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XII.

In dem großen Gartensaal der Villa La Paix, durch dessen geschlossene Glastüren man in den herrlichen, jetzt abendlich überdämmerten Park hinausblickte, hatte sich eine Anzahl von Menschen zusammengefunden, die alle in ernster, schweigender Erwartung verharrten. Nur mit gedämpftem Flüstertone wurden hin und wieder ein paar Worte getauscht, und gespannte Blicke gingen manchmal nach der schweren Samtportiere hinüber, die, halb aufgerafft, einen Einblick in ein geräumiges, mit einem gewissen exotischen Luxus ausgestattetes Schlafzimmer freigab. Von dort herüber drangen hier und da gemurmelte Laute, die hier nicht zu verstehen waren, die aber das Geheimnisvolle und Feierliche der Stunde nur noch zu vermehren schienen. In diese große Stille, wo jeder vor dem Geräusch seiner eigenen Schritte sich zu scheuen schien, klang nur manchmal aus der Ferne das dumpfe Gebrause des vertobenden Karnevals hinein wie Meeresbrandung.

Harro von Detten hatte bei seinem Eintritt den ihm bekannten Herren schweigend die Hand gedrückt. Er fand den deutschen Vizekonsul vor, einen noch jungen und vornehm blickenden Herrn mit schwarzem, kleinem Schnurrbart und den diskreten Manieren eines Weltmannes, den Konsulatssekretär, einen älteren, etwas inquisitorisch dreinschauenden Herrn mit einem Knebelbart nach französischer Mode; einen jüngeren, vorübergehend zur Kur in Nizza weilenden deutschen Arzt, Doktor Gemberg, und den Major von Jorell. Der letztere schien sich am wenigsten behaglich hier zu fühlen. Er machte immer wieder ein paar verlorene Schritte über den weichen persischen Teppich hin, sah durch die Scheiben der Tür in den Garten hinaus, putzte seinen Kneifer und rieb mit dem Zeigefinger über die kurzen grauen Stoppeln seines ausrasierten Kinns hin. Auf den alten Mann, der sich außer diesen vier Personen noch im Zimmer befand und der sich bescheiden und anscheinend teilnahmslos in einer dunklen Ecke zusammengekauert hatte, gab niemand acht.

Herr von Jorell schien die Zeit allmählich lang zu werden. Er hatte schon mehrmals auf die Uhr geblickt und trat nun zu Harro heran, der sinnend vor sich niederblickte. »Begreifen Sie eigentlich, was dies alles bedeutet?« wisperte er ihm zu.

»Man munkelte ja von unerhörten Eröffnungen, die wir hier erleben sollen. Bekenntnisse einer Sterbenden – Zeugnis eines jahrelang verschwunden gewesenen, durch Gewissensqual und Heimweh zur Heimkehr und freiwilligen Gestellung getriebenen Dieners. Ich weiß nicht, was noch alles. Lauter romanhafte, abenteuerliche Dinge. Holdheim soll ganz unschuldig und ein Märtyrer aus Pietät gewesen sein. Wenn ich nur wüßte, was ich hierbei eigentlich soll!«

»Wahrscheinlich will man, daß die hiesigen Vorkommnisse recht bald unter die Leute kommen«, versetzte Harro trocken in gedämpftem Ton.

Der Major warf ihm einen scheelen Seitenblick zu und stellte sich, als ob er die Äußerung überhört hätte. »Wenn die Lindenthal doch hier wäre! Aber ich! Der Konsul hat merkwürdigerweise darauf bestanden. Ich kenne Holdheim ja gar nicht. Was kann mir an seiner Apotheose liegen?« Er zuckte die Achseln und sah dann etwas unsicher zum Konsul hinüber, der schon mehrfach mißbilligend die Augen auf ihn gerichtet hatte. »Wenn es nur endlich so weit wäre!« schloß er seufzend und nahm seine Teppichwanderungen wieder auf.

Da wurde die Portière zum Nebengemach etwas weiter zurückgeschoben, und Doktor Leuthold trat ein. »Wir sind fertig«, sagte er und ließ jetzt den schweren Samt sorgfältig ganz zurückfallen. »Bevor ich aber die Herren bitte, mit mir einzutreten, noch einige Worte.«

Die Anwesenden hatten sich alle erhoben, und Doktor Leuthold fuhr fort: »Sie wissen, daß es sich darum handelt, das Bekenntnis einer Sterbenden, ein sogenanntes »Zeugnis zum ewigen Gedächtnis«, hier aufzunehmen, und zwar in Formen, die vor jedem Gericht des In- und Auslands Rechtsgültigkeit haben. Das Protokoll ist aufgenommen worden und soll nun in Gegenwart der »kompetenten Behörde« – er verneigte sich leicht gegen den Konsul – »sowie der aufgerufenen unbescholtenen und unparteiischen Zeugen der Kranken vorgelesen werden, die durch eigenhändige Namensunterschrift in Ihrer aller Anwesenheit bezeugen will, daß die Aufzeichnungen in der Tat genau ihre Aussage wiedergeben. Da es sich hier um die Aufhellung einer bis jetzt in tiefes Dunkel gehüllten Straftat handelt, ist die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der Patientin selbstverständlich von einer ganz besonderen Bedeutung, um so mehr, als Frau Holdheim, wie ich Ihnen nicht verschweigen darf, jahrelang in nahezu vollständiger geistiger Umnachtung gelebt hat. In bezug darauf nun kann ich Ihnen erklären, wie ich es selbstverständlich auf Verlangen später auch vor Gericht tun werde, daß sich die Dame augenblicklich in vollem Besitz ihrer geistigen Kräfte befindet. Ich bin zu dieser Überzeugung auf Grund der Wahrnehmungen gelangt, die ich während einer längeren Reihe von Tagen bei der Behandlung der Patientin machen durfte, und mein verehrter Kollege, Herr Doktor Gemberg, der sich ja auf dem Gebiete der Irrenheilkunde bereits einen angesehenen Namen gemacht hat, wird Ihnen bestätigen, daß er meine Ansicht vollkommen teilt. Es handelt sich hier eben offenbar um einen jener keineswegs seltenen Paranoiafälle, wo durch tiefgreifende körperliche Krisen die vorhandene seelische Störung plötzlich wieder beseitigt worden ist. Leider ist das, was auf der einen Seite die Heilung bewirkt hat, auf der anderen hier zugleich der Beginn der völligen Auflösung gewesen, und die beklagenswerte Dame wird sich aller menschlichen Voraussicht nach der wieder erlangten geistigen Klarheit nur noch für eine sehr kurze Spanne Zeit zu erfreuen haben. Ein ausführliches, wissenschaftlich begründetes Gutachten über ihre Zurechnungsfähigkeit werden wir mit den übrigen Aktenstücken einreichen – Ihnen, meine Herren, müssen, da wir keine Minute verlieren dürfen, diese kurzen Andeutungen genügen, und ich darf Sie nun wohl bitten, mir in das Krankenzimmer zu folgen.«

