht mehr helfen. Sie hatte es ja gewollt. Der tolle, flüchtige Mummenschanz war zu Ende – Aschermittwoch.

Die Lider fielen ihr allmählich zu, und ihre Glieder streckten sich. Sie fühlte das wache Leben nicht mehr in sich. Nur das Blut pochte und siedete ihr in den Schläfen. Oder war es das Rauschen der Meerflut, das sie vernahm, und das Raunen des Windes, der jetzt in den Baumwipfeln mit stürmischerem nächtlichen Atem sein Spiel trieb? Sie wußte es nicht mehr, alles verschwamm vor ihr. Wie in einer Erstarrung lag sie gefangen. Töne eines Klaviers? Unmöglich! Erich Holdheim spielte jetzt nicht, wo er eine Sterbende, vielleicht eine Tote im Hause hatte. Am wenigsten diese Weise! Eine vorbeiziehende Maskengruppe also wohl – und nicht ein Flügel war's, sondern eine Mandoline. Aber diese Weise? Das war doch keine Musik für heimkehrende Faschingstänzer, während der Aschermittwochmorgen graute! Oder wußten sie selber gar nicht, was sie sangen? Sangen sie es nicht, sondern hallte es nur in ihrer eigenen, tiefsten Seele nach: »Ich liebe dich und weiß, es kann nicht sein?« Schlafen! Schlafen!

Zerflatterte Klänge, verwehende Stimmen draußen. Dann alles still. Selbst das Blattgeflüster in den Bäumen des Gartens verstummt. Nun schleichen die letzten Maskenschwärme mit zerfetzten Faschingskostümen und übernächtigen Gesichtern müde und übersättigt durch die Straßen. Es ist Margot, als sähe und hörte sie sie schleichen. Scheu – ganz scheu, denn in die letzten rauschend verhallenden Tanzweisen mischen sich schon die mahnenden, ehernen Glockenklänge von allen Kirchtürmen und rufen zur Buße.

Und jetzt ein leises, schütterndes Rollen. Ist das ein Wagen, in dem Harro aus Monte Carlo heimkehrt? Ist dort alles vorüber? Aber dann wäre er dort geblieben. Eugenias Vater ist also wieder besser geworden, die Gefahr ist überstanden. Aber das war kein Wagenrollen; es klang wie von unten herauf, wie wenn in den Kellern der Villa etwas Schweres, lange nachdröhnend, von einem Platz zum anderen geschoben worden wäre. Dann wieder tiefe – fast beängstigende Stille. Nur ein leises, schüchternes, gleichsam fragendes Vogelgezwitscher aus dem Garten. Noch ist's dunkel. Nur ein erstes dämmerndes Grau, ein Zwielicht, in dem der Schimmer der Sterne langsam verlöscht, will sich lösen.

Da – plötzlich ein weither heranrollendes Donnern in der Tiefe, ein Brechen, Stürzen und Kollern, wie wenn ein unterirdisches Gewitter mit aller Gewalt losgebrochen wäre, ein Hallen und Dröhnen von niederbrechenden Mauern, ein Schwanken und Zittern, als wäre das Haus plötzlich zu einem Schiff geworden, das auf wilden Wogen erbarmungslos umhergeschleudert wird. Die Wände neigen sich unter sinnbetäubendem Getöse, Staub wirbelt auf, das Haus scheint aus der Erde emporgehoben und in seinen Grundmauern umgedreht zu werden, wie ein vom Orkan entwurzelter Riesenbaum. Der mächtige Spiegel stürzt von der Wand, schlägt im Fallen auf den Marmormantel des Kamins und zersplittert mitsamt den Vasen und Lampen, die er mit sich herabreißt, in tausend Scherben. Aber dies knatternde Getöse wird übertönt von einem Reißen, Poltern und Bersten, als ob alle Mächte der Unterwelt plötzlich losgelassen wären, um in Sekundenschnelle ein grausiges Werk der Vernichtung zu vollenden.

