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IV.
Das Problem des Selbst

An einem Pol meines Wesens bin ich eins mit Stöcken und Steinen. Dort habe ich die Herrschaft des Weltgesetzes anzuerkennen. Dort liegt das Fundament meines Wesens, tief, tief unten. Seine Stärke liegt darin, daß es von der allumfassenden Welt fest umschlossen wird und in voller Gemeinschaft mit allen Dingen steht.

Aber am andern Pol meines Wesens bin ich von allen abgesondert. Dort habe ich die Linie der Gleichheit durchbrochen und stehe allein, als ein Individuum. Ich bin schlechthin einzig, ich bin ich, ich bin unvergleichbar. Das ganze Gewicht des Weltalls kann diese meine Individualität nicht zerdrücken. Ich halte sie aufrecht trotz der ungeheuren Schwerkraft aller Dinge. Sie ist klein dem Anschein nach, aber groß in Wirklichkeit. Denn sie behauptet sich gegen die Mächte, die sie ihres Vorzugs berauben und dem Staube gleichmachen wollen.

Dieser andre Pol ist der Oberbau des Selbst, der aus der unergründlichen, dunklen Tiefe seines Fundaments ins Freie hinaufragt, stolz auf seine Besonderheit, stolz einer einzelnen individuellen Idee des großen Weltenschöpfers, die im ganzen Universum sich nicht wiederholt, Gestalt gegeben zu haben. Würde diese Individualität zerstört, so würde, wenn auch kein Material verloren, kein Atom vernichtet wäre, die schöpferische Freude, die darin kristalliert war, dahin sein. Wir sind absolut bankrott, wenn wir dieser Besonderheit, dieser Individualität beraubt sind, die das einzige ist, was wir unser eigen nennen können, und deren Verlust zugleich ein Verlust für die ganze Welt ist. Ihr hoher Wert besteht darin, daß sie nicht allgemein ist. Und daher können wir uns nur durch sie das All zu eigen machen, in einem tieferen Sinne, als wenn wir unsrer Besonderheit unbewußt in seinem Schoße ruhten.

Der Allumfassende sucht immer seine Vollendung im schlechthin Einzigen. Und unser Verlangen, uns unsre Einzigkeit zu bewahren, ist in Wahrheit das Verlangen des Weltganzen, das in uns wirkt. Die Freude am Unendlichen in uns ist es, die uns die Freude an uns selbst gibt.

Daß diese Besonderheit des Selbst von dem Menschen als sein kostbarster Besitz geschätzt wird, beweisen die Leiden, die er um ihretwillen auf sich nimmt, und die Sünden, die er um ihretwillen begeht. Aber bewußt geworden ist er sich ihrer dadurch, daß er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Sie hat ihn in Schande, Verbrechen und Tod geführt, und doch ist sie ihm teurer als irgendein Paradies, wo das Selbst noch in vollkommener Unschuld und Sicherheit im Schoße der Mutter Natur schlummert.

Die Aufrechterhaltung dieser Besonderheit bedeutet für uns beständiges Kämpfen und Leiden. Und tatsächlich ist dies Leiden der Maßstab für ihren Wert. Die eine Seite dieses Wertes heißt Opfer; sie drückt aus, wieviel sie uns gekostet hat. Die andere Seite heißt Gewinn; sie drückt aus, wieviel damit erreicht ist. Wenn das Selbst nichts anderes für uns bedeutete als Leiden und Opfer, so könnte es keinen Wert für uns haben, und auf keinen Fall würden wir solch Opfer willig auf uns nehmen. Dann wäre ohne Zweifel die Selbstvernichtung das höchste Ziel der Menschheit.

Aber wenn ein entsprechender Gewinn da ist, wenn unser Selbst nicht in Leere, sondern in Fülle endet, dann ist es klar, daß seine negativen Eigenschaften, die um seinetwillen ertragenen Leiden und Opfer, es um so wertvoller machen. Daß es in der Tat so ist, haben jene bewiesen, die die positive Bedeutung des Selbst erkannt, seine Verantwortung mit Freude auf sich genommen und ohne Wanken alle Opfer gebracht haben.