Alle Anwesenden fühlten sich beklommen und bewegt, aber sie wußten dieser Bewegung keinen Ausdruck zu verleihen, und leise – einer behutsam hinter dem andern – traten sie unter der wieder emporgerafften Samtportière hindurch in das Schlafgemach der Sterbenden ein.

Es war fast dunkel darin. Nur eine durch einen rotseidenen Schirm gedämpfte Lampe auf einem Ecktisch verbreitete ein geheimnisvolles Zwielicht, in dem die mancherlei exotischen Ausschmückungen des Gemaches noch phantastischer erschienen. Die Kranke selber, neben deren Bett auf einem türkischen Gebetsteppich die große silbergraue Dogge lag, die Augen unverwandt zu ihr emporgerichtet, während eine barmherzige Schwester am Kopfende des Lagers saß, ein Tischchen mit Arzneien vor sich, gewahrte man in ihren Kissen kaum. Nur die Umrisse ihrer hager gewordenen Züge waren in dem dämmerigen Licht zu unterscheiden, langes, weiß durchschimmertes schwarzes Haar floß über das weiße Kissen hin, und unter der gelbhäutigen Stirn brannten große dunkle Augen, die wie verklärt aussahen, gleich als blickten sie schon in eine andere Welt hinüber. Die wachsbleichen Hände lagen über der roten Seidendecke gefaltet.

Am Fußende des Lagers stand Erich Holdheim. Er tauschte noch einmal Blicke mit der Kranken, und in den seinigen lag eine flehentliche Bitte, aber die ihren gaben einen ablehnenden Bescheid. Dann trat er auf die Herren zu, um sie zu begrüßen und ihnen ein Dankwort für ihr Erscheinen zuzuraunen – mit gemessener Höflichkeit, todernst und kühl. Nur dem jungen Arzt und Harro drückte er warm die Hand, um geräuschlos wieder auf seinen Platz zurückzukehren.

Doktor Leuthold hatte sich kurz von dem Zustande der Kranken überzeugt und mit einem Nicken auf ein paar Worte erwidert, welche ihm die Kranke zuflüsterte.

Dann, als die Herren sich still auf den bereitgestellten Sesseln in einiger Entfernung vom Lager der Sterbenden niedergelassen hatten, trat er an den Ecktisch, neben dem ein Mann über großen, mit Schriftzügen überdeckten Papierbogen saß, und gab ihm ein Zeichen. Der Mann rückte den Lampenschirm so, daß mehr Licht auf diese fiel, erhob sich dann, um mit mäßig lauter, gleichförmiger Stimme unter dem tiefen Schweigen der Anwesenden zu lesen:

»Ich, Endesunterzeichnete, Juana Holdheim, gebe hierdurch vor den nachbenannten Zeugen bei vollen Verstandeskräften und geistiger Verfügungsfähigkeit zur Entlastung meines Gewissens vor meinem Ende, das ich herannahen fühle, das Folgende zu ewigem Gedächtnis als wahr und wirklich geschehen zu Protokoll –«

Aus den eintönig vorgetragenen Sätzen, die sich da aneinander reihten, entrollte sich für die Hörer allmählich ein fesselndes Lebensgemälde, das sie in atemloser Spannung lauschen ließ und, je deutlicher es ans Licht trat, um so inniger ergriff. In diesem mystischen Halbdunkel des üppigen Gemaches, in dem eine Sterbende, nach jahrelanger Geistesumnachtung plötzlich zu voller Klarheit zurückgekehrt, sich ihrem ewigen Richter nahefühlend, von lastender Gewissensschuld sich befreite, um dem Sohn, der ihr sein Höchstes, seinen schuldlosen Namen ohne Klage zum Opfer gebracht, seine Ehre zurückzugeben, die in den Augen der Welt schmählichen Makel trug, fühlten sich alle von geheimnisvollen Schauern angeweht. Sie saßen wie in einem Bann gefangen gehalten und wagten weder einen Laut von sich zu geben, noch überhaupt sich anzublicken. Manchmal auch klang es aus dem, was sie hier vernahmen, wie eine herbe Anklage gegen sie selber auf. Hatten nicht auch sie den umlaufenden dunklen Gerüchten über Erich Holdheim ihr Ohr geliehen und es einspruchslos mit angehört, wenn man ohne jeglichen Schuldbeweis die Ehre eines unbescholtenen Mannes hämisch besudelte, der nun als ein Märtyrer seiner Kindesliebe vor ihnen dastand und um fremde Schuld sich sein Leben hatte zerstören lassen?