Denn nur sekundenlang, kaum eine halbe Minute lang, währte diese höllische Zerstörung geheimnisvoller, furchtbarer Kräfte. Dann schien alles vorüber zu sein. In die entstandene Stille klangen nur wilde Laute, Hilferufen, Kreischen und Heulen und klang das Brechen zerborstener Mauern, die erst jetzt zum Sturze kamen, das Krachen der gelockerten Balken, das Niederpoltern fallender Steine. Noch war's erst wie ein Atemholen zu einem einzigen wilden, weithin gellenden Schrei des Jammers, der Angst und des Entsetzens. Noch herrschte die Betäubung, die starre Fassungslosigkeit, das Nichtbegreifenkönnen des Ungeheuerlichen, was geschehen. Dann aber brach es los.

Aus allen Türen, aus allen Fenstern stürzten die Menschen. Die meisten, so wie sie gerade aus dem Bett gesprungen waren oder wie der furchtbare Stoß sie herausgeschleudert hatte, halbnackt, das Bettuch oder eine Wollendecke um den Leib gewickelt, andere notdürftig bekleidet, ungenügend gegen die empfindliche Morgenkühle verwahrt, mit irgend welchen, meist völlig nutz- und wertlosen Gegenständen in der Hand, welche sie in der ersten Verwirrung mechanisch ergriffen, um sich zu flüchten. Alle jagten dahin, immer angstvoll sich in der Mitte der Straße haltend, um nicht von den niederkollernden Dachziegeln, von brechenden Simsteilen oder sich überschlagenden, geborstenen Hausmauern getroffen zu werden. Wohin er wollte, wußte keiner. Nur fort, fort aus den Häusern, die über ihnen zusammenbrechen wollten, fort aus der Nähe der Mauern und Wände! Ins Freie, dem Meere zu! Mochte aus den Häusern werden, was wollte, wenn man nur das Leben rettete. Mochte aus allen anderen werden, was wollte, wenn man nur selber mit dem Leben davonkam. Ans Meer! Ans Meer!

So jagte ein wachsender Schwarm von Besinnungslosen, Verzweifelten dem Strande zu, nichts wollend und nichts verlangend als Rettung, Rettung! Das Chaos war hereingebrochen – rette sich, wer kann! Und hinter ihnen her klagte, jammerte, winselte das Elend der Verschütteten, der Kranken, der Eingekeilten, die sich nicht retten konnten – umsonst, lange umsonst. Ratlos, fragend und klagend, mit entsetzten Blicken, angepackt von dem Grauen, daß das Furchtbare sich wiederholen und damit die letzte Rettungsmöglichkeit schwinden werde, rannte alles durcheinander.

Viele jagten zum Bahnhof, wo eine johlende Menge sich ineinander drängte und das Ablassen von Extrazügen verlangte, die Waggons stürmen wollte und schließlich mit den Waffen in der Hand von den Beamten zurückgeschlagen wurde, die in das Getümmel hinausschrien, man könne nicht fahren, weil man noch nicht wisse, ob die Strecke befahrbar sei, der Telegraph sei gerissen. Also wieder zurück! Ans Meer – in die Berge! Wo war man am sichersten? Nur nicht zurück in die Häuser – nur nicht in die Nähe von menschlichen Wohnungen.

