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III.

Harro von Detten war zerstreut und nervös, als er zu Tische kam. Es war mit dem Komponieren nicht so gegangen, wie er gewollt hatte. Und dann hatte er in den Zeitungen, wo er immer nur die Konzertberichte und Musikkritiken überflog, wieder allerlei gefunden, was ihn aufregte und verstimmte. Andere hatten Triumphe gefeiert, andere kamen in die Höhe, schufen sich einen Namen. Er selbst war vergessen, ihn vermißte niemand.

Den meisten Verdruß aber hatte ihm ein Brief des Justizrates Weilheim bereitet, jenes Anwalts, dem die Geschwister die Vertretung ihrer Erbschaftsansprüche übertragen hatten. Der Justizrat schrieb, er habe die Erbansprüche der Geschwister von Detten bei Gericht angemeldet und man habe ihm aufgegeben, den Trauschein der Eltern sowie andere Dokumente beizubringen, aus denen erhelle, daß Frau Melitta von Detten in der Tat mit der einzigen Tochter des Erblassers Baron Meyburg identisch sei und ihre überlebenden Kinder einer rechtsgültigen Ehe entsprossen seien.

Was das alles für Umstände und Weitläufigkeiten waren! Unerträglich! Und nun sollte er diesen Trauschein herbeischaffen! Er hatte ihn nicht, er wußte auch nicht, wie er ihn besorgen sollte, denn er erinnerte sich gar nicht, je gehört zu haben, wo seine Eltern sich eigentlich hatten trauen lassen. Wahrscheinlich in England. Weil es dort am leichtesten gewesen war und auf die mangelnde Einwilligung des Vaters der Braut keine Rücksicht genommen wurde. Aber wo in England hatte die Trauung stattgefunden? Wenn der Justizrat hier keine Hilfe schaffen konnte – er, Harro, war vollends außerstande dazu. Diese albernen Formalitäten überhaupt! Er war Harro von Detten, Hans von Dettens Sohn und des alten, versteinerten Baron Meyburgs leiblicher Enkel, und damit basta. Beweisen! Warum nicht gar! Er wollte dem Justizrat schreiben, daß er dem hochwohllöblichen Gericht bestellen möge, es sei alles in bester Ordnung und die Spatzen auf den Dächern in Meyburg könnten es ihm vorpfeifen, daß Melitta von Meyburg Hans von Dettens Frau gewesen sei. Diese Schikanen! Diese Verschleppung einer so einfachen Erbschaftsregulierung! Natürlich nur, damit die Herren Advokaten recht viele Gebühren zu liquidieren hatten! Man kannte das.

Als Harro gleich nach Tisch sich hinsetzte, um an den Justizrat zu schreiben, wurde es draußen vor der Gitterpforte laut. Allerlei Rufe, Gesang und Gelächter ertönte. Und als Margot in der offenen Tür des Gartensalons erschien, hallte es zu ihr herüber: »Schnell! Schnell! Fertigmachen! Wir fahren alle nach Monte Carlo. Ausreden gelten nicht! Im Notfall wird Gewalt gebraucht. Vorwärts! Vorwärts! Wo ist Harro?«

Harro war schon neben seiner Schwester im Türrahmen aufgetaucht, um lachend mit der Hand hinauszuwinken. »Ihr leichtsinniges Volk!« rief er. »Kennt Ihr denn überhaupt keine anderen Vergnügungen mehr? Verführer! Wir kommen gleich.«

Seine Zustimmung wurde mit Händeklatschen angenommen. »Wollen wir wirklich wieder mit?« fragte Margot zögernd, während sie zurücktrat. »Ich glaube eigentlich nicht, Harro, daß es für dich gut ist.«

»Ah«, machte er mit einer wegwerfenden Gebärde, »nur bloß keine Doktormiene aufsetzen! Ich brauch' Anregung, ich brauch' Erheiterung. Heute besonders. Komm! Sei gut! Wenn ich in Monte Carlo eine viertel Million gewinne, können sie mir mit ihrer ganzen Erbschaft gestohlen werden.« Und lachend schlang er ihr den Arm um die Taille, um sie fortzuziehen.

Während er in aller Eile seinen Brief abschloß und kuvertierte, wurde es draußen immer lauter. Die ganze lustige Gesellschaft, mit der die Geschwister vor ihrer Übersiedlung in die Villa Erminia im Hotel Beaurivage drüben zusammengewohnt hatten, hatte sich eingefunden.

Da war der Major von Jorell, für den Nizza die ganze Welt bedeutete und der darüber hinaus nichts mehr kannte, dieses aber auch mit der Gründlichkeit eines Fremdenführers – eine wandelnde Nizzaer Chronik, von der man über jede Neuigkeit Auskunft erhalten konnte; kein Mensch begriff, woher und wodurch.

Dann Fräulein Adele Lindenthal, die für ein Dutzend Blätter Korrespondenzen von der Riviera schrieb, dann das Ehepaar Reiher, das nie eine eigene Meinung hatte, alles mitmachte und immer vergnügt war; ein paar junge Offiziere mit Winterurlaub; schließlich noch allerlei »Rivierabummler« beiderlei Geschlechts – wie sie von Herrn von Jorell klassifiziert wurden –, für alle diese Menschen gehörte der nachmittägige Ausflug nach Monte Carlo zur Tagesordnung. Das Konzert dort war vortrefflich, mit dem im Nizzaer Jardin public gar nicht zu vergleichen; man sah und erlebte allerlei Neues, und man konnte sich durchs Spiel zugleich eine prickelnde Aufregung verschaffen. Alle spielten. Man betrieb das mit Maß und nur zur Unterhaltung – davon war wenigstens jeder fest überzeugt –, man sah, wie die anderen spielten, wie hier an den grünen Tischen große Summen gewonnen und verloren wurden, man erhitzte sich in dieser von Leidenschaften erfüllten Atmosphäre. Die Gesellschaft draußen war schon ungeduldig geworden, als die Geschwister endlich erschienen. Der Major erklärte, daß man im Sturmschritt gehen müsse, um den Zug noch zu erreichen, und so hasteten alle unter Lachen und Schwatzen die Avenue de la Gare hinunter. Der Zug stand schon abfahrtbereit, als sie auf dem Bahnhof eintrafen. Er führte fast nur Wagen erster Klasse und war beinahe vollständig besetzt. Gepäck sah man nirgends in den Coupés, alle diese elegant gekleideten Herren und Damen fuhren nur bis Monte Carlo und kehrten in einigen Stunden von dort wieder zurück. Es gab ein buntes Drängen und Gewirr. Die kleine Gesellschaft mußte sich in die verschiedensten Wagen verteilen, wo gerade noch ein freier Platz sich vorfand, dann wurden die Türen zugeschlagen, die Lokomotive pfiff und der Zug rollte aus der Halle.

Margot war ganz allein unter lauter Engländer in ein Coupé geraten, und während um sie her wieder einmal die Chancen der Roulette eifrig erörtert wurden, hatte sie Muße, auf die herrliche Küstenlandschaft hinauszublicken und ihren Gedanken nachzuhängen.

Fast erschrocken fuhr sie aus ihrer Versunkenheit auf. Mit einem langgezogenen Pfiff war der Zug zum Stehen gekommen und die Coupetüren wurden aufgerissen. »Monte Carlo!« Alles strömte hinaus. Margot begriff nicht, daß man schon angelangt war, sie hatte gar nicht gemerkt, daß man schon vorher an ein paar Stationen gehalten hatte. Verwirrt erhob sie sich, um nun gleichfalls hastig das Coupé zu verlassen. Auf dem hohen Wagentritt wäre sie dabei um ein Haar gestolpert, wenn nicht rechtzeitig ein kräftiger Arm nach ihr gegriffen und sie gestützt hätte.

»Oh, ich danke sehr«, stammelte sie auf französisch, während ein heißes Rot an ihren Schläfen aufbrach. Der Herr, der einen Augenblick lang ihre Hand gehalten hatte, grüßte respektvoll und trat dann mit einer Verbeugung zurück. Es war ein hochgewachsener, schlanker Herr, der offenbar der besten Gesellschaftsklasse angehörte. Er war sehr elegant, vielleicht etwas gar zu modisch gekleidet. Er trug einen blonden Henriquatre in einem feingeschnittenen, etwas blassen Gesicht. Das Merkwürdigste an ihm aber waren die Augen – dunkle, faszinierende Augen, die ein paar Sekunden lang auf Margots Antlitz geruht hatten. Diese Augen, mußte sie unwillkürlich denken, würde man sobald nicht vergessen können, wenn man die Erscheinung des Mannes, der jetzt im bunten Gewühl der kleinen Bahnhofshalle verschwand, auch sonst nicht in der Erinnerung behielt. Aber es waren wohl keine guten Augen.

Inzwischen hatte sich die kleine Gesellschaft rasch wieder zusammengefunden, und man stieg nun die große Treppe zu den Gärten hinauf. Oben herrschte das bunteste Leben. Man war mitten in der Hochsaison, und das Wetter war köstlich. Vor dem großen Café am Platze waren alle Tische besetzt; drüben im Hotel de Paris war ein lebhaftes Gehen und Kommen; am hochgetürmten Kasino fuhr ein Wagen nach dem andern vor und die elegant gekleideten Insassen eilten die Freitreppe empor ins Innere. Es rauschte und knisterte von kostbaren Seidenschleppen, überall roch es nach Parfüms und türkischen Zigaretten. Wenn eine extravagante Damentoilette sich zeigte, ging ein Flüstern und Tuscheln an den Tischen des Cafés und zwischen den auf und nieder wandelnden Gruppen auf dem Platze hin. Man raunte sich Namen zu, mit leiser Stimme und vieldeutigem Lächeln wurden allerlei geheimnisvolle Geschichten erzählt. Der Uneingeweihte hätte selten zu unterscheiden vermocht, ob es sich da um eine französische Herzogin, die Gattin eines exotischen Millionärs oder eine Operettendiva handelte; echte und falsche Vornehmheit, Tugend und Laster wanderten hier bunt durcheinander. Man hörte alle Sprachen, man sah alle Altersstufen, alle Stände vertreten. Und alle, denen der gallonierte Lakai die breite Glastür des Einganges aufstieß, wurden von dem Geklimper der rollenden Goldstücke da drinnen wie von einer geheimnisvollen Macht angelockt.