Draußen rauschten und raunten die dunklen Wipfel der alten Steineichen des Parkes im Abendwind, die Sterne blitzten an der blauen Himmelswölbung auf, und in eine Pause, die der Vorleser machte, hallte hin und wieder mit dumpfem Brausen der drüben die Straßen der Stadt durchtobende Karnevalslärm hinein. Und manchmal erhob sich Doktor Leuthold leise und trat auf den Zehenspitzen an das Bett, um nach der Sterbenden zu sehen. Die aber lag immer mit weit offenen Augen und gefalteten Händen da, ein seltsames, beinahe befriedigtes, verklärtes Lächeln um die blutleeren Lippen.

Vor den Augen der Hörer stieg der wipfelreiche Park des alten holsteinischen Herrensitzes auf, in dessen Schatten Waldemar Holdheim die schöne, junge Portugiesin vor den Augen der Welt versteckt hatte, die er sich von seinen weiten Reisen als sein Weib in die nordische Heimat mitgebracht. Er liebte sie in verzehrender Leidenschaft und gönnte einem andern kaum einmal ihren Anblick. Juana erwiderte seine Liebe mit der ganzen südlichen Glut ihrer Empfindungen, und ohne Zaudern war sie ihm in das ferne Nebelland gefolgt, das sie bis dahin kaum dem Namen nach gekannt hatte und das ihre lebhafte Phantasie mit fabelhaften Schreckgestalten bevölkerte. Aber all ihre Liebe und all seine anbetende Verehrung halfen ihr nicht fort über das nagende Heimweh, das sie nach der Sonne ihrer Heimat alsbald empfand im Schatten dieser düsteren Wälder, in denen sie eine kindische Furcht anwandelte, und wenn abends über den Wiesen die weißlichen Nebel in jagenden Schleiern aufstiegen und wallten. Sie fror, und sie ängstigte sich.

Alles jagte ihr Schrecken ein: diese rauhe Sprache, die sie nicht erlernen konnte, soviel Mühe sie sich auch darum gab – diese plumpen, schweigsamen, ernsten Menschen, die gar nicht lachen zu können schienen – diese flache, reizlose Gegend, über der oft wochenlang ein grauer, regungsloser Himmel niederhing, wenn nicht gar in eintöniger Melancholie der Regen rieselte und vom nahen grauen Meer der Wind in klagenden Stößen herüberfauchte.

Waldemar Holdheim war unglücklich darüber, daß sein Weib sich nicht heimisch fühlte auf seinem von seinen Vätern ererbten Grund und Boden, an dem er selber mit der starren Treue des Nordländers hing. Wie es in ihr aussah, wie sie täglich, stündlich mit ihrer verzehrenden Sehnsucht nach dem lichten, heiteren Süden zu kämpfen hatte, wußte er noch nicht einmal ganz. Sie wagte nicht, ihm zu bekennen, daß sie unter diesem Himmel zugrunde gehe, wagte nicht, ihn zu bitten, er möge sie in ein wärmeres Land und unter eine mildere Sonne zurückführen. Aber gerade weil sie schwieg und immer schweigend weiter trug, zehrte das Heimverlangen an ihrem Leben. Und eines Tages war sie fort – kein Mensch wußte warum. Man durchsuchte die ganze Umgebung nach ihr, man fand sie nicht. Waldemar Holdheim war in Verzweiflung. Da traf ein Brief von ihr ein. Sie habe das Herannahen des Winters, seiner Stürme und seiner Finsternisse nicht zum zweitenmal im kalten Norden ertragen können, sondern habe den Wahnsinn gegen sich herankriechen fühlen, wenn sie noch länger weile – ihre einzige Rettung habe sie in schleuniger Flucht gesehen. Die Notiz, daß ein Schiff aus Malaga in Kiel eingetroffen sei, welche sie in der Zeitung gefunden, habe sie als einen Wink des Himmels aufgefaßt, der ihren Fluchtplan begünstige. Wenn er ihre Zeilen erhalte, sei sie bereits unterwegs. Und nun möge er ihr seine Liebe beweisen und ihr nicht nur verzeihen, was sie getan, sondern auch ihr nachkommen und bei ihr bleiben und mit ihr unter dem schönen Himmel ihrer Heimat glücklich sein. Jede Stunde wolle sie zur Jungfrau im Himmel beten, daß er ihr vergeben und ihr folgen möge, denn sie liebe ihn mehr als je, und ohne ihn werde selbst die Heimat ihr düster und traurig erscheinen, mit ihm aber als ein strahlendes Paradies. Sie warte auf ihn, und sie wisse, nicht umsonst werde sie warten.

So lautete der Brief, den Waldemar Holdheim empfing. Aber das Ungeheuerliche, was sein Weib getan, erschien ihm wie eine Schmach, die sich nie wieder auslöschen ließ. Am wenigsten dadurch, daß er der Ungetreuen nachlief und damit ihre Tat rechtfertigte und ihr ihren Willen ließ. Sein Mannesstolz litt das nicht. Und wenn sein Herz auch in heißer Sehnsucht nach ihr schrie, er wollte ihm nicht gehorchen, lieber wollte er alle Qualen der Einsamkeit ertragen, lieber mochte sein Herz brechen vor Sehnsucht und Trennungsweh, als daß er feig und schwach sich vor der gezeigt hätte, die ihn so tief und unheilbar verwundet hatte.

Noch ein zweiter, noch ein dritter Brief flog in das vereinsamte holsteinische Herrenhaus, und in jedem stand in tausend Variationen das eine: »Komm! Komm! Ich vergehe vor Sehnsucht und Liebe nach dir. Komm! Die Sonne ist kalt, wenn du nicht bei mir bist!« Aber Waldemar Holdheim kam nicht. Er antwortete nicht einmal auf Juanas Briefe.