Tausende hatten sich am Strande gelagert; sie wimmelten dort ziellos durcheinander wie ein aufgestörter Ameisenhaufen, redeten mit aufgeregten Gesten und angststieren Augen aufeinander ein, klagten sich ihre Erlebnisse und wollten, ohne auch die der anderen zu hören, Rat und Hilfe diesem Ungeheuerlichen gegenüber, das sie alle mit einer bohrenden Furcht erfüllte. Viele lagen apathisch da, unfähig sich zu rühren, den Blick auf das ruhig sich dehnende Meer hinausgerichtet, als wollten sie dort Trost schöpfen, und von der Stadt abgekehrt, wo das Grauen und die Zerstörung hausten. Sie wollten sie nicht mehr sehen, sie wollten das Erlebte wie einen wüsten Traum im Rücken haben. Manche ließen sich Kleider aus ihren Häusern holen, die sie selbst nicht mehr zu betreten wagten, um ihren Anzug zu vervollständigen; andere besorgten sich Lebensmittel, die Flaschen begannen unter Unbekannten, die sich auf den Strandkieseln zusammengefunden hatten, zu kreisen, und die fliegenden Warenhändler hatten schnell die günstige Gelegenheit, das Unglück zu eigenem Vorteil auszubeuten, erspäht und boten mit lauter Stimme ihre Erfrischungen zu fabelhaften Preisen an. Allmählich entwickelte sich das bunte Bild eines Lagerlebens. Man fing an, wieder Mut zu schöpfen. Groß und glänzend war die Sonne über dem lichtblauen Meer aufgegangen, ein strahlender Frühlingstag lag über der Engelsbucht und dem Küstengelände, das die unglückliche Stadt umhegte. Es war, als ob die Natur der Angst der Menschen spotten wollte oder als gelüste es sie danach, das Werk ihres Vernichtungstriebes mit leuchtender Herrlichkeit zu überspannen und vergessen zu machen. Schneidendere Kontraste waren wohl nicht auszudenken, als hier der friedvolle Morgen über Meer und Ufern mit seinen erwachenden Blütendüften aus allen Gärten und dem sonnigen Glanz auf den leise zitternden Wassern, und dort die Stadt, unter deren eingestürzten Dächern, hinter deren brechenden Mauern der Jammer schrie und die Furcht wimmerte.

Noch hatten viele ihr Narrenkostüm nicht vom Leibe gehabt, als das Erdbeben sie überrascht hatte, und kreischend, aufheulend waren sie in ihren zertretenen und zerfetzten Gewändern ins Freie geflüchtet. Pierrots mit so schreckensbleich verstörten Gesichtern hatte die Sonne des Aschermittwochs noch nie beschienen; so schlecht hatten Faschingskleider noch nie zu den Mienen und Empfindungen ihrer Träger gestimmt. Und doch hatte keiner Sinn und Empfänglichkeit für die Tragikomik dieser traurigen Narren, sah man doch ohnehin überall Erscheinungen in den abenteuerlichsten und mangelhaftesten Bekleidungen, die zu anderen Zeiten Spott und Entrüstung hervorgerufen haben würden, hier und jetzt aber von niemand beachtet wurden, so ganz waren aller Gedanken und Gefühle von dem einen in Anspruch genommen – man wußte nichts anderes, man sah nichts anderes.

Von den Kirchen hatten die Glocken gewimmert, ohne daß Menschen ihre Klöppel gerührt hätten, drinnen aber waren die Andächtigen von den Knien emporgeschnellt, um mitsamt ihren Priestern und Ministranten aus den klaffenden Mauern des Gotteshauses zu flüchten, weil eine Stimme zu ihnen allen geredet hatte, die mächtig war, die Stimme der Todesfurcht. Sie war's, die in dieser Stadt der tollen Lust, der Eleganz und des Lasters die Alleinherrschaft gewonnen hatte, ihr beugten sich alle Gemüter und unerweichbar schrieb sie ihre harten, häßlichen Gesetze vor, weckte sie alle unedlen und selbstsüchtigen Eigenschaften im Menschen. Drohend hatte diese Stimme geschallt, gleich Posaunen des jüngsten Gerichts.