Als sie das freskengeschmückte Vestibül betraten, wo ihnen lautes Stimmengewirr entgegenschlug, sah Margot wieder die Gestalt des Fremden, der ihr vorher den Coupetritt hinabgeholfen hatte und jetzt an eine der Säulen gelehnt stand, den Hut etwas zurückgeschoben, eifrig in eine Rechnung vertieft, die er mit einem goldenen Bleistift auf einer jener Tabellen notierte, wie sie in den Spielsälen üblich waren, um den launischen Lauf der Roulettekugel zu berechnen. Trotzdem sah er auf, als Margot vorbeikam, und wieder bohrten sich seine Augen mit jenem eigentümlich brennenden Blick sekundenlang in ihr Antlitz; Margot schalt sich selber, daß sie sich eines leichten Schauers dabei nicht erwehren konnte. Dieser Blick ging ihr durch und durch, und es war ihr, als drohe ihr irgendein Unheil daraus hervor. Ohne zu grüßen, ging sie rasch vorüber.

Die Säle, zu denen der blau livrierte Diener ihnen die Tür aufriß, waren dicht gefüllt mit Menschen. Ein betäubender Dunst schlug Margot entgegen. Es ging trotz des Menschenandranges auffallend still hier zu. Man hörte nur Flüstern derer, die um die dreifache Reihe der Spielenden her an den Tischen standen, von einem Tische zum andern gingen oder auf den Wanddiwans rechneten und Geld überzählten. Dazwischen das Klingen von Goldstücken, das schwirrende Rollen der umlaufenden Kugel, die dann mit hartem Ton einfiel, und die einförmigen Rufe der Croupiers, die in der Mitte der Tische einander gegenübersaßen und von einem auf erhöhtem Stuhl hinter ihnen sitzenden Beamten in all ihren Manipulationen überwacht wurden: »Faites votre jeu, messieurs! – Rien ne va plus!«

Margot überwand nur mit Mühe den Widerwillen, der sie jedesmal in diesen Räumen anfiel, und während die andern sich zu den grünen Roulettetischen begaben, ließ sie sich auf einen der Diwans nieder, die ringsum an den Wänden aufgestellt waren. Fast mit etwas Grauen sah sie zu den Spielern hinüber. Die Gesichter erschienen verzerrt zum Erschrecken. Mit welch fieberischer Spannung, mit welch heißer Gier hafteten alle diese Augen auf der sich drehenden Kugel, auf diesen funkelnden Goldstücken, diesen bläulichen Banknoten, die vor den Croupiers und den einzelnen Hauptspielern standen! Aller Lippen waren fest aufeinander gepreßt, nie wurde der kleinste Laut der Aufregung, der Freude, der Angst oder des Schrecks vernehmbar. Alle hatten sich in der Gewalt. Alle spielten wie »Leute von Welt«, und die es nicht wirklich waren, gaben sich durch die nonchalante Ruhe, mit der sie anscheinend gewannen oder verloren, wenigstens das Air, es zu sein; die Luft dieser Säle wirkte ansteckend. Nur ein Zucken der Lippen, nur das Glimmen der Augen verriet, was in diesen ihre Haltung so elegant bewahrenden Menschen vorging, welche Leidenschaften in ihnen wühlten. Und manchmal schlich aus dem Knäuel einer beiseite, um unbelauscht seinen Jammer, seine Reue, seine Verzweiflung auszustöhnen, während zwei Schritte von ihm auf einem der roten Plüschdiwans einer saß, der mit verklärten Mienen in seinem Schoß ein paar Hände voll Kassenscheine und Goldstücke überzählte – ein kleines Vermögen, das ihm der launische Zufall innerhalb einer einzigen Stunde zugeworfen. Und immer wieder dazwischen die Lockrufe der Croupiers: »Faites vos jeux!« Das Rollen der Kugel und das Schnarren des rateau, jener kleinen, zierlichen Holzschaufel, mit welcher der Croupier die verlorenen Einsätze der Spieler zu sich heranholte – immer wieder in einer nervenzerschneidenden Monotonie, Stunde um Stunde!

Margot hatte den Blick längst von dem widerwärtigen Schauspiel abgewendet und war in ihrer Einsamkeit in eine Art von Halbschlummer gesunken, währenddessen ihre Gedanken sich unaufhörlich mit Erich Holdheim und mit dem auf ihm lastenden rätselhaften Verhängnis beschäftigten.

Wie lange sie so gesessen, hätte Margot kaum zu sagen vermocht. Als ein zufälliges Geräusch in ihrer Nähe sie aus dem Traumzustande weckte, vermochte sie keinen aus ihrer kleinen Gesellschaft mehr in dem Gewühl an den Spieltischen zu erblicken. Sie mußten sich also in einen der anderen Säle begeben haben, denn daß Harro das Kasino verlassen haben sollte, ohne sich nach ihr umzusehen, war ausgeschlossen. Und es war jedenfalls am besten, hier, wo er sie zu finden wußte, auf seine Rückkehr zu warten.

Aber dieses Warten wurde Margot jetzt beinahe unerträglich, und eben ging sie mit sich zurate, ob sie nicht dennoch lieber in das Lesezimmer hinübergehen sollte, als ein Ereignis eintrat, das sie wie festgebannt auf ihrem Platze verharren ließ.

Ein dröhnender Knall, fast von der Stärke eines Kanonenschusses, war irgendwo in der Nähe ertönt, gefolgt von einem Klirren und Krachen wie von zersplittertem Glas und berstendem Holzwerk. Vielstimmiges Angstgeschrei klang von außen her in den Spielsaal herein und gab das Signal zu einer unbeschreiblichen Szene panischen Entsetzens.

Niemand hatte eine Erklärung für die Ursachen der Detonation; jeder aber war sogleich überzeugt, daß es sich um etwas Fürchterliches handeln müsse und daß sein Leben von höchster Gefahr bedroht sei.

Mit schreckensbleichen Gesichtern fuhren sie alle von ihren Stühlen empor, ohne die Gold- und Papiergeldhaufen, die vor ihnen lagen, in ihrer wahnsinnigen Eile mit aufzuraffen. Mit Gekreisch hasteten die geputzten und geschminkten Weiber den Ausgängen zu – ja, einige von ihnen machten sogar Miene, aus den Fenstern zu springen. Einzig die Croupiers blieben auf ihren Plätzen und warfen sich mit ihren Leibern über die Tische, auf denen das rote Gold und die bläulichen Frankscheine verstreut lagen, wie todesmutige Kämpfer, die ihr höchstes Palladium mit dem eigenen Körper decken.

Mit dem Aufgebot ihrer ganzen Willenskraft schüttelte Margot den ersten Schrecken von sich ab. Nur von dem Gedanken an ihren Bruder und von der Sorge um ihn erfüllt, erhob sie sich, um gleich den andern den Ausgang zu gewinnen.

Da hörte sie dicht hinter ihrem Rücken eine leise, höfliche Stimme, die in beruhigendem Tone sagte:

»Fürchten Sie nichts, mein gnädiges Fräulein! – Wenn es hier überhaupt eine Gefahr gegeben hat, so ist sie bereits vorüber. Ein Unglücklicher, den die Spielbank ausgeplündert hatte, hat seine Rache an ihr nehmen wollen, indem er eine Dynamitbombe oder etwas Ähnliches in das Vestibül des Kasinos warf. Aber er hat damit nur den unschuldigen Portier verwundet und einigen Schaden an Türen und Wänden angerichtet. Nach Verlauf einer Viertelstunde wird das Spiel hier seinen Fortgang nehmen, als wäre nichts geschehen.«

Der Fremde vom Bahnhof war es, der in ehrerbietiger Haltung vor ihr stand und ihr mit einem gewissen überlegenen Humor diese Mitteilungen machte. Margot fühlte etwas wie ein abergläubisches Grauen angesichts dieser seltsamen Zufallsfügung, die den Mann immer wieder in ihren Weg führte. In diesem Augenblick aber mußte sie sich ihm jedenfalls zu Dank verpflichtet fühlen und durfte ihm keine andere als eine freundliche Miene zeigen.

»Ich danke Ihnen, mein Herr! Und Sie sind ganz sicher, daß sonst niemand zu Schaden gekommen ist? – Mein Bruder befindet sich nämlich hier irgendwo im Kasino, und ich bin in tödlichster Angst um ihn.«

»Sie dürfen seinetwegen vollkommen beruhigt sein! Außer jenem Beamten hat niemand auch nur die allergeringste Verletzung davongetragen. – Aber, wenn es mir gestattet ist, zu fragen: Gleicht Ihr Herr Bruder dem gnädigen Fräulein?«

»Man sagt – etwas«, erwiderte Margot mit leichtem Erröten.

»Ich frage das nicht aus vordringlicher Neugier. Aber ist Ihr Bruder vielleicht der junge, schlanke Herr, der sich mit in Ihrer Begleitung befand, als Sie das Kasino betraten?«

»Ja«, versetzte Margot. »Und Sie haben ihn nachher wiedergesehen?«

»Jawohl. Er war in den Spielsälen und hat sie in Begleitung einer Dame vor längerer Zeit verlassen.«

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

»Ganz. Ich könnte Ihnen die Dame schildern. Ich könnte sogar – aber ich fürchte, Sie würden mich schließlich für einen Detektiv halten.« Er lächelte. »Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß die Dame nicht mit zu Ihrer Nizzaer Gesellschaft gehörte, sie wohnt hier. Vielleicht also eine zufällige Wiederbegegnung, über die Ihr Herr Bruder dann versäumt hat, Sie zur rechten Zeit zum Bahnhof abzuholen.«

Nun mußte auch Margot lächeln. »Wirklich, Sie haben eine merkwürdige Kombinationsgabe«, sagte sie und gestand sich selber ein, daß er sie beruhigt hatte, weil seine einfache Erklärung offenbar das Richtige getroffen.