Da enthüllte sie ihm ein seliges Geheimnis: ein Kind sollte ihnen geboren werden. Würde er auch nun nicht kommen? Und er antwortete ihr nichts als: »Mein Sohn soll auf dem Erbe meiner Väter das Licht der Welt erblicken, oder es ist mein Sohn nicht.«

Danach kam kein Brief mehr aus Portugal, aber eines Tages stand vor Waldemar Holdheim ein bleiches, vor Kummer und Sehnsucht krank und müde gewordenes Weib, das ihrer schweren Stunde entgegensah, und hob die Hände mit einem flehenden Ausdruck ihrer fieberisch glänzenden Augen zu ihm auf. »Vergib! Ich bin zurückgekommen um unseres Kindes willen. Ich will fortan hierbleiben, und wenn ich hier sterben müßte.«

Und Juana hielt ihr Gelöbnis. Ihr Sohn, der den Namen Erich empfing, ward auf der Scholle geboren, wo seine Vorfahren gesessen hatten, und gedieh heran, seines Vaters Ebenbild an Leib und Seele. Nur ein weicher, träumerischer Zug war ihm von der schönen Mutter überkommen, und immer war eine Sehnsucht in ihm nach Sonne und Schönheit.

Juana kränkelte viel. Sie war still und demütig geworden und trug klaglos das Leben unter dem grauen Himmel des Nordens, der keine Freudigkeit mehr in ihrer Seele aufkommen ließ. Nur wenn sie in die großen blauen Augen ihres Knaben blickte, vor dem sie manchmal kniete wie in Anbetung, ward es Licht in ihrem Innern. Sie schöpfte Trost, Kraft und Lebenswillen daraus. Ihr ganzes Dasein ging auf in der Sorge um ihr Kind. Zwischen ihrem Manne und ihr war es nicht geworden wie einst. Sie lebten in Frieden nebeneinander her, nie störte auch nur ein rauhes Wort ihre Eintracht. Aber was sie ihm angetan hatte, konnte der stolze herrische Mann nicht mehr vergessen. Man hatte in der Nachbarschaft, bis wohin das Gerücht von Juanas Flucht damals gedrungen war, mancherlei gemunkelt, was von der Wahrheit weit abwich und einen häßlichen Flecken auf seine Ehre geworfen hatte. Das konnte der Mann, der auf die unantastbare Ehre aller Männer, die seinem Geschlecht entsprossen, stolz war, niemals derjenigen verzeihen, die den ersten Anlaß dazu gegeben. Wenn auch keine Schuld sie traf, das stand dennoch allezeit zwischen ihnen. Und Juana wußte es. Die beiden liebten sich noch immer, aber Waldemar Holdheim war verschlossen und düster geworden und Juana verschüchtert und demütig. Es wollte nicht mehr sonnig werden auf dem Erbe der Holdheims. Nur in der Liebe zu dem Knaben fanden sich die Eltern wieder zusammen. Als Waldemar Holdheim ein paar Jahre danach durch einen Sturz vom Pferde verunglückte und es infolge der erlittenen Gehirnerschütterung mit ihm zu Ende ging, ließ er sich von seinem weinend an seinem Lager knienden Weib geloben, daß sie mit seinem Sohne nicht die väterliche Scholle verlassen, ihn nicht der Heimat entfremden, nicht nach dem Süden, dem Land ihrer Sehnsucht übersiedeln wolle. Juana gelobte es, und versöhnt schied er von ihr in ihren Armen. Juana wußte, daß sie mit diesem Gelöbnis bei ihrem Manne jede Schuld ausgelöscht hatte, die ihr bis dahin in seinen Augen angehaftet, und um so heiliger galt es ihr. Sie hielt es, und sie blieb ihres Sohnes treue, sorgende, aufopferungsvolle Mutter. Selbst als er zum Jüngling und zum Manne herangereift war, verließ sie ihn nicht und wich, obgleich immer kränkelnd und die Seele von unverscheuchbarer Schwermut umschattet, niemals von seiner Seite und entfloh auch jetzt nicht einmal dem Norden. Ja, als ihn selber der Wandertrieb über die Alpen führte, ließ sie ihn ziehen, ohne ihn zu begleiten, und wartete ergebungsvoll seiner Rückkehr.

Während Erich abwesend war, traten folgenschwere Ereignisse ein. Es war damals in der Provinzialhauptstadt ein Blatt aufgetaucht, das den Titel »Die Wahrheit« führte und über die angesehensten und bekanntesten Familien im Lande sensationelle Enthüllungen brachte, angeblich um der Heuchelei und falschen Vornehmheit die Maske vom Gesicht zu reißen und der Wahrheit zur Ehre zu verhelfen, in Wirklichkeit aber, um in der niedrigsten Weise Geld zu erpressen oder persönliche Rachegelüste zu befriedigen.

Die in mehr oder minder deutlichen Andeutungen erkennbaren Persönlichkeiten konnten dabei fast niemals auf gerichtlichem Wege gegen die kecken Preßpiraten vorgehen, weil zumeist in den schmählichen Ehrabschneidereien ein Kern von wirklich Geschehenem enthalten war und die daraus gezogenen und damit verquickten böswilligen Folgerungen so geschickt verhüllt, nur als Möglichkeiten erwähnt oder in Frageform eingekleidet worden waren, daß sie sich durch den Strafrichter nicht packen ließen. Die Verfasser dieser frivolen Notizen waren förmliche Genies im Verleumden und streiften nur immer dicht am Strafgesetz vorbei, ohne ihm zum Opfer zu fallen. Und das Blatt erhielt eine ungewöhnliche Verbreitung. Selbst außerhalb der Provinz war es bald bekannt und gefürchtet. Die bloße Drohung der Herausgeber, eine Notiz bringen zu wollen, reichte gewöhnlich hin, um ihnen erhebliche Geldsummen zuzuführen. Dabei kam es aber nicht selten vor, daß nachher nun erst recht erneute größere Forderungen an die Zahlungsbereiten gestellt wurden oder daß man ihre Zahlungsbereitschaft als Beweis und Anerkennung ihrer Schuld deutete und ausnutzte, obgleich die Betroffenen meistens nur die Klatschsucht und Schadenfreude ihrer Nächsten zu gut kannten, um nicht trotz ihrer Unschuld lieber ein erhebliches Geldopfer zu bringen, als sich dem listig sie umschleichenden Gerede auszusetzen.