Nach dieser Einleitung wird es leicht für mich sein, die Frage zu beantworten, die einst einer meiner Zuhörer an mich richtete: ob in Indien die Auslöschung des Selbst nicht als das höchste Ziel der Menschheit angesehen werde?

Wir müssen uns zunächst die Tatsache vor Augen halten, daß der Mensch seine Gedanken nie so ausdrückt, daß sie buchstäblich zu verstehen sind, außer wo es sich um ganz alltägliche Dinge handelt. Sehr oft sind die Worte des Menschen überhaupt keine Sprache, sondern nur die Lautgebärde eines Stummen. Sie können seine Gedanken wohl andeuten, aber sie drücken sie nicht aus. Je wesentlicher seine Gedanken sind, desto mehr bedürfen seine Worte der Erklärung durch den zusammenhängenden Text seines Lebens. Die, welche ihren Sinn mit Hilfe des Wörterbuchs zu verstehen suchen, gelangen nur bis an die Mauer des Hauses, aber zu der Halle finden sie keinen Zutritt. Daher kommt es, daß die Lehren unsrer größten Propheten Anlaß zu endlosen Disputationen geben, wenn wir versuchen, sie dem Wortlaut nach zu verstehen, statt sie in unsrem eigenen Leben zu verwirklichen. Die Menschen, die mit der Gabe des Buchstabengeistes gestraft sind, sind Unglückliche, die immer mit ihren Netzen geschäftig sind und das Fischen versäumen.

Nicht nur im Buddhismus und in den indischen Religionen, sondern auch im Christentum wird das Ideal der Selbstaufgabe mit aller Eindringlichkeit gepredigt. Das Christentum gebietet, diesem Leben abzusterben, der Tod ist das Symbol der Befreiung des Menschen vom Leben, das nicht das wahre Sein ist. Er ist dasselbe wie das Nirvāna, das Symbol des Erlöschens der Lampe.

Die für Indien typische Vorstellung ist die, daß die wahre Befreiung des Menschen die Befreiung von der avidyā, von der Unwissenheit ist. Unsre Unwissenheit ist es, die uns meinen läßt, daß unser Selbst, als Selbst, etwas Wirkliches sei, daß es seinen vollen Sinn in sich habe. Wenn wir diese falsche Auffassung vom Selbst haben, dann versuchen wir so zu leben, daß wir das Selbst zum letzten Ziel unsres Lebens machen. Dann sind wir zur Enttäuschung verurteilt. Wenn jemand mit höchster Sorgfalt seinem Selbst ein Fest bereitet, so zündet er ein Feuer an, ohne den Teig für sein Brot zu haben; das Feuer flackert auf und verzehrt sich selbst bis auf den letzten Funken, wie das unnatürliche Tier seine eigenen Jungen verzehrt und stirbt.

In einer unbekannten Sprache stellen sich uns die Wörter aufdringlich entgegen. Sie halten uns an, aber sagen uns nichts. Um diese Fessel der Wörter loszuwerden, müssen wir uns von der avidyā, von unsrer Unwissenheit befreien, dann findet unser Geist seine Freiheit in dem Gedanken, den sie enthalten. Aber es wäre töricht zu sagen, wir könnten unsre Unkenntnis der Sprache nur dadurch vertreiben, daß wir die Wörter beseitigten. Nein, wenn wir die vollkommene Kenntnis der Sprache erlangt haben, so bleibt jedes Wort an seinem Platz; nur hält es uns nicht fest, sondern läßt uns fortschreiten und führt uns zu dem Gedanken, der Befreiung bedeutet.

So ist es nur die Unwissenheit, die das Selbst zu unsrer Fessel macht, indem sie uns die Vorstellung gibt, es habe seinen Zweck in sich, und uns hindert, das in ihm zu sehen, was über seine Schranken hinausgeht. Darum sagt der Weise: »Befreit euch von der avidyā; erkennt eure wahre Seele und rettet euch aus der Gewalt des Ichs, die euch gefangen hält.«

Wir gelangen zur Freiheit, wenn wir zu unserm wahren Wesen gelangen. Der Künstler findet seine Künstlerfreiheit, wenn er sein Kunstideal findet. Dann ist er befreit von mühevollen Nachahmungsversuchen, vom Buhlen um die Gunst der Menge. Der dharma zerstört nicht unser Wesen, sondern erfüllt es.