Sie waren inzwischen fast die letzten im Saale geworden, und als der Fremde um die Erlaubnis bat, ihr bei dem Suchen ihres Bruders behilflich sein oder ihr bis zu seiner Rückkehr Gesellschaft leisten zu dürfen, konnte Margot es ihm unmöglich abschlagen. Er geleitete sie hinaus, und ehe sie sich's versah, waren sie in eine lebhafte Unterhaltung geraten, bei der sie bald inne wurde, daß der Fremde ein anregender Plauderer war. Er war offenbar viel in der Welt umher gekommen. Ein gewisser skeptisch-blasierter Zug war häufig in dem, was er sagte, aber was Margot hiermit versöhnte, war ein immer wieder in ihr aufsteigendes Gefühl, daß er selbst im Grunde diesen bedauerte. Sie erhielt von ihm den Eindruck eines interessanten Mannes. Beinahe hätte sie dabei Harro übersehen, der heranstürmte, sehr erhitzt, den Hut im Genick, mit unsteten Blicken vor sich hinstarrend. Er wollte eben in das Kasino eintreten, als der Fremde auf ihn zutrat.

»Verzeihen Sie, Ihr Fräulein Schwester erwartet Sie schon seit einer Weile.«

Harro sah den Sprecher überrascht und zerstreut an, lächelte dann verlegen, dankte mit einer halben Verbeugung und schritt rasch auf Margot zu, die ihm entgegenkam. Der Fremde machte eine tiefe Verbeugung vor Margot und war in dem Augenblick, wo Margot ihrem Bruder zuflüsterte: »Bedanke dich bei ihm; er hat sich meiner sehr ritterlich angenommen, während ihr mich alle im Stiche ließet«, und Harro sich zu ihm umwenden wollte, bereits im Gewühl verschwunden.

»Wer war's denn?« fragte Harro. »Ich erinnere mich doch nicht –«

»Er hat mir seinen Namen nicht genannt, mir aber heute schon zweimal einen Dienst geleistet.«

»Nun, wir begegnen ihm schon noch einmal wieder und dann hol' ich meinen Dank nach. Aber jetzt laß uns draußen einen Wagen nehmen. Der Zug geht erst in anderthalb Stunden wieder. Ich habe keine Lust, so lange zu warten, der Abend ist ja mild. Es wird eine herrliche Fahrt werden.«

Margot hielt den Arm ihres Bruders zurück. »Die Wagen sind sehr teuer, Harro – wir haben ja nichts zu versäumen –«

»Ach, du Philisterseele«, lachte er unmutig auf. »Ich hab' heute gewonnen, du, ich darf's mir schon erlauben. Die Spielbank bezahlt's. Und ich brauch's, verstehst du? Ich kann jetzt nicht in ein enges Coupé kriechen und mit lauter gleichgültigen Leuten zusammenhocken. Ich muß frische Luft haben. So eine schellenklingelnde Fahrt jetzt durch die Nacht und an dieser paradiesischen Küste entlang – das ist was anderes, das klingt morgen vielleicht schon in einer Komposition wieder und bringt sich dann hundertfach ein – auch in Gold. Ach, Margot, wenn du doch ein klein bißchen Künstlerblut in den Adern hättest!«

Sie bestiegen einen offenen, leichten Korbwagen, dem zwei mit Schellen und Fuchsschwänzen am Zaumzeug aufgeputzte muntere Pferde vorgespannt waren. In der nächsten Minute stoben sie die Straße nach Condamine hinunter.

»Du bist eigentlich schrecklich böse auf mich?« fragte Harro, dem die tolle Fahrt sichtlich behagte. Und als Margot nicht gleich etwas erwiderte, fügte er hinzu: »Ja, ja, du hättest ja auch eigentlich allen Grund dazu. Es war unverantwortlich. Aber wenn du wüßtest –! Wenn du wüßtest –!«

Sie sah erst jetzt, wie erregt er war. Ein irres Zucken lief ihm um Augen- und Mundwinkel. Dies unglückselige Spiel! Wenn er nur davon hätte lassen wollen! Aber jetzt, wo er einmal wieder gewonnen hatte, war darauf wohl am wenigsten zu rechnen. »Beruhige dich nur«, sagte sie, »es ist ja jetzt alles gut.«

Er hörte gar nicht auf sie. Er schob seinen Hut noch weiter ins Genick zurück und schaute mit verklärten Augen auf den Felsen von Monaco hinüber, der zu ihrer Linken mit schroff abfallenden Ufern, von Lichtern märchenhaft übersät, sich ins nächtige Meer vorreckte.

»Ah!« sagte er, »die Welt ist schön, du, nicht? Wenn's nur nicht so verrucht zuginge in eben dieser schönen Welt!« Er griff nach ihren Händen und murmelte: »Wie ich sie liebe, Margot – ah, du kannst dir keinen Begriff machen, wie ich sie liebe! Bis zum Wahnsinn!«

»Also doch!« sagte Margot mit tiefem Erschrecken.

»Was soll das heißen: also doch?« fragte er überrascht.

»Es soll heißen, daß ich längst geahnt habe, irgend eine unglückliche Leidenschaft müsse die eigentliche Ursache deiner Krankheit sein.«

»Du kluges Schwesterchen – ja, ich leugne nichts mehr. Und wenn das nicht wäre, glaubst du, ich fragte auch nur so viel nach dieser vermaledeiten Erbschaft, die ich am liebsten ihnen vor die Füße würfe, weil es mir im Innersten widerstrebt, jetzt die Hand nach dem Hab und Gut dessen auszustrecken, der im Leben von uns nichts hat wissen wollen und der uns von seinem Hab und Gut keinen roten Heller zugedacht hat und gönnen würde? Und glaubst du, ich spielte dann? Was frag' ich viel nach Geld? Aber ich muß ja reich werden – sehr, sehr reich – so oder so. Und bald – bald!«

Er lehnte sich matt, mit geschlossenen Augen zurück.

»Kannst du mir nicht alles sagen, Harro?« fragte Margot nach einer Weile leise und ihre Hand strich über seine Stirn hin.

Er nickte träumerisch. »Gewiß. Warum nicht! Du hast recht. Dir kann ich ja alles sagen – dir.« Er schaute wieder um sich, auf die steilen Felswände zur Rechten, und sagte, während es im gestreckten Lauf weiterging und schon die Lichter von Eza aus der Höhe herab funkelten: »Wie soll ich dir das freilich klarmachen, Margot? Du – du wirst das doch nicht ganz verstehen. Du hast ja noch nie geliebt und bist einer so wahnsinnigen Liebe auch wohl schwerlich fähig. Das darf dich nicht kränken, wenn ich's sage. Die Naturen sind eben verschieden. Du bist kühl und sanft. Während ich – ich – siehst du, Margot, Eisenketten könnt' ich zerreißen, um dies Mädchen zu erobern. Aber in unserem Zeitalter gibt's keinen Krieg gegen Drachen und Ungetüme mehr. Geld, Geld ist alles. Wer über diese Macht gebietet, ist unwiderstehlich, ist der geborene Herrscher. Das ist schnöde, aber man kann die Welt nicht anders machen, als sie ist.«

Er versank wieder in sein Grübeln und schien vergessen zu haben, was er ihr hatte erzählen wollen.

»Man will dir das Mädchen, das du liebst, nur geben, wenn du reich bist?« fragte Margot endlich.

Harro antwortete nicht gleich. Sein Blick schweifte traumverloren über die Meeresbucht hin. Dann fing er plötzlich an: »Ich hab' sie auf meiner letzten Konzerttournee in Mailand kennengelernt, als ich mit Lovati zusammen in der dortigen Philharmonie auftrat. Man hatte uns sehr gefeiert – Lovati ist geborener Mailänder und sein geniales Klavierspiel riß die Menschen hin –, ich bekam nur so meinen Teil mit ab, aber ich war doch wie berauscht von diesem Beifall. Das ist etwas anderes als bei uns, das vibriert in allen Nerven nach. Unter all den Frauen, die sich nach dem Konzert an uns herandrängten, um uns zu huldigen, war sie nicht. Sie stand ganz allein abseits und sah stolz und kalt aus – unnahbar. Vielleicht gerade deshalb betrachtete ich sie. War das eine Schönheit! In Mailand sind überhaupt wohl die schönsten Frauen der Welt zu Hause. Aber die – so etwas hatt' ich noch nie gesehen. Ich war ganz starr. Eine griechische Statue aus der Blütezeit der Kunst. Nachher wurde ich ihr vorgestellt; Eugenia Caraffa, die Tochter des Principe Caraffa. Ich glaube, wir haben keine zwanzig Worte an jenem Abend gewechselt. Aber wie ein Trunkener kam ich in meinen Gasthof zurück. Keinen Augenblick zweifelte ich daran, daß diese Begegnung ein Schicksal für mich gewesen war und über mein ganzes Leben entschieden hatte.«

Harro fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. »Du verstehst das nicht, Margot. Aber es ist wie ein blitzartiges Erkennen. Und man weiß nicht nur, daß man die gefunden hat, die einem bestimmt ist, man weiß auch, daß man nicht mehr ohne sie leben kann. Ich will's kurz machen. Es erging Eugenia nicht anders als mir. Alle Liebe ist ja wechselseitig oder es ist überhaupt die echte nicht. Als ich sie wiedersah, sagte ich ihr, wie es um mich stand. Ich glaube, wir hatten uns noch nicht viel weiteres gesagt, als daß ich einer von den wenigen Geigern sei, die Bach in Italien zu spielen wagten, und daß der Erfolg mein Wagnis belohnt habe. Sonst wußten wir eigentlich gar nichts voneinander. Aber wenn es sonst kein Hindernis gegeben hätte, wären wir beide bereit gewesen, sofort zum Traualtar zu gehen. Du lachst?«

»Nein, mir ist gar nicht zum Lachen zumute. Armer Harro, möcht' ich vielmehr sagen.«