Wie hier, so überall an diesem leuchtenden Ufer, das sich mit seinen zahllosen Buchten und sonnenbeglänzten Ortschaften an den rebenumsponnenen, orangeüberdufteten Berghängen vom Aufgang bis zum Niedergang hinschwingt. Denn überall hatte das unterirdische Gewitter, an diesem Gestade entlangrollend, seine verheerenden Wirkungen geübt, von Marseille bis Genua und wieder von Genua südwärts bis zum bergumschlossenen Golf von Spezia, je nach Lust und Laune milder und grausamer, hier nur mit unheimlichem Drohen rüttelnd und kollernd, dort mit Gigantenfäusten alles niederreißend, was es auf seiner blitzgeschwinden Bahn des Verderbens antraf, und in Sekundenfrist die Stätten von Tausenden von arbeitenden Menschen in Trümmer reißend, sie selbst unter diesen Trümmern begrabend.

Und noch hatte das Entsetzen den Höhepunkt nicht erreicht. Denn nun gerade, als man das Furchtbare überstanden glaubte und daran dachte, so oder so für die nächste Zukunft Vorsorge zu treffen, erfolgte ein neuer Erdstoß. Nun kannten alle dies Geräusch, das den Boden unter ihren Füßen erzittern machte und wie ein fauchender Orkan unterirdisch daherblies, nun wußten alle, was es bedeutete. Und die eben aufgetauchte Hoffnung verwandelte sich jählings in bleiche Furcht, ein irres Grausen bemächtigte sich der Mutigsten. Nun war alles zu Ende. Stoß auf Stoß würde erfolgen, was noch stand, niedergerissen werden, der Boden würde aufklaffen und gierig alles Lebendige hinunterschlingen. Die Revolution unter der Erde war ausgebrochen, es gab keine Rettung mehr. Auch am Meer, das immer noch in sonnenüberzittertem Glanz sich friedlich kräuselte, war es gefährlich zu hausen. Eine Springflut würde kommen, die zumeist mit dem Erdbeben verbunden war, und hinwegspülen, was sich ans Ufer geflüchtet hatte. Also auf in die Berge! Aber werden die Berge stehenbleiben, wenn die unterirdischen Gewalten an ihnen rüttelten und rührten? Und wo die Nacht zubringen? Neue Risse waren in den Häusern aufgeklafft, wankende Mauern waren zum Stürzen gekommen, überall rieselten Kalk und Mörtel von den Wänden herab, jeden Augenblick polterten Steine und Simsbekleidungen in zerstäubenden Klumpen auf die Straßen, die vollständig verödet erschienen. Ein wilder Wirrwarr entstand. Einer steigerte immer noch mit Befürchtungen und Schreckensbildern die Angst des anderen, tausend widerspruchsvolle Gerüchte durchschwirrten die Luft, alles schrie nach Rettung – nach Schiffen, nach Eisenbahnzügen, die sie von diesem Orte des Jammers fortführen sollten, wo ihrer aller der Untergang harrte. Zu planvollem Handeln hatte keiner mehr Kraft und Willen genug. Man rang die Hände, statt sie zu gebrauchen und den Gefährdetsten von allen Hilfe zu bringen, den Kranken, den Verschütteten, den Verwundeten. Denn immer wieder, in kürzeren oder längeren Unterbrechungen, spürte man ein Schütteln und Zittern in der Erde, die nur Atem holen zu wollen schien, um zu einem gewaltigen neuen Vernichtungsstoß sich zusammenzuraffen; man spürte sie sich schwankend bewegen, häufig auch dann, wenn in Wahrheit kein neuer Stoß erfolgt war und nur die wirr schweifende Phantasie und die krankhaft überreizten Nerven ihn sich vorspiegelten. Und jedesmal hallte es dann wie ein einziger anklagender Verzweiflungsschrei über die Stadt hin, die noch wenige Stunden vorher wiedergetönt hatte von ausgelassener Lust und toller Laune ... Erst gegen Mittag, als die haltlos Durcheinanderhastenden sich teils in Wagen gegen die Berge zu geflüchtet hatten, teils die nach Marseille abgelassenen Eisenbahnzüge überfüllten oder sich Zelte am Strande oder in den Gärten errichteten, begannen die Rettungsarbeiten und Schutzmaßregeln. Die Behörden hatten sich auf ihre Pflicht besonnen. Einzelnen war in der allgemeinen Kopflosigkeit ihre Besinnung zurückgekehrt und sie griffen tatkräftig aus freien Stücken mit ein, um Hilfe zu bringen. Das Militär war zur Stelle, um die öffentliche Sicherheit zu schirmen und die Ordnung aufrechtzuerhalten; man sperrte einzelne Straßen, in denen den Häusern der Einsturz drohte, man verwehrte den Zugang zu verlassenen Wohnungen den Unbefugten, die rauben und plündern wollten.