Auf solche Art war das Blatt, das im Grunde jeder verachtete, zu einer Macht geworden, vor der man sich beugte, ob wollend oder nicht. Die Inhaber desselben waren zwei Männer vom alten Adel der Provinz, frühere Offiziere, die wegen leichtsinnigen Lebenswandels aus dem Heere entfernt worden waren. Unfähig, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, von ihresgleichen gemieden und durch ihre Lage aufs furchtbarste erbittert, hatten sie sich aus Rachegelüst entschlossen, diesem häßlichen Gewerbe zu frönen, das sie in Kürze wieder in die Lage setzte, ihren kostspieligen Neigungen nachzugehen und sie zwar nicht geachtet, aber gefürchtet machte.

Dies Blatt trat eines Tages, während Erich Holdheim auf einer fröhlichen Wanderschaft in Italien weilte, auch mit Frau Juana Holdheim in Beziehungen, die einsam und schwermütig auf dem nordischen Herrensitz hauste. Man drohte ihr, die »Wahrheit« werde Enthüllungen über ihre Flucht aus dem Hause ihres Gatten, über ihre »Abenteuer« in ihrer heißblütigen Heimat und über die »Legitimität« ihres Sohnes bringen. Ein Brief der aus ihrem Frieden jäh und grausam emporgerüttelten Frau rief den ahnungslosen Sohn zu ihrer Hilfe aus Kapri in die Heimat. Inzwischen hatte sie sich voller Angst und Entsetzen mit großen Geldsummen von ihren gewissenlosen Bedrängern losgekauft. Sie, die sich schuldlos wußte, gedachte dessen, was sie mit ihrer Flucht damals ihrem Gatten und seiner Ehre angetan, und daß ihr Sohn von jenem dunklen Schatten, der auf ihrem Leben ruhte, nichts erfahren hatte, nichts je erfahren sollte. Das Ereignis, unter dem sie ihr ganzes Dasein lang schwer gelitten, sollte nicht noch einmal die bösen Zungen im Lande in Bewegung setzen, damit sie Gift und Geifer auf ihre und ihres Sohnes Ruhe und Glück verspritzten, den Samen des Argwohns in sein Herz pflanzten und ihn von seiner Mutter losrissen. Eine grauenvolle Angst hiervor war in ihr. Dieser Sohn machte den Inhalt ihres Lebens aus; um seinetwillen war sie damals heimgekehrt, um seinetwillen hatte sie ihre entsagungsreiche, freudenarme Existenz getragen, in ihm und für ihn lebte und webte sie. Und Erichs zärtliche Sohnesliebe war ihr Lohn und Ersatz, Sonne und Lebensluft. Wenn er nun von jenen Ereignissen der Vergangenheit etwas erfuhr, wie leicht konnte er ihr entfremdet werden, gerade weil man ihm das Geschehene verschwiegen hatte – wie leicht konnte sich etwas zwischen sie und ihn drängen, das da wuchs und eines Tages das Herz des Sohnes vom Herzen der Mutter riß! Im Traum ihrer Nächte, in den wirren, sich jagenden Gedanken ihres Tages stand immer dies eine als Vision vor ihr und machte ihr Blut erstarren. Nein, das sollte nicht sein. Sie wollte diesen Sohn nicht verlieren – auch nicht einen Blutstropfen seines Herzens – und er sollte den Schmerz und die Schmach nicht erleben, die Vergangenheit seiner Mutter in der Öffentlichkeit roh belastet und hämisch beurteilt zu sehen, der zu dieser Mutter aufsah und diese Mutter verehrte wie eine Heilige. Eher mußte das Äußerste geschehen. Eher wollte sie an diese Blutsauger ihr ganzes Vermögen hinopfern bis zum Letzten, eher würde sie eine Tat der Verzweiflung begehen – Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Sie bereute nun schon wieder, Erich heimgerufen zu haben, sie hätte es während seines Fernseins zu Ende bringen sollen. Erich selber jagte die Erpresser, als sie sich auch an ihn drängen wollten, mit der Reitpeitsche in der Hand von seinem Hofe. Das war nach seiner Meinung die einzige Art, wie man mit diesen Banditen umgehen durfte. Über ihre Drohungen und die Besorgnisse seiner Mutter lachte er nur. Was konnte dieses Revolverblatt den Holdheims anhaben – wer würde diesen Piraten glauben, wenn sie die Holdheims zu verleumden wagten!

Es kam hinzu, daß er die beiden Preßhelden kannte, vornehmlich den einen von ihnen, der als die eigentliche Seele des Unternehmens galt, sich aber freilich immer vorsichtig im Hintergrunde hielt und andere, die von ihm inspiriert waren, ins Feuer schickte. Erich hatte mit ihnen beiden im gleichen Regiment gestanden, war bei seinen Reserveoffiziersübungen häufig mit ihnen zusammengetroffen. Schon damals war er schlecht mit ihnen ausgekommen. Der »Bürgerliche« war von ihnen gehänselt worden, und als Erich sich das nicht gefallen lassen wollte, war es verschiedentlich zu peinlichen Reibereien gekommen. Auch wegen eines Mädchens, das anscheinend Erich Holdheim bevorzugte, während jener adelige Kamerad, der heute an der Spitze der »Wahrheit« stand, sich eifrig um sie bewarb, hatte es Händel gegeben. Daß jener Widersacher aus der Offizierszeit jetzt nur seine Rache an ihm nehmen wollte mit den verwerflichsten Mitteln, machte Erich nur noch unbesorgter, als er den häßlichen Versuchen gegenüber ohnehin geblieben wäre; mit Leuten dieses Schlages gab er sich nicht einmal ab. Von dem, was seine Mutter drückte, von ihrer stetigen Angst und der Furcht, die sich bis zum sinnverwirrenden Entsetzen steigerten und wilde, tolle Entschlüsse in ihr reifen ließen, ahnte er nichts.