»Warum?«

»Die Tochter eines Fürsten – und du?«

Er schnippte mit den Fingern. »Wenn es nur das wäre! Ein berühmter Künstler steht mindestens ebenso hoch da wie ein Principe. Der eine hat seinen Fürstentitel durch die Geburt, der andere erwirbt ihn sich aus eigener Kraft durch sein Genie. Das größere Verdienst ist also auf seiner Seite. Aber berühmt muß man freilich werden, die Welt muß sich vor einem beugen, dann beugen sich auch die Fürsten. Und ich weiß, ich fühle, daß ich es werden kann, daß es in mir steckt. Begreifst du nun, wie das ist, wenn man unter solchen Verhältnissen plötzlich aus seinem Fluge herausgerissen wird, wenn einem da plötzlich die Flügel gestutzt werden? Und das ist ja noch lange nicht alles. Da greift immer eins ins andere ein. Wegen dieser unglückseligen Dinge bin ich krank geworden – aus Aufregung, aus Überarbeitung, aus übertriebenem Ehrgeiz. Und weil ich krank bin, kann ich weder berühmt werden noch Geld verdienen – viel Geld, Berge von rotem Gold, wie sie sonst die großen Geiger oft in einem einzigen Jahre um sich häufen – besonders da drüben im Dollarland. Also die Erbschaft oder das Spiel! Auf etwas anderes kann ich nicht mehr rechnen. Und zu langem Warten ist auch keine Zeit mehr. Gesund werd' ich erst, wenn ich's endlich erreicht habe, wenn Eugenia endlich mein ist. Darin hat der alte Leuthold recht: erst dann – oder gar nicht.«

»Wie du dich wieder aufregst, Harro!« sagte Margot begütigend. »Und ich habe dabei noch gar nicht einmal erfahren, was das für ›unglückselige Dinge‹ sind, von denen du redest, und warum du durchaus reich sein mußt. Der Fürst ist arm?«

»Nicht allein das – das ginge ja hin. Dann hätt' er mir nichts vorzuwerfen. Aber – kurz und gut: der Fürst Caraffa hat durch gewagte Spekulationen, mit denen er, wie heute so viele Träger altberühmter Geschlechter in Italien, das arg zusammengeschmolzene Familienvermögen mit einem Schlage wieder auf die Höhe bringen, etwa verhundertfachen wollte, vollständig eingebüßt. Aber damit nicht genug – er hat gleichzeitig ihm anvertraute Gelder, die er bei jenen Spekulationen gebrauchte und die man ihm um so bereitwilliger herlieh, als er selbst von der Sicherheit seines Erfolges durchdrungen, auch andere davon zu überzeugen wußte, mit eingebüßt und andere in bitteres Elend gebracht. Der große Finanzkrach, das plötzliche Aufhören der fieberhaften Bauwut in Italien haben allein die Katastrophe verschuldet. Auf der Ehre des Fürsten haftet nicht der leiseste Makel dabei. Alles ist vor sich gegangen, wie es gesetzlich zulässig war, und im besten Glauben; keiner von den Geschädigten erhebt irgend welche Ansprüche an ihn oder könnte das tun. Aber der Fürst selber empfindet es auch ohne jede gesetzliche Nötigung als seine Pflicht, jedem das Seinige mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten. Das ist zum Zweck und Inhalt seines ganzen Lebens geworden.«

»Der Fürst ist ein Ehrenmann«, sagte Margot mit Wärme.

»O ja, ja«, fiel Harro zögernd ein und ein bitteres Zucken ging um seine Lippen. »Das geb' ich ja zu, und du würdest es ebenso machen, das weiß ich. Ich vielleicht auch. Nur daß der Fürst bei alledem eben einzig an sich selber denkt, daß mein – unser Lebensglück darüber vielleicht in Scherben bricht!«

»Das begreife ich noch immer nicht ganz.«

»Und es ist doch einfach genug, Kind. Eugenia ist ihres Vaters einziges Kind. Sie teilt seine Anschauungen und wird ihm freudig zur Seite stehen, bis er seine Lebensaufgabe erfüllt hat. In diesem Mädchen lebt der ganze Stolz ihres alten Geschlechts. Wenn der Vater nicht so dächte und handelte, wie er nun wirklich tut, ich glaube, sie täte es – sie für sich allein. Und nun gibt es nur den einen einzigen Ausweg: reich werden! Der Fürst fiebert vor Verlangen danach, er ist beherrscht, besessen von diesem einzigen Gedanken. Und immer fürchtet er dabei, es nicht mehr zu erleben, denn er ist alt und gebrechlich darüber geworden. Und was hat er schon alles versucht und begonnen, um ans Ziel zu kommen! Daß es auf die gewöhnliche Weise nicht geht, zumal er fremde Kapitalien, selbst wenn sie ihm angeboten würden, um keinen Preis mehr zu Spekulationszwecken anrühren würde, liegt auf der Hand. Schließlich – nun, was sollte er denn schließlich tun? Hier heiligt der Zweck wohl wirklich die Mittel. Er spielt.«

Harro wartete auf etwas, das Margot zur Antwort geben würde, aber Margot schwieg. Sie fuhren jetzt am Hafen von Villefranche vorüber, und das Schweigen der einbrechenden Nacht lag um sie her.

»Das empört dich, nicht wahr?« fragte Harro. »Aber sage mir, was sollte er sonst tun?«

»Ich verdamme nicht so leicht einen Menschen«, erwiderte Margot leise.

»Erst hat er's im Lotto versucht – dann in den vornehmen Mailänder Klubs, wo oft in einer Nacht Vermögen gewonnen und verloren werden – zuletzt – jetzt in Monte Carlo.«

»Und – er gewinnt?«

»Vorläufig spielt er mit wechselndem Glück, wie das meist so geht. Aber er ist fest davon überzeugt, daß er in kürzester Frist seine Hauptschläge machen wird. Er hat sich sozusagen eine fixe Idee gebildet. Er ist Systemspieler.«

»Was versteht man darunter?«

»Diejenigen, die nach einem vorher genau berechneten Plan pointieren, nicht nach Laune und blinder Eingebung.«

»Aber das Zufallsspiel der Kugel läßt sich ja nicht berechnen!«

»Sie behaupten es. Sie wollen auf Grund längerer Erfahrung und vielfacher Versuche gewisse Regeln herausgefunden haben, nach denen die Entscheidung der Kugel sich bestimmen läßt.«

»Und du glaubst daran?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Fürst weiß, einem das so plausibel zu machen. Es gibt ja überhaupt keinen Zufall in der Welt, meint er. Er ist fest überzeugt davon, daß er früher oder später die Bank sprengen wird – daß er langsam aber sicher zum Ziel gelangen muß.«

»Das hat er damals, wie du sagst, bei seinen Spekulationen auch geglaubt, und doch sind sie fehlgeschlagen!«

Harro nickte nachdenklich. »Du hast ganz recht, aber wenn man ihn so hört – und am Ende: versucht muß es ja doch werden. Was soll er sonst tun, frag' ich immer wieder. Er hat sich in diese Hoffnung völlig verbohrt. – Wenn er sich auch diesmal wieder getäuscht sähe, wer weiß, ob er es überlebte. Deshalb ist's an mir, hier ein Ende zu machen. Begreifst du? Wenn diese verwünschte Erbschaft mein ist, geb' ich sie bis zum letzten Heller hin, um den Fürsten von seinen Verpflichtungen frei zu machen und mir Eugenia zu erringen. Denn eher als bis das verlorene Geld ganz zurückerstattet und damit jeder Makel auf der Namensehre des Hauses Caraffa völlig getilgt ist, geht Eugenia nicht von der Seite ihres Vaters. Dort auszuharren erscheint ihr als die höhere Lebenspflicht – die schwerere Pflicht ist ja fast immer im Leben die höhere –, und sie würde es für frevelhaften Egoismus halten, jetzt an ihr eigenes Glück zu denken. Und nun wirst du endlich begreifen, was alles für mich mit dieser Erbschaft auf dem Spiel steht! Für mich brauche ich sie ja nicht. Bin ich wieder gesund, so kann ich mir in wenigen Jahren ein Vermögen zusammengeigen – das fühl' ich.

Aber ich muß Eugenia damit erlösen. Und dann erreiche ich mit einem einzigen Schlage alles, dann werd' ich wieder gesund, kann in glücklicher Ruhe schaffen. Und dann will ich auch nie mehr spielen – das versprech' ich dir, Schwesterherz. Und der Fürst wird nie mehr spielen. Wir werden diesem prächtigen alten Herrn, der so viel gelitten hat, einen friedlichen Lebensabend bei uns bereiten. Also die Erbschaft, die Erbschaft! Jetzt siehst du ein, wie nötig ich sie brauche, nicht? Und daß es wahrhaftig nicht Geldgier und Eigennutz ist, wenn ich danach fiebere.«

»Sie ist dir ja so gut wie sicher, Harro.«

»Meinst du?« Er blickte sinnend auf das Lichtmeer von Nizza herab, das jetzt, als sie die herrliche route de Villefranche hinabjagten, unter ihnen, zwischen Meer und Berghöhen eingeschmiegt, funkelte. »Mir ist immer, als käme noch etwas dazwischen. Ich hab' so eine Ahnung, als ob der hartherzige Mann auch im Grabe uns sein Hab und Gut nicht gönnte, weil wir die Kinder des Mannes sind, der ihm sein Einziges geraubt hat, was er im Leben besaß – denn was hatte er sonst? Geld macht ja doch nicht glücklich.«

»Und weißt du, was ich glaube, Harro?« fiel Margot ein. »Er hat bloß deshalb sein letztes Testament heimlich selbst wieder vernichtet, damit wir die Erben werden.«

»Warum nicht gar? Das hätt' er einfacher haben können.«

»Das wohl. Aber er wollte es nicht schwarz auf weiß eingestehen, wollte um keinen Preis weich und versöhnlich erscheinen. Er hatte sich nun einmal in diese unnatürliche Hartherzigkeit hineinverbissen und fand sich da niemals wieder heraus, so gern er auch gewollt hätte. Denn das glaub' ich, daß er im Grunde seines Herzens sich gern wieder mit unserer Mutter oder uns ausgesöhnt hätte, wenn es der Meyburgsche Stolz nur hätte erlauben wollen. In Einsamkeit und mit sich selbst zerfallen ist der Alte gestorben. Und vorher, denk' ich mir, hat er das Testament noch zerrissen und sich gesagt, das wenigstens wolle er für die Kinder seiner verlorenen Tochter tun, das dürfe er, ohne sich zu demütigen.«

»Du bist ja eine wahre Hellseherin, Margot«, sagte Harro lächelnd.