Man brachte die Kranken ins Freie, wo in aller Eile Baracken gebaut und Zeltdächer ausgespannt wurden, man trug die Insassen des Hospitals in ihren Betten in den Garten hinab, man forschte nach den Verschütteten, denen durch Abräumen des Schuttes Hilfe gebracht werden konnte, und leistete den Verwundeten Beistand. Beruhigende Proklamationen wurden erlassen und verkündet, die Bevölkerung ermahnt, zur Ordnung sich zurückzufinden.

Nach Laune und Willkür hatten die unterirdischen Mächte gewaltet, oder dem menschlichen Erkennungsvermögen blieb doch verborgen, nach welchen Gesetzen sie ihr Zerstörungswerk vollzogen. Manche Straßen, ja Stadtviertel waren bis auf unbedeutende Risse im Mauerwerk und kleine Schäden im Innern fast ganz verschont geblieben, während in anderen kein Haus mehr bewohnbar war. Wieder war manchmal ein Haus unversehrt, während seine Nachbarn in Schutt, Trümmern und Staub daniederlagen; Gebäude, die man für die Ewigkeit errichtet glaubte mit ihren gewaltigen Steinmassen, waren wie Kartenhäuser zusammengestürzt, und leichte, auf Spekulation gebaute Sommerhäuschen hatten die Stöße des wankenden Bodens ertragen, kaum daß ein Ziegel vom First herabgebrochen war. Hin und wieder täuschte freilich der äußere Anblick, denn ein unversehrt erscheinendes Haus erwies sich beim Betreten oft als zerstört im Innern oder drohte einzustürzen. Wie lange die nur teilweise beschädigten Gebäude neuen Erderschütterungen, die jeder voraussah, noch würden trotzen können, war eine Frage, die durch die schnell zusammengetretene Sachverständigenkommission in jedem Einzelfalle entschieden werden mußte, um danach das Betreten der gefährdeten Häuser zu gestatten oder zu versagen. Zu längerem Verweilen darin war ohnehin keiner geneigt. Alles bereitete sich auf ein Kampieren im Freien vor, und nur Vorräte, Kleidungsstücke und Gerätschaften aller Art suchte man aus dem Innern der Häuser zu retten, vor allem wurden Diwans und Betten, Decken und Mäntel ins Freie geschleppt, zum Teil unter dem Beistand von Soldaten und Wachmannschaften aus den Fenstern herabgeworfen oder mit Leitern herabgeholt.