Inzwischen hatten die Herren des Revolverblattes eingesehen, wohin sie sich mit ihren Einschüchterungsversuchen zu wenden hätten. Und eines Tages langte die Druckfahne eines Artikels, der für die nächste Nummer der Wochenschrift »Die Wahrheit« bestimmt war, mit der Überschrift »Portugal in Holstein oder das Kuckucksjunge« unter der Adresse Frau Juana Holdheims »zu eigenen Händen« an. Frau Juana las und begriff. Diese mosaikartig zusammengesetzte Schmähung, die in geschickten Umhüllungen eine einzige schändliche Anklage gegen sie enthielt, würde in wenigen Tagen allen Augen im Lande vorliegen und einen ungeheueren Sturm der Verdächtigung gegen sie entfesseln, wenn sie diesen Artikel nicht mit großen Summen ankaufte und vernichtete. Und was blieb ihr übrig als dies? Der mit frivoler, zynischer Bosheit verfaßte Artikel war eine einzige niedrige Lüge. Aber wie das beweisen? Nein, sie mußte vernichtet werden, diese Brutstätte der Gemeinheit und des Unheils. Frau Juana schrieb hinter dem Rücken ihres ahnungslosen Sohnes an die Redaktion der »Wahrheit«. Sie bot eine bedeutende Summe als Kaufpreis des eingesandten Artikels. Man forderte noch mehr, als sie geboten hatte.

Sie bewilligte auch das. Aber sie mußte bald genug einsehen, daß sie sich auch hiermit ihre Ruhe nicht erkauft hatte, denn schon nach wenig Wochen erhielt sie den Korrekturabzug eines zweiten Artikels zugesandt, der in neuer Fassung den gleichen Kern enthielt wie jener erste. Nun sah sie ein, daß hier eine Schraube ohne Ende war, daß man ihr das letzte Geldstück abpressen wollte und daß sie selbst dann vielleicht, zur Bettlerin geworden, noch nicht einmal Ruhe haben würde. An eine Anzeige bei Gericht dachte sie nicht. Sie begriff, daß dann alles öffentlich zur Sprache kommen mußte, was vergessen bleiben, woran nicht gerührt werden sollte, und daß es ihr also wenig helfen würde, die schmählichen Erpresser zur Bestrafung zu bringen.

Aber ein Ende mußte gemacht werden – darüber gab es länger kein Besinnen. Ihre Angst, ihr Zorn, ihre Empörung brachten sie dem Wahnsinn nahe. Eine fixe Idee stieg in ihr auf und nahm von ihr Besitz: vernichten – niederschlagen den Angreifer, diesen Ehrlosen! Das heiße Blut ihres Volksschlages gärte zum ersten Male seit langen Jahren wieder in ihr auf, dies Blut, das die Sonne Portugals durchglüht hatte. Sie fühlte sich ganz wieder als Kind des Südens, und ein Todfeind stand vor ihr. Er oder sie – es galt. Er wollte ihr Geld, ihre Ehre, ihren Frieden, die Liebe ihres Sohnes – alles! Sie fühlte sich als eine, die ihr Höchstes und Teuerstes auf Erden zu verteidigen hat. So eine kann nicht lange auf Mittel sinnen, es gibt nur eines. Man wird getötet, oder man tötet selber. Das ist kein Mord, das ist die Vollstreckung eines Richterspruches. Das Wild, das blutend bis in seinen letzten Schlupfwinkel gehetzt worden ist, kehrt sich gegen den Verfolger und rennt ihn nieder.

In schlaflosen Nächten, von ihren ruhelosen Gedanken gejagt, mit klopfenden Schläfen hat Juana sich bis zu diesem einen durchgerungen, das sie nun beherrscht wie eine unüberwindliche Macht, unter welche sie sich beugt. Es muß sein. Sie ist merkwürdig ruhig geworden, ganz ruhig. Sie lädt den nämlichen Abgesandten der »Wahrheit«, dem sie damals das Schweigegeld heimlich eingehändigt hat, zu einer Unterredung an eine abgelegene Stelle im Schloßpark ein, der tagsüber dem Publikum offen steht. Erich ist um diese Stunde auf dem Felde. Sie hat alles klug berechnet. Eine von den Pistolen, die über Erichs Schreibtisch hängen, steckt sie zu sich. Sie kann schießen. Wie oft hat sie es früher geübt! Ihr Gatte hatte seine Lust daran, wie gut sie das Ziel zu treffen wußte. Und diesmal wird sie gewiß nicht fehlen.

Der, den sie bestellt hat, kommt. Es ist der Premierleutnant a. D. Arthur von Hagen, der verkommene Sprößling einer alten angesehenen Familie, der Miteigentümer der »Wahrheit«.