»Es ist schön, das zu denken, Harro, nicht? Laß mir diese Einbildung – wenn's weiter nichts ist. Und ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, daß mein Anteil an der Erbschaft ganz zu deiner Verfügung ist. Dein Glück und deine Gesundheit stehen auf dem Spiel – damit ist alles für mich entschieden.«

Er drückte ihr warm die Hand. »Ja, ich weiß, du würdest mehr für mich tun als das, Margot. Bist ja immer der Genius meines Lebens gewesen. Und von dir nehm' ich auch jedes Opfer an, ohne daß es mich beschwerte. Ich bin eigentlich ein schrecklicher Egoist, nicht? Künstler sind's immer ein bißchen, glaub' ich, und du hast mich verwöhnt. Und wenn du nun erst Eugenia kenntest –«

»Ich möchte sie kennenlernen, Harro. Sie muß stolz und mutig sein. Warum hast du mich ihr nicht zugeführt? Wir beide wollen doch Schwestern werden, hoff' ich. Und du wußtest, daß sie in Monte Carlo ist?«

»Nein, nein, das wußt' ich nicht«, fiel er lebhaft ein. »Nun wirst du meine Erregung begreifen. Wir stehen ja in keinem äußeren Zusammenhange miteinander. Eugenia will nicht, daß ich mich bei der Aussichtslosigkeit unserer gegenseitigen Neigung gebunden fühlen soll – sie will mich glauben machen, ich sei frei. Du siehst, wie recht du hast: sie ist stolz. Und sie will auch keine Heimlichkeiten. All ihr Denken und Wollen soll nur dem einen Ziel gehören. Ich wußte also gar nicht, daß sie mit dem Fürsten nach Monte Carlo gegangen war. Und nun stell' dir vor, wie mir zumute wurde, als ich heute ahnungslos den Maurischen Saal betrat und an einem der Tische den Fürsten sitzen sah – hinter seinem Stuhl, schwarz gekleidet, blaß und schön wie nur je, Eugenia! Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien. Und nun sich vor all den andern, die lachend und tuschelnd um mich herumstanden und ihre traditionellen Witze machten, genieren zu müssen, während ich doch hätte zu ihr hinstürzen mögen und alles in mir jubelte und wehklagte zugleich – es war ein furchtbarer Augenblick! Und dann endlich gelang's mir, mich von den anderen freizumachen, mich ihr zu nähern und nachher mit ihr und dem Fürsten unbemerkt den Saal zu verlassen. Draußen erfuhr ich dann, was ich noch nicht wußte. Daß ich darüber dich und die Stunde der Abfahrt vergaß, wirst du nun begreifen. Und bei der nächsten Gelegenheit mach' ich euch natürlich miteinander bekannt, ich wünsche ja selbst nichts sehnlicher. Du wirst sie auch lieben, Margot, denn sie ist das anbetungswürdigste Geschöpf unter der Sonne.«

Margot drückte schweigend seine Hand. Sie hatten die Stadt inzwischen erreicht und hielten jetzt vor der Gartenpforte der Villa Erminia. Hier war tiefer, wohltuender Friede. Durch die Stille kamen die Töne eines Klaviers leise und wie im Windhauch verschwimmend herüber. Harro blieb einen Augenblick lauschend stehen.

»Seltsam!« sagte er. »Ich habe noch nie hier in der Nachbarschaft vorher ein Klavier gehört. Und was das nur für ein Stück sein mag! Ich kenne es gar nicht. Eine merkwürdig schwermütige Melodie.«

»Ich liebe dich; – du hast es nicht gewußt,
Ich liebe dich, den Tod schon in der Brust,
Ich liebe dich und weiß: es darf nicht sein,
Doch tief im Herzen bist du ewig mein –«

»Es ist ein kapresisches Volkslied«, sagte Margot, »oder doch Variationen darüber.« Das Blut war ihr plötzlich in die Wangen geschossen. Sie mußte an den einsamen, verfemten Mann in der Nachbarvilla denken. Ob er es war, der dort drüben spielte?

Als Margot in ihr Schlafzimmer kam, dessen einer Fensterflügel noch offen stand, hörte sie ganz deutlich, daß das Klavierspiel aus der Villa La Paix herüberklang. Sie blieb eine Weile, an das Fensterkreuz gelehnt, in tiefen Gedanken stehen. Klagte Erich Holdheim sein verschwiegenes Weh in diesen Tönen aus?

Sie hatte während der Abendmahlzeit Harro von ihm erzählt, aber der hatte heute wenig Interesse für den geheimnisvollen Nachbar bekundet und nicht recht begriffen, welchen Anteil Margot an ihm und seinem Schicksal nahm. Margots Herz aber war voll Mitleid für Erich Holdheim. Und noch als das Klavierspiel drüben lange verstummt war, ging der verdüsterte Blick seiner Augen ihr nach in Schlaf und Traum.

Der Major von Jorell hatte ein Picknick bei La Turbie arrangiert. Der Morgen war herrlich, die Luft klar und frisch; die Berge lagen in bläulichem Duft und das Meer glatt wie ein unendlicher Spiegel. Überall wehten Hauch und Duft des beginnenden Frühlings, der die Mandelbäume draußen mit weißem, die Pfirsiche mit rötlichem Blütenschimmer überschüttet hatte. Zu Wagen, zu Esel und zu Fuße war man hinausgezogen. Die Straße stieg langsam bergan, und immer reizvoller gestaltete sich der Rückblick auf die leuchtende Stadt, die drunten im Schmuck ihrer blühenden Gärten lag, und auf die Küste, die das azurblaue Meer mit weißen Schaumstrichen umrandete. Fern im Westen blinkten die Zacken des Esterel-Gebirges wie phantastische Wolkengebilde herüber, und in der reglosen Flut schwammen die Iles de Lérin, als ob es die Eilande der Seligen wären, von denen so viele Dichter geträumt und gesungen. In leuchtender Helle spannte über alledem der südliche Himmel sich aus.

Margot war unter denen, die zu Fuße emporstiegen. Es tat ihr wohl, ihre Brust sich in dieser reinen Luft hier oben weiten zu lassen, und sie hatte es gern, nach Lust und Laune stehenbleiben, Blumen pflücken oder sich an dem köstlichen, immer reicher sich aufrollenden Landschaftsbilde weiden zu können.

Manchmal hätte sie laut in all die Herrlichkeit hinausjauchzen mögen, so schwellte es ihr die Brust. Waren die Sorgen doch vor den frohen Hoffnungen, die nun geweckt worden, fast geschwunden. Harro fühlte sich seit dem Wiedersehen mit der Geliebten schon sichtlich freier und gesünder, die Gereiztheit und Unstete seines Wesens schienen gewichen zu sein, und man konnte selbst ohne ärztlichen Scharfblick voraussehen, daß er in der glücklichen Vereinigung mit der verlorengeglaubten Gesundheit auch Schaffenskraft und Seelenruhe gleichzeitig zurückgewinnen werde. Und dieser Vereinigung stand, sobald er die großväterliche Erbschaft angetreten, ja nichts mehr entgegen. So waren die dunklen Wolken, die ihren Lebenshorizont umdroht hatten, denn rasch wieder im Schwinden.

Wenn sie nur auch jenem anderen hätte helfen können, dessen Bild sie unablässig verfolgte! Auch jetzt, mitten in all der Herrlichkeit dieses südlichen Wintermorgens, mußte sie seiner gedenken, und es war ihr recht, daß sie eine geraume Weile schon allein geblieben war, während die munteren Stimmen der anderen von rechts her aus dem umbuschten Hügelland erschollen, wo man auf einem Richtsteig die großen Windungen der Fahrstraße abschneiden wollte und gleichzeitig auf allerlei wilde Frühlingsblumen gestoßen war, deren Entdeckung hellen Jubel hervorrief; sie konnte so ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Erst der klappernde Hufschlag eines auf der harten Straße bergan trabenden Pferdes schreckte sie aus ihrem Sinnen empor. Sie trat zur Seite, um den Reiter vorüberzulassen, als der neben diesem her jagende Hund sie plötzlich aufblicken ließ. »Herr Holdheim!«

Der Reiter hatte sein Tier schon gezügelt und den Hut gezogen. »Fräulein von Detten!« Ein Ton unverhohlener Freude zitterte in seinem Ausruf. In der nächsten Sekunde war er gewandt aus den Bügeln geglitten und stand, die Zügel des Pferdes um sein Handgelenk gewickelt, vor ihr. »Welche Überraschung! Aber Sie sind nicht allein«, setzte er mit einem scheuen Aufhorchen hinzu, und ein Schatten flog über sein Gesicht.

»Nein, in großer Gesellschaft. Nur zufällig etwas nachgeblieben. Aber Sie –? Ich glaubte schon, Sie kämen nie aus Ihrem verzauberten Schlosse heraus.«

»O doch«, sagte er mit einem schwermütigen Nicken. »Es treibt mich oft gewaltsam in die Weite hinaus. Ich mache dann stundenlange Spazierritte – besonders morgens, wenn die Straßen zumeist unbelebt sind. Ich ersticke sonst. – Sie wollen nach La Turbie hinauf?«

»Ja. Und Sie könnten mit uns kommen.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie meinen es gut, Fräulein von Detten, aber Sie vergessen, daß ich unter jene Gesellschaft dort nicht mehr gehöre.« Er blickte düster vor sich nieder, während sein Falbe neben ihm den weißen Wegstaub mit den Füßen aufscharrte. Eine Weile schwieg Margot. Es war ihr, als habe sich eine Wolke plötzlich vor die Sonne geschoben. Eine Frage lag ihr auf der Zunge, eine Bitte drängte sich ihr vom Herzen herauf, aber sie wagte sich nicht über ihre Lippen. »Wenn er doch nur reden wollte!« dachte sie. »Und warum hat er kein Vertrauen zu mir? Weiß er denn nicht – fühlt er nicht, wie gern ich ihm helfen – ihm seine Last tragen helfen möchte?«

Von rechts her aus der Höhe klang plötzlich die Stimme Harros, der heute übermütig war, wie sie ihn seit langem nicht mehr gekannt hatte. Er rief ihren Namen. »Wo steckst du? Komm herauf!«

»Komm du lieber herab!« rief Margot zurück und sah Erich Holdheim fest ins Auge. Er war leise zusammengezuckt.