Die Villa Erminia war gleich bei dem zweiten, dem gewaltigsten Stoß des Erdbebens zusammengebrochen. Margot wurde aus dem Bett auf die Erde geworfen, versuchte sich, halb betäubt, aufzuraffen, warf ein Kleid über und wollte Licht machen. In der Finsternis stolperte sie aber dabei über einen Scherbenhaufen, fiel abermals, stieß sich die Stirn an einem herabgestürzten Wandstück blutig, tastete sich auf allen Vieren gegen das Fenster zu und wollte es aufreißen. Aber ihre wunden, zitternden Finger vermochten es nicht. Die Holzladen waren eingeklemmt, die Mauer schien sich gesenkt zu haben und drückte die beiden Flügel wie in einem Schraubstock zusammen. Margot preßte sich die Haut von den Händen, ohne sie auch nur einen Spalt weit aufzuzwängen. Eine grauenhafte Angst ergriff sie allmählich. Sie kam sich eingeschlossen und von aller Welt vergessen vor. Ohne noch klar zu erkennen, was eigentlich geschehen war, fühlte sie doch, daß etwas Furchtbares geschehen sein müsse. Und die nach dem höllischen Getöse eingetretene Stille beklemmte und beängstigte sie erst vollends. Nur das Poltern von herabfallenden Steinen, das unheimliche Knarren und Knistern im brechenden Gebälk und fernes Angstgeschrei unterbrach dies drückende Schweigen. Und keiner kam, nach ihr zu sehen, nach ihr zu fragen. Sie rief nach Jean. Keine Antwort. Das Ehepaar schlief im Souterrain, wer konnte wissen, ob ihm der Ausgang nicht verrammelt worden war? Vielleicht waren sie auch in die Frühmesse gegangen und überhaupt nicht im Hause. Und Harro noch in Monte Carlo. Also allein – ganz allein. Und das Haus konnte jeden Augenblick über ihrem Kopf zusammenstürzen! Eine tödliche Angst ergriff sie. Lauter ließ sie ihre Stimme erschallen.

Und nun fand sie die Tür, aber sie hing schief in den Angeln und ließ sich nicht öffnen. Als es ihr mit aller Kraftanstrengung endlich doch gelang, fiel eine Wolke von bröckelndem Mauerwerk über sie herab, und der dicke Staub drang ihr in Augen und Mund. Sie konnte sekundenlang nicht mehr sehen und rang hustend nach Atem. Und dann, als sie sich wieder aufgerafft und vor die Schwelle hinausgeschleppt hatte, sah sie bei dem durch ein Oberlichtfenster einfallenden Gewittergrau, daß die Treppe vom Korridor losgerissen war und in der Luft stand, während dicht vor ihr der Boden eine klaffende Öffnung aufwies. Sie stieß einen gellenden, angstzitternden Schrei aus. Aber wer sollte sie hören? Offenbar war im Haus keine lebende Seele als sie ganz allein. Und bis in die nächsten Häuser drang ihre Stimme nicht. Also verloren! Sie stürzte zum Fenster zurück, hier war sie abgeschnitten. Da rollte es aufs neue unter der Erde. Schutt und Staub wirbelten atemraubend um sie her. Ein Krachen, Bersten und Splittern betäubte sie. Sie kroch vorwärts. Mit letzter Lungenkraft schrie sie nach Hilfe.

Neben dem Fenster brach sie in die Knie. Der bröckelnde Mörtel der wankenden Mauer regnete auf sie herab, verschüttete sie, sie gab sich verloren.

Da klang von irgendwoher ihr Name – angstvoll, sehnsüchtig, gerufen von einer Männerstimme. Man suchte sie, man wollte sie retten. Und diese Stimme kannte sie, sie goß ihr Kraft, Hoffnung, Mut zurück in die Adern. Mit letzter Kraftanstrengung sich halb emporrichtend aus ihrer Betäubung, schrie sie durch die umhersplitternden Trümmer hinaus: »Hier, hier bin ich!« Dann wälzte sich ein abgebröckeltes Mauerstück ihr auf die eine Schulter und warf sie zurück. Ihre Sinne vergingen. Nur wie im Traume hörte sie allerlei verworrenes Geräusch von draußen hereindringen – ein Pochen, Hämmern und Dröhnen, das ihr in den Schläfen wehtat, dazwischen manchmal wieder ein Rufen, auf das sie keine Antwort mehr geben konnte, einen tröstenden Zuspruch, ein ermunterndes Wort. Dann schien's ihr, als dringe plötzlich Tageshelle in ihre dunkle, von Schutt erfüllte Kammer – als hebe man sie auf, grabe sie förmlich unter den Trümmern hervor und trage sie fort. Sie wußte nicht, ob es wirklich so war, sie fühlte sich nur plötzlich erleichtert, sie konnte wieder atmen, sie spürte sich in schützenden Armen, die sie hielten, hinausgehoben – ins Licht des jungen Tages und ins Leben.


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