Er gilt freilich nur für ein untergeordnetes Werkzeug in der Hand eines anderen, seines Freundes, der alles leitet, aber sich immer im Hintergrunde klüglich verborgen hält und von da aus die Fäden lenkt und die Schlingen zuzieht. Aber Juana Holdheim weiß nicht, daß es so ist. Und sie sieht nur in dem, der vor sie hintritt, ihren Gegner – ihren Todfeind. Noch einmal versucht sie es in Güte, mit ihm zu Ende zu kommen. Sie will ihm noch einmal Geld geben, alles, was er fordert, aber dann soll er für immer aus der Gegend verschwinden. Er lacht sie aus. Sie droht ihm. Er lacht nur noch toller. Da übermannt es sie. Der Wahnsinn wird Herr über sie, ihrer selbst nicht mehr mächtig, zieht sie die Pistole aus der Tasche und drückt gegen ihn los, ehe er noch eine Hand rühren kann, um sich zu wehren. Juana hat gut getroffen, lautlos ist der Mann vor ihr zusammengebrochen, kaum daß er noch ein paarmal mit den Gliedern zuckt – alles ist vorüber.

Und Juana steht, die rauchende Waffe in der Hand, vor dem Toten, starr, keines Gedankens, keiner Regung fähig. »Es ist gut so – es mußte so sein –«, wie das gleichmäßige Ticktack einer Uhr geht es so in ihrem Hirn hin und her. Sonst ist alles in ihr wie ausgebrannt – leer und öde.

So findet Klaus Deckert, der alte Diener des Hauses, durch den dumpfen Knall des Schusses herbeigerufen, seine Herrin, und so findet sie auch ihr unglücklicher Sohn, den der treue Mann benachrichtigt, als er den Hufschlag seines Pferdes in der Nähe vernimmt.

Erich bringt die völlig geistesabwesende Mutter ins Haus und übergibt sie der Obhut einer Dienerin, um die Pistole, die er ihr aus der Hand genommen, eiligst wieder an ihren alten Platz zu hängen. Dann kommt der Arzt, nach dem er sofort geschickt hat. Er kann nur den Tod des Erschossenen konstatieren und zugleich die schwere Erkrankung der Frau Holdheim, deren bedrohliche Symptome allem Anschein nach nur wenig Hoffnung auf Wiederherstellung geben. Noch an demselben Abend erstattet Erich selbst bei der Polizeibehörde der Kreisstadt die Anzeige, daß er einen Ermordeten in seinem Park gefunden, und die gerichtliche Untersuchung wird ohne Verzug eingeleitet.

Noch vor Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden wird der Gutsherr als des Mordes verdächtig in Haft genommen, aber der Untersuchungsrichter sieht sich genötigt, wenige Tage später seine Freilassung zu verfügen, da Klaus Deckert eidlich bekundet, daß er der erste an der Leiche des Ermordeten gewesen sei und dann erst seinen Herrn herbeigerufen habe, der nach Lage der Dinge unmöglich der Täter gewesen sein könne.

Gegen die kranke Frau, deren Geistesumnachtung keinem Zweifel mehr unterliegen kann, wird kein Argwohn rege – man denkt gar nicht an sie, und Klaus Deckert hat ihren Namen nicht genannt. Aber wie lange noch wird er dies Schweigen bewahren können?

Darum kommt Erich in furchtbaren Seelenkämpfen zu dem Entschluß, daß dieser Mitwisser des schrecklichen Geheimnisses für immer vom Schauplatz verschwinden müsse. Wohl ist er sich selber vollständig darüber klar, daß sich alsdann der Verdacht mit doppeltem Gewicht wieder auf seine Schultern wälzen würde; aber er ist bereit, dies ungeheure Opfer selbstloser Sohnesliebe darzubringen, und es gelingt ihm endlich in der Tat, den treuen Alten zum Verlassen der Heimat und zur Flucht über das Weltmeer zu bewegen. – – –

Der überlebende Herausgeber der »Wahrheit« hütete sich zwar, bei Gericht zu deponieren, weshalb sein toter Freund damals in den Schloßpark gegangen, weil er dann als Erpresser selbst vor Gericht hätte erscheinen müssen, vielmehr verschwand er nach der Bluttat ganz aus dem Lande und sein Revolverblatt hörte auf zu erscheinen. Aber an Erich Holdheims Schuld zweifelte nach der Flucht Klaus Deckerts in der Tat niemand mehr; man mied und verfemte ihn, weil er sich nicht wie ein Mann zu seiner Tat bekannt hatte. An die Kranke, die niemand sah, von der niemand etwas wußte, wagte sich kein Verdacht. So hatte Erich Holdheim erreicht, was er gewollt. Und er trug schweigend das Geschick, das er über sich heraufbeschworen.

Die Heimat ward ihm verleidet, und er gab sie blutenden Herzens preis. Auch bis in die sonnige Fremde, wohin er die Kranke führte, folgte ihm das Gespenst der Schuld, die er in entschlossener Opferwilligkeit auf sich genommen, und zwang ihn zur Einsamkeit. Jahre gingen darüber hin, bis endlich ein Tag kam, an dem die verborgene Wahrheit ans Licht drängte. – –

Der Vorleser hatte geendet. »Und so bekenne ich mich nochmals dieser Tat schuldig, für die ich vor meinem ewigen Richter werde Rechenschaft ablegen müssen, und habe nichts hinzuzufügen als meinen Dank für den, der um meiner Schuld willen klaglos gelitten hat. Möge der gerechte Gott ihn dafür lohnen, wie er es verdient.«

Eine kurze Stille. Dann trat der Mann, das Schriftstück in der einen, die eingetauchte Feder in der anderen Hand, an das Lager der Sterbenden, und Frau Juana Holdheim richtete sich mit der Unterstützung der barmherzigen Schwester auf, um zu unterzeichnen. Ihre Augen glänzten in überirdischem Schimmer dabei. Es war, als sei nun die letzte Last und Erdenschwere von ihr genommen und ihre Seele fühle Schwingen. Sie sah die fremden Männer im Gemache an, als ob sie jedem von ihnen zurufen wolle: »Habt ihr's auch gehört, was für einen Sohn ich habe?« Und dann sah sie diesen Sohn selber an, verklärt und beseligt. Ihre Finger zitterten, aber deutlich stand ihr Name alsbald unter dem Schriftstück, das von ihres Lebens Leid und Schuld Zeugnis ablegen sollte.