»Ich möchte, daß Sie meinen Bruder kennenlernen. Er weiß alles von Ihnen.«

»Alles?« wiederholte er mit einem ungläubig bitteren Lächeln.

Noch etwas Weiteres hinzusetzen war keine Zeit, denn Harro teilte eben schon die Büsche an der Hügelwand auseinander und fragte herab: »Was gibt's denn hier?« Dann, als er Erich sein Pferd am Zügel neben Margot herführen sah, sprang er vollends hinunter. »Das ist sicherlich Herr Holdheim«, sagte er und bot Erich lächelnd die Hand, »nicht wahr? Margot hat Sie mir so treffend geschildert, Herr Holdheim.«

»Erraten!« rief Margot errötend, während Erich stumm blieb und die dargebotene Hand nur flüchtig berührte.

»Ich weiß, daß wir Nachbarn sind«, fuhr Harro fort, »und ich denke, von meinem Nachbarrecht bald ausgiebigen Gebrauch zu machen und Sie in Ihrem Dornröschenschlosse heimzusuchen. A propos – da fällt mir ein: Sind am Ende gar Sie der Klavierspieler mit dem schwermütig-reizvollen La-la-la-la –?« Er trällerte die Melodie des kapresischen Liedes.

»In der Tat«, sagte Erich leicht verwirrt. »Hoffentlich stört Sie mein dilettantisches Spiel nicht.«

»Oh«, lächelte Harro, »Sie werden selbst recht gut wissen, daß es mehr ist als das. Aber was für einen herrlichen, volltönenden Flügel Sie haben müssen! Beneidenswert! Wenn ich denke, an welchem kläglichen Klimperkasten ich meine Kompositionen probieren muß! Es bringt mich oft um die ganze Stimmung.«

»Ich stelle Ihnen meinen Steinway selbstverständlich jederzeit zur Verfügung, Herr von Detten, Sie würden vollkommen ungestört sein.«

»Sie sind zu liebenswürdig – ich kann das ja kaum annehmen –«

»Sie verkürzen oder belästigen niemand dadurch. Ich selbst spiele niemals bei Tage. Ich würde Auftrag geben, daß man Sie ohne weiteres ins Musikzimmer führt. Sie würden niemand zu sehen oder zu sprechen brauchen.«

»Das klingt wirklich sehr verlockend, trotzdem –«

Ein Zucken ging über Erichs Antlitz. »Ich habe dabei freilich vorausgesetzt, daß Sie sich nicht scheuen, mein Haus zu betreten, Herr von Detten. Es steht samt seinen Bewohnern in üblem Leumund.«

Harro lachte, wenn auch sein Lachen nicht ganz so frei klang wie vorher. »Ich bin nicht ängstlich. Aber da höre ich die anderen nach mir rufen. Sie kommen doch mit uns, Herr Holdheim? Wir sind eine vergnügte Gesellschaft.«

»Eben deshalb möcht' ich nicht stören«, fiel Erich ein, der stehengeblieben war. »Ich passe nicht unter fröhliche Menschen. Ich wiederhole mein Anerbieten von vorhin, Herr von Detten. Gnädiges Fräulein – Herr von Detten – ich habe die Ehre. Ich würde mich freuen, wenn ich ›Auf Wiedersehen!‹ sagen dürfte.«

»Das dürfen Sie sicher«, sagte Harro mit Wärme, während Margot nur ihre Blicke für sich sprechen ließ.

Erich hatte sich in den Sattel geschwungen, grüßte noch einmal freundlich herab und war im nächsten Augenblick im Galopp davongesprengt.

»Ein seltsamer Mensch«, sagte Harro hinter ihm her, »aber er gefällt mir. Was es denn nur sein mag, was auf ihm lastet? Wir wollen doch gleich einmal den Major fragen, der alles weiß.«

Margot machte eine abwehrende Bewegung. »Ach nein, Harro, lieber nicht. Es gibt nur Anlaß zu Klatsch und Gerede. Es könnte uns diesen schönen Tag ganz verderben.«

»Du fürchtest dich also davor, unangenehme Dinge zu hören? Nun, weißt du, dann ist dein Vertrauen zu Holdheim aber auch nicht so groß, wie du mich glauben ließest, Margot. Was kann er denn viel gesündigt haben? Wie ein Übeltäter sieht er doch wahrhaftig nicht aus.«

Als die Geschwister die übrigen Fußgänger wieder erreicht hatten, war das Gespräch über Erich Holdheim dort schon in vollem Gange. Man hatte ihn beim Vorüberreiten erkannt, und allerlei Gerüchte über ihn wurden zur Sprache gebracht. Adele Lindenthal behauptete steif und fest, zu wissen, daß er ein Millionendieb sei, der hier unter falschem Namen lebe, während der Leutnant von Saldern gehört haben wollte, er sei ein südamerikanischer Pflanzer, der sich gegen die Neger in seinen Zuckerplantagen unmenschlich benommen habe. Das Tollste und Abenteuerlichste wurde vorgebracht. »Den Major fragen! Der Major soll's entscheiden!« hieß es endlich.

Herr von Jorell hatte sich wegen seines Asthmas beritten gemacht und trabte zu Esel neben einem Landauer her, mit dem er Schritt halten wollte. Die rufenden Stimmen hinter ihm her boten ihm willkommene Gelegenheit, diesen forcierten Wettritt auf dem Grauen aufzugeben, einen Ritt, der schon einen komischen Beigeschmack angenommen hatte. Er hielt, drehte sich um und fragte, was es denn gäbe. Als er gehört hatte, um was es sich handelte, legte er sein hageres Gesicht, das durch einen Bart unterm Kinn noch verlängert erschien, in Falten. »Ich bin doch nicht Polizeispion«, sagte er dann mit verschmitztem Lächeln, hinter dem er seine Allwissenheit zu verbergen pflegte.

»Der Major weiß es nicht! Der Major weiß es nicht!« rief es lachend durcheinander. Man wußte, daß ihn nichts mehr zum Sprechen reizte als dieser Argwohn. Selbst wenn er wirklich nichts gewußt hätte, auf diese Provokation hin hätte er immer geredet, um sich seinen Nimbus nicht zerstören zu lassen.

Er ließ einen leisen Pfiff hören, zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe und sagte:

»Dieser Herr, von dem Sie da reden, ist weder ein Blaubart noch ein Millionendieb noch ein Plantagenbesitzer, sondern er ist ganz einfach ein Totschläger.«

»Na – na!« meinte der Leutnant von Saldern ironisch. »Gar so gefährlich wird es doch wohl nicht sein, Herr Major! Vielleicht hat er jemanden im Duell erschossen, denn einen Verbrecher würde man doch wohl kaum frei und unbehelligt hier herumlaufen lassen.«

»Warum nicht? Hier kann manches geschehen, was anderswo in der Welt unmöglich wäre. Daß der Herr sich in Deutschland wegen Totschlages in Untersuchung befunden hat, steht jedenfalls fest. Die Herrschaften können auf dem Konsulat nachfragen, wenn Sie mir keinen Glauben schenken wollen. Um was es sich aber gehandelt hat und weshalb er nicht verurteilt worden ist, darüber schweigen vorläufig noch meine Quellen. Ein Duell ohne Sekundanten, das wäre immerhin denkbar. Und ganz ohne Romantik ist die Geschichte sicherlich nicht; denn ein Frauenzimmer steckt unter allen Umständen dahinter.«

»Wieso ein Frauenzimmer?« fragte plötzlich Margot. Ihre Stimme hatte einen harten Klang angenommen, den noch keiner von ihr gehört hatte.

»Na«, sagte der Major, sich auf seinem Esel umdrehend, »er hält doch eine Frau bei sich versteckt, und da ist also mit ziemlicher Sicherheit zu schließen, daß diese Frau und das verbrecherische Duell – der Totschlag – in engstem Zusammenhang miteinander stehen, nicht wahr?«

»Diese Frau, die Herr Holdheim bei sich ›versteckt‹ hält, ist seine schwerkranke Mutter, Herr Major.«

Alle sahen Margot erstaunt an. Der Major ließ abermals einen leisen Pfiff hören. »Sie kennen ihn, mein gnädiges Fräulein?«

»Jawohl, ich kenne ihn, Herr Major.« Ihre Stimme klang fest und furchtlos.

»Ah! Das ist ja natürlich etwas anderes. Aber dann dürfen wir ja von Ihnen die Aufklärung über alles erwarten, was hier noch dunkel ist, mein Fräulein. Weshalb lassen Sie uns denn so grausam schmachten?«

»Ich wollte doch sehen, bis wie weit die Kombinationen einer regen Phantasie hier mit der Wahrheit ihr Spiel treiben würden, Herr Major. Verzeihen Sie! Das einzige Verbrechen dieses Mannes scheint zu sein, daß er ganz für sich allein lebt. Im übrigen kann er ein begangenes Unrecht doch entweder nur bereits abgebüßt haben, oder man hat es ihm ohne Grund einst zur Last gelegt – sonst wäre er nicht frei und unangefochten hier, wo er seiner leidenden Mutter wegen lebt. Unsere Gerichte lassen nicht mit sich spaßen. Ich finde, in beiden Fällen ist die Sache abgetan, und wir haben gar keinen Grund, uns über irgend etwas im Leben des Herrn Holdheim noch den Kopf zu zerbrechen.«

»Bravo!« rief hier der Leutnant von Saldern. »Famos! Könnte kein Advokat besser gemacht haben! Major auf der ganzen Linie geschlagen. Unfehlbarkeit erschüttert. Geheimnisvoller Landsmann steht groß da – beneidenswert. Werde ihm nachher einen Hochachtungsschluck kommen.«

Alle schienen der gleichen Meinung zu sein, soweit sie den »Wortkampf« überhaupt verfolgt hatten. Die jungen Offiziere fanden Margots Auftreten »schneidig«. Auch Harro klopfte der heiß Erröteten auf die Schulter. »Du, du«, sagte er, »du gehst aber mit Feuer für Holdheim ins Zeug. So genau kennst du ihn schließlich doch nicht. Aber es gefällt mir. Meine kleine Schwester hat Temperament – sieh – sieh!«

Inzwischen war man im Dorfe La Turbie angelangt. Aus den Wagen wurden die sorglich verpackten Vorräte hervorgeholt und neue in der kleinen Gastwirtschaft an der Straße eingehandelt. Die halbe Einwohnerschaft war herbeigelaufen, um die Fremden zu begaffen, und das aufdringliche Jammern der Bettler und barfüßigen Kinder, die ihre Hände ausstreckten, hallte zwischen das Wiehern der Pferde, das Schreien der Esel und die lachenden Unterhaltungen der Ankommenden hinein. Dann ging es quer durch das olivenbestandene Gelände auf den alten Römerturm zu, wo auf den mitgebrachten Reisedecken und Plaids gelagert und getafelt werden sollte.

Zur großen Enttäuschung fand man den ausersehenen Lagerplatz aber bereits besetzt. Eine elegante Gesellschaft von Herren und Damen hatte dort Platz genommen, und es ging sehr lustig zu. Man trank Champagner, die Bonmots flogen hin und her, man lachte, man stieß mit den Gläsern an. Der erste Blick überzeugte Herrn von Jorell, daß man es mit echten »Monte Carlisten« zu tun habe; alle waren nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, über den Damen besonders lag jener unnachahmliche »Chic« gebreitet, der sich nur bei einer bestimmten, aus Paris importierten Gesellschaftsklasse dort unten im »Paradies des Teufels« vorfand; sie sahen genau so aus, als wären sie dem letzten Modejournal entstiegen, und eine Wolke von Parfüm umgab sie.

Der Major hatte mißachtend die Nasenflügel eingedrückt und dann einen anderen Lagerplatz bestimmt, wo nun die Decken ausgebreitet und die Mundvorräte verteilt wurden. Bald saß alles in munterem Geplauder, essend und trinkend im Kreise.

Die freie Luft der Höhe, das ungebundene Beieinander und die herrliche Fernsicht hatten alle angeregt. Von der letzteren sah man freilich hier nicht so viel wie von dem Platze, welchen der Major schon besetzt gefunden hatte, so daß bald einer und bald der andere, nachdem man die Eßvorräte verzehrt, mit seinem Glas in der Hand weiter an den Felsrand und in den kanzelartigen Vorbau desselben hinaustrat, um die Blicke über Meer und Ufergelände schweifen zu lassen.

Gerade zu Füßen hatte man Monaco und Monte Carlo am blauen Meer; rechts grüßten die Berghöhen der Seealpen, in der Ferne hoch oben noch schneebedeckt; zur Linken blickte man über die sonnenbestrahlten Buchten bis nach Bordighera hinüber, das sich auf weit vorgeschobener Landzunge, festungsartig aufgebaut, aus der funkelnden Bläue hob. Es lag soviel Glanz und Helligkeit über diesem Panorama, daß man hätte glauben können, es gäbe in der Welt nur eitel Lust und Herrlichkeit.

Margot hatte, an die Brüstung gelehnt, lange auf all diese Pracht hinabgeschaut und nur das Lachen und Gläserklingen, das unablässig vom Turm her durch die mittägige Stille der Höhe zu ihr herüberscholl, wie einen Mißklang empfunden, als sie sich plötzlich angeredet hörte: »Mein gnädiges Fräulein –«

Sie wandte sich hastig um und sah sich dem Fremden aus Monte Carlo gegenüber. Schon vorher war es ihr bei flüchtigem Anblick vorgekommen, als befände er sich unter jener Gesellschaft. Doch nun stand er vor ihr, einen Champagnerkelch in der Hand, mit erhitztem Gesicht, und seine Augen brannten auf ihrem Antlitz. »Gestatten Sie, daß ich Sie begrüße, mein gnädiges Fräulein, Sie sehen: Sie können mir nicht entgehen. Darf ich mit Ihnen anstoßen?«

Da Margot ihr Glas Rotwein, das der Leutnant von Saldern ihr hergetragen, neben sich stehen hatte, mußte sie mit ihm anstoßen. »Wirklich, ein unvermutetes Zusammentreffen«, sagte sie in leichter Verwirrung.

»Das Glück ist mit mir, mein Fräulein«, erwiderte er mit einer Verneigung. »Ich möchte mir nun aber erlauben, mich Ihnen vorzustellen – mein Name ist Baron Meyburg.«

Margot hatte einen Ruf höchster Überraschung ausgestoßen. »Baron Meyburg?« wiederholte sie stotternd. »Doch nicht Arno – Arno von Meyburg?«

»Doch – gewiß. Und Sie – kennen meinen Vornamen, mein Fräulein?« Er sah sie unsicher an.

»Ich bin Margot von Detten.«

Auch er zeigte sich nun aufs äußerste überrascht; aber ein feiner Menschenkenner würde in der Art, wie er diese Überraschung kundgab, doch vielleicht etwas Gemachtes gefunden haben.

»Hier also müssen wir uns kennenlernen. Onkel und Nichte – sozusagen, wenn auch nur im zweiten Grade. Ich vermutete Sie als Erzieherin auf irgend einem englischen Landschloß. Wie hätte ich auch erwarten können, Sie so schön, so als Weltdame zu finden!«

Margot hatte sich noch kaum gefaßt. Sie hätte ihm zurückgeben können, daß sie sich ein ganz anderes Bild von ihm gemacht habe und nun eine erfreuliche Enttäuschung erfahre. Etwas verlebt sah Arno von Meyburg freilich aus, aber viel jünger, als sie sich gedacht, und vor allem nicht verkommen, wie er in ihrer und Harros Vorstellung immer gelebt hatte. Dieser elegante Weltmann mit den vornehmen Allüren erregte nicht den Eindruck eines Untergegangenen, als der er ihnen stets geschildert worden war. Trotzdem etwas an und in ihm war, was Margot instinktiv vor ihm warnte, glaubte sie deshalb doch, ihm im stillen allerlei abbitten zu müssen. Als er jetzt noch einmal sein Glas erhob, sagte sie freundlich:

»Auf gute Verwandtschaft, Herr von Meyburg!«

Er blickte ihr tief in die Augen, während er trank. Dann sagte er, das leere Glas absetzend: »Ja, das ist eine wunderliche Geschichte! Onkel und Nichte erkennen sich auf La Turbie. Ich sollte übrigens eigentlich zu eitel sein, um diesen Verwandtschaftsgrad so offen hervorzuheben, nicht? Aber Sie wissen ja wohl, daß mein Vater, reichlich zwei Jahrzehnte jünger als ihr Großvater, auch selber spät geheiratet hat. Aber vor allem: was führt Sie an die Riviera? Sie sehen wie das blühende Leben selber aus. Sie spielen nicht und zu Vergnügungsreisen – à propos, da fällt mir erst ein: wir sind ja erbitterte Gegner.«

Er hatte jetzt einen scherzhaft-liebenswürdigen Ton angeschlagen und seine Blicke ließen nicht von ihr. Es war etwas Forschendes und Bohrendes darin, was Margot peinlich auffiel. »Gegner? Wieso?« fragte sie unbefangen.

»Wegen der Meyburgschen Erbschaft.«

»Wenn sich das Testament nicht vorfindet, fällt sie freilich an uns«, sagte Margot langsam.

Er lachte. »Ja, leider. Verzeihen Sie meine Offenheit! Und wenn es sich vorfindet, enthält es auch sicherlich keine Verfügungen zu meinen Gunsten. Tempi passati. Ich habe mich der Güte meines Onkels nicht würdig gezeigt und habe also sozusagen gar keine Hoffnungen. Weshalb mein Rechtsanwalt trotzdem mir von allen möglichen Chancen für mich etwas vorredet, begreif ich nicht. Aber er schreibt mir von Testamentsanfechtung und Nachlaßprozessen, als ob da noch wunder was für mich herausspringen könnte. Nun, was wollen wir die dumme Geschichte gleich in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft aufrühren? Willkommen wär' uns die Erbschaft wohl allen, und wir müssen die Dinge eben gehen lassen, wie sie wollen; unsere Persönlichkeiten selber spielen ja gar keine Rolle dabei, es handelt sich einfach um gerichtliche Prozeduren, denen wir uns fügen müssen – aber verzeihen Sie nur einen Augenblick, ich will mich bei meiner Gesellschaft verabschieden. – Ah, da sind Sie ja, Vicomte.«

Ein eleganter Herr in mittleren Jahren mit einem schwarzen Knebelbart war herangetreten. Er verneigte sich leicht gegen Margot, wobei ein Lächeln um seine dünnen Lippen spielte, das ihr mißfiel, und rief dann dem Baron ein paar Worte in einem Pariser Argot zu, das ihr nicht geläufig war. Baron Meyburg schüttelte darauf den Kopf und zwang sich zu einem Lachen, das ihm sichtlich nicht von Herzen kam. Dann stellte er kurz vor: »Vicomte de Levoyau – Fräulein von Detten!« und fügte im besten Französisch hinzu: »Ich überlasse die Damen für diesmal Ihnen und Herrn de la Feaux, Vicomte. Ich werde mich sofort bei ihnen beurlauben.«

Da der Vicomte Miene machte, bei Margot zurückzubleiben, zog er ihn am Arm mit sich, während er zu den Damen hinüberging, die sich eben zum Fortgehen rüsteten und ihn nun mit aufgeregtem Lachen empfingen. Nach einigen Minuten lärmend geführter Unterhaltung drüben stand Arno von Meyburg wiederum vor ihr: »Die wollen natürlich zur Eröffnung der Spielsäle wieder unten sein. Ich meinerseits verschmerz' es, dabei zu fehlen, obgleich ich mich vor Ihnen durchaus nicht besser machen will, als ich bin – in keiner Beziehung. Ich spiele auch – leider. Eine häßliche Gewohnheit, die man als alter Junggeselle schwer wieder los wird. Aber ich möchte nun doch auch meinen Neffen Harro kennenlernen. Ich habe meine Gesellschaft im Stiche gelassen, um das Vergnügen eines längeren Zusammenseins mit Ihnen zu haben – darf ich Sie bitten, mich Ihrem Bruder zuzuführen?«

Die offene und taktvolle Art seines Benehmens gefiel jetzt Margot wieder. »Da kommt Harro«, sagte sie, sich wendend, und rief den Vorüberschlendernden an, der nun erstaunt nähertrat und vor Arno von Meyburg den Hut zog.