Dann sank sie, die Augen schließend, die Hände gefaltet, ein Lächeln um die welken Lippen, zurück. Und nun unterschrieben auch die Anwesenden, einer nach dem anderen, ihre Namen. Alle diese Männer sahen ernst und ergriffen aus. Keiner von ihnen hatte ein Wort gesprochen. Nur ihre Blicke untereinander gingen hin und her. Und dann, als Doktor Leuthold, der als der letzte das Protokoll gezeichnet und die Schriftstücke dem Konsul in amtliche Obhut übergeben hatte, halblaut sagte: »Ich glaube, meine Herren, es ist besser, wir ziehen uns jetzt zurück – die Kranke schläft«, trat der Konsul an Erich Holdheim heran und schüttelte seine Hand in den beiden eigenen. Eine Weile hielt er sie. Dann sagte er: »Herr Holdheim, Sie werden ohne Worte verstehen, was ich Ihnen jetzt aussprechen möchte – sowohl in meiner amtlichen Eigenschaft wie als Mensch. Sie haben wie ein seltener Mensch gehandelt, und wir alle haben Ursache, mit einem Gefühl der Beschämung vor Ihnen dazustehen. Ich berichte noch heute an das Auswärtige Amt nach Berlin. Sie werden eine glänzende Rehabilitierung haben.«

Erich hatte ihm zerstreut, mit einem sorgenvollen Seitenblick auf das Lager seiner Mutter, zugehört. Jetzt schnitt ein trübes Lächeln seine Mundwinkel. »Ich wollte«, erwiderte er ganz leise, »dies wäre nicht nötig gewesen und der Schleier, der über diesem armen Geist gelegen hat durch Jahre, hätte sich nicht in letzter Stunde noch gelüftet – ihr zur Qual, mir nicht zur Erleichterung. Für mich kommt dies alles ohnehin zu spät.« Die letzten Worte kamen nur noch wie ein Hauch über seine Lippen. Dann strich er sich besinnend mit der Hand über die Stirn. Die erstaunten Blicke des Konsuls belehrten ihn darüber, wie wunderlich diesem seine Worte klingen mußten. So stammelte er nur noch hinterdrein: »Ich danke Ihnen – ich danke Ihnen.«

Der Konsul trat mit einer Verbeugung zurück, und nach ihm schüttelten auch die anderen Herren nacheinander Erich die Hand, ohne weiter ein Wort zu sprechen. Dann geleitete Doktor Leuthold sie hinaus, um sich draußen im Vorzimmer noch einmal mit gedämpfter Stimme an sie zu wenden.

»Auf einen Augenblick noch, meine Herren! – Wir haben es der unglücklichen Frau Holdheim nicht verwehren dürfen, ihre Seele durch das Bekenntnis zu erleichtern, dessen Verlesung sie soeben angehört haben; aber es hätte dieser Selbstbezichtigung kaum noch bedurft, um jeden Schein eines Verdachtes von ihrem Sohne zu nehmen. Der einzige Mitwisser und Augenzeuge jener traurigen Vorgänge, der alte Klaus Deckert, dessen Verschwinden den Anlaß zu so bösen Gerüchten über Herrn Holdheim gegeben hat, ist plötzlich aus Amerika zurückgekehrt. Heimweh und die Mahnungen seines Gewissens haben ihm drüben keine Ruhe gelassen, wie freigebig auch sein ehemaliger Gebieter auf die Sicherstellung seines Lebensabends bedacht gewesen war.

Er ist zurückgekehrt, um nicht mit der Last eines Geheimnisses aus der Welt zu gehen, dessen Bewahrung ihm mehr und mehr als eine schwere Schuld erschien. Er wird seine Aussage an zuständiger Stelle machen und dann dürfte kein Mensch auf der Welt mehr ein Recht haben, anders als mit Hochachtung von dem Besitzer dieses Hauses zu sprechen.«

Der alte Mann mit dem gramvollen Gesicht war während dieser Worte des Doktors still hinausgegangen, und nun rüsteten sich auch die anderen, seinem Beispiel zu folgen.

Nur Harro wurde durch den alten Arzt bei der Verabschiedung einen Augenblick festgehalten. »Erzählen Sie bitte Ihrem Fräulein Schwester, was sie gehört haben«, sagte er. »Ich bin überzeugt davon, daß Sie Herrn Holdheim und ihr selber einen Dienst erweisen.«

Harro nickte. »Ich hätte das auf alle Fälle getan.« »Sie hat ja übrigens stets an Holdheim geglaubt – sie ganz allein und trotz allem.« Er blickte nachdenklich vor sich nieder und zerrte eine Weile an seinem Schnurrbart. »Wissen Sie, daß mir noch etwas an dieser Geschichte fehlt? Man möchte doch auch den anderen Schurken kennen, der bei dem unsauberen Handel damals leider Gottes heil und unversehrt davongekommen ist, obgleich gerade er der Schuldigere gewesen ist. Daß solche Buben unter dieser Sonne unangefochten herumlaufen sollen, will einem nicht in den Kopf. Man müßte hören, daß die Nemesis sie ereilt hat.« Doktor Leutholds Augen forschten in Harros Zügen. Dann sagte er: »Herr Holdheim hat darauf bestanden, daß der Name jenes andern in dem Schriftstück nicht genannt wurde. Im übrigen überlassen wir die Rache dem, der gesprochen hat: »Sie ist mein!« Gute Nacht, Herr von Detten.«


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