»Der Herr aus Monte Carlo«, sagte er, »nicht wahr? Ich erinnere mich. Und ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt –«

»Es ist Arno von Meyburg«, unterbrach ihn Margot, während der Genannte sich lächelnd verbeugte, »denke dir nur!«

Harros Mienen verbargen ein unliebsames Erschrecken nicht ganz. »Ah«, sagte er, »das ist in der Tat sehr – merkwürdig. Sie – Sie galten ja eigentlich als verschollen – und nun –«

Der Baron verlor seine Haltung keinen Augenblick. »Wer im Auslande lebt, Herr von Detten, gilt daheim in gewissem Sinne ja immer als verschollen. Die Abwesenden haben stets Unrecht, und es ist seltsam, wie rasch man vergessen und zu den Toten geworfen wird. Übrigens darf ich mich ja darüber nicht beklagen, denn ich habe kein gutes Andenken in der Heimat hinterlassen.«

Ein schmerzliches Zucken ging über sein Gesicht. Harro war durch dies offene Bekenntnis rasch entwaffnet und streckte Arno, seiner impulsiven Natur folgend, freimütig die Hand hin. »Ich habe darauf nicht anspielen wollen«, sagte er, »das steht mir nicht zu. Ich bin überhaupt nicht näher über diese Dinge unterrichtet und trage auch gar kein Verlangen danach, etwas von ihnen zu erfahren. Ich begrüße Sie also ohne alle hinterhältigen Gedanken, mein werter Herr Baron!«

»Ich würde mich herzlich freuen«, erwiderte Arno, in die dargebotene Hand einschlagend, »wenn Sie mich bald mit einer vertraulicheren Anrede beglücken wollten, lieber Herr von Detten. Ich hoffe, daß wir diese sonderbare Schicksalsfügung nicht zu beklagen haben – im Gegenteil. Das alte Familienzerwürfnis kümmert ja uns Überlebende gar nichts mehr, es wäre vielmehr hübsch, wenn wir es durch ein freundschaftliches Bündnis für immer beilegten, nicht? Und was die Erbschaftsangelegenheit betrifft: Ich habe sie mir allem Anschein nach verscherzt, und das größere Recht steht ja eigentlich auf Ihrer Seite. Darüber werden die Herren am grünen Tisch nach dem Gesetz entscheiden, und wir müssen's wohl oder übel hinnehmen; eine persönliche Animosität kann daraus unmöglich erwachsen. Sind Sie nicht der gleichen Meinung?«

»Unbedingt«, warf Harro angenehm berührt ein. »Wenn ich das Geld nicht so notwendig brauchte, würd' ich keinen Pfennig aus diesem Meyburgschen Vermögen anrühren, das mich im Grunde gar nichts angeht und das zu beanspruchen meinem Stolz durchaus widerstrebt. Ich brauch' es auch nicht einmal für mich, wenigstens nur ganz indirekt. Nun, das erfahren Sie schon ein andermal. Vorläufig also: auf loyale Gegnerschaft, ja?«

»Mit Freuden!«

»Sie kommen jetzt mit zu unserer Gesellschaft, nicht wahr?«

»Ich habe mich von der meinigen frei gemacht, um ganz zu Ihrer Verfügung zu stehen, Herr von Detten.«

»Sehr liebenswürdig. Sie wohnen unten in Monte Carlo?«

»Seit einiger Zeit, ja! Ich habe Pariser Freunde dort wohnen, die mir den Aufenthalt angenehm machen. Wer so einsam in der Welt dasteht wie ich – sein Leben so verfehlt hat –«, er zuckte mit trübem Lächeln die Schultern. »Sie begreifen; man zieht seinen Freunden nach, man sucht Zerstreuung, Ablenkung –«

»Es wird uns freuen, lieber Baron, wenn Sie auch uns in unserer Villa Erminia manchmal besuchen werden.«

»Ich werde auf meiner Hut sein müssen, von dieser gütigen Erlaubnis keinen allzu ausgiebigen Gebrauch zu machen«, versicherte Arno von Meyburg.

Dann gingen sie langsam zu den anderen hinüber. Arno wurde vorgestellt, ohne daß man des verwandtschaftlichen Verhältnisses mit den Geschwistern Erwähnung tat, und hatte durch seine liebenswürdig-amüsante Art zu plaudern bald alle für sich eingenommen.

Plötzlich rief der Leutnant von Saldern, sein Glas erhebend, mit seiner etwas näselnden und jetzt vom Wein etwas unsicheren Stimme zu Margot hinüber: »Mein gnädiges Fräulein – habe mein Versprechen noch gar nicht erfüllt, Hochachtungsschluck für den – Dingsda – den – den Herrn, den Sie so schneidig in Schutz genommen haben, zu trinken – hole jetzt das aber doppelt nach. Also«, er setzte ein volles Glas an, »gilt Herrn Holdheim. Zur Gesundheit!« Und er trank das Glas leer.

Margot lächelte in halber Verlegenheit. Plötzlich gewahrte sie, daß Arno von Meyburg, der neben ihr im Kreise saß, erblaßt war und ihr einen Blick zuwarf, vor dem sie erschrak. Etwas wie unbezähmbarer Haß funkelte sekundenlang darin auf. Dann glätteten sich seine Mienen wieder, und er fragte mit seiner früheren geschmeidigen Art zu konversieren: »Es handelt sich doch wohl nicht um den Holdheim aus der Villa La Paix, Fräulein von Detten?«

»Doch. Er ist unser Villennachbar, und ich kenne ihn von früher her. Sie kennen ihn auch?«

»Ja«, sagte er mit einem eigentümlichen Ton.

Eine kurze, peinliche Stille war eingetreten. Oder erschien es nur Margot so? Immer, wenn auf Erich Holdheim die Rede kam, lag etwas Beklemmendes, Unaussprechliches in der Luft. Man konnte es nicht mit Händen greifen, aber es war da, und selbst wenn niemand mehr von den herumschwirrenden Gerüchten etwas verlauten ließ, lag es in Augen und Mienen, daß man Argwohn hegte, daß man mit diesem Manne nichts zu schaffen haben wollte. Auch die Besten dachten und empfanden so. Das war's, worunter Erich Holdheim litt, wodurch er alles Beste und Schönste, seine ganze Jugend eingebüßt hatte. Wenn man es nur endlich einmal hätte fassen – fassen und dann zerreißen, vernichten können! Eine glühende Sehnsucht danach, ein heißes Kraftbewußtsein, als könne sie es und niemand als sie, erfüllten Margot. Wenn sie ihm hätte helfen, ihn aus diesen verstrickenden Banden lösen können! Je allgemeiner der Verdacht war, der sich an ihn heftete, um so fester glaubte sie an Erich Holdheim. Er ein Totschläger! Man hätte darüber lachen können, wenn es nicht so unsäglich traurig gewesen wäre. Er, der in einem herkulischen Körper ein weiches Kinderherz barg! Es war absurd, nur daran zu denken.

Arno von Meyburg hatte schon zweimal eine Frage an Margot gerichtet, ohne daß sie darauf Antwort gab. Sie hatte sie gar nicht gehört in ihren Gedanken. Es war seltsam: wenn sie nun auch mit Arno allmählich wieder in ein unbefangenes Geplauder kam, ihre Sympathie für ihn war seit jenem Blick, mit dem er die Frage nach Erich Holdheim begleitet, plötzlich wieder geschwunden, und sie fühlte aufs neue jenes unheimliche Bangen, das sie unter seinem Blick bei ihrer ersten Begegnung in Monte Carlo empfunden hatte.

Sie war froh, als man endlich aufbrach. Während ein Teil der Gesellschaft zugleich mit Arno von Meyburg den steilen Abstieg nach Monte Carlo antrat, schlugen die meisten den Heimweg nach Nizza wieder ein. Harro hatte sich auf einen bittenden Blick Margots hin mit ihr den letzteren angeschlossen. Als er sich von Arno, der seinerseits nur schwer eine Enttäuschung verbarg, herzlich verabschiedet und ihn wiederholt nach Nizza eingeladen hatte, sagte er, neben Margot herschlendernd: »Du, das ist ja ein famoser Mensch. Nein, was nicht alles in der Welt geredet wird! Den hatt' ich mir nun doch absolut anders vorgestellt – als ein mauvais sujet ersten Ranges. Und nun dieser perfekte Gentleman! 'n bißchen flott gelebt als junger Leutnant wahrscheinlich, Schulden gemacht – lieber Himmel, das machen sie ja alle nicht anders. Und deshalb den Stab über einen brechen! Nein, weißt du, das nächstemal mach' ich Brüderschaft mit diesem Onkel Arno, der gefällt mir, das ist 'n Prachtkerl. Und du? Was sagst du?«

»Daß man wirklich nie allzuviel auf das Urteil der Welt geben, sondern immer selber vorurteilslos prüfen soll«, erwiderte Margot ausweichend.

»Das klingt aber ziemlich kühl«, lachte Harro.

»Laß uns abwarten. Wir wollen doch nun nicht gleich ins Extrem fallen.«

Ein paar Schritte von den beiden entfernt gab Adele Lindenthal gleichzeitig Herrn von Jorell gegenüber ihrem Enthusiasmus über diesen »hochinteressanten Menschen« beredten Ausdruck. »Und Sie, Major? Was halten Sie von ihm?«

Herr von Jorell war dabei, sich eine Zigarre anzuzünden. »Hm«, machte er, »nicht viel – nur daß er ein professionsmäßiger Spieler ist.« Damit bestieg er seinen Esel.


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