Das Sanskritwort dharma, das gewöhnlich mit Religion übersetzt wird, hat in unsrer Sprache eine tiefere Bedeutung. Dharma ist die innerste Natur, das Wesentliche, die immanente Wahrheit aller Dinge. Dharma ist der Endzweck unsres Seins, der in uns wirkt. Wenn wir unrecht tun, so verletzen wir unsern dharma, das heißt unsre innerste Natur.

Aber dieser dharma, der unser wahres Wesen ausmacht, ist nicht sichtbar, weil er tief in uns verborgen ist. So tief verborgen, daß man geglaubt hat, Sündhaftigkeit sei die Natur des Menschen, und nur durch eine besondere Gnade Gottes könnten einzelne gerettet werden. Das ist, als ob man sagte, es sei die Natur des Samens, in seiner Hülle eingeschlossen zu bleiben, und nur durch ein besonderes Wunder könne es zum Baum werden. Aber wissen wir denn nicht, daß die äußere Erscheinung des Samenkorns seiner wahren Natur widerspricht? Wenn wir es chemisch untersuchen, so finden wir wohl Kohlenstoff und Eiweißstoff und viele andre Dinge, aber nicht die Idee eines sich verzweigenden Baumes. Erst wenn der Baum anfängt, bestimmte Form anzunehmen, sehen wir seinen dharma, und dann erkennen wir mit Sicherheit, daß das Samenkorn, das man wegwarf und verfaulen ließ, an seinem dharma, das heißt an der Vollendung seiner wahren Natur gehindert ist. In der Geschichte der Menschheit sehen wir den lebendigen Samen keimen und wachsen. Wir sehen, wie der große Endzweck des Menschen Gestalt wurde in dem Leben unsrer Größten, und haben die Gewißheit, daß, wenn auch zahlreiche Einzelleben fruchtlos dahinzugehen scheinen, dies doch nicht ihr dharma ist, sondern sie sollen ihre Hülle durchbrechen und sich in einen lebenskräftigen Schößling wandeln, der emporwächst zu Luft und Licht und nach allen Seiten seine Zweige ausbreitet.

Die Freiheit des Samenkorns besteht in der Erfüllung seines dharma, seiner Bestimmung, ein Baum zu werden. Die Nichterfüllung ist es, die sein Kerker ist. Das Opfer, durch welches ein Wesen seine Vollendung erreicht, ist kein Opfer, das zum Tode führt, es ist ein Abwerfen von Fesseln und führt zur Freiheit. Wenn wir das höchste Ideal der Freiheit kennen, das ein Mensch hat, so kennen wir seinen dharma, das innerste Wesen seiner Natur, den wahren Sinn seines Selbst. Beim ersten Blick sieht es so aus, als bedeute Freiheit für den Menschen das, wodurch er unbegrenzte Möglichkeiten erhält, sein Selbst zu befriedigen und zu vergrößern. Aber die Geschichte belehrt uns eines andern. Die Träger der Offenbarung waren immer die, die ein Leben der Selbstaufopferung führten. Die höhere Natur im Menschen strebt immer nach etwas, das über sie hinausführt und doch ihre tiefste Wahrheit ist, das fordert, daß sie sich ihm ganz opfert, und macht, daß sie in dem Opfer selbst ihren Lohn findet. Dies ist des Menschen dharma, des Menschen Religion, und sein Selbst ist das Gefäß, das dies Opfer zum Altar tragen soll.

Wir können unser Selbst in zwei verschiedenen Erscheinungsformen betrachten. Wir sehen das Selbst, das sich ausbreitet, und das Selbst, das über sich hinausgeht und dabei seinen eigentlichen Sinn enthüllt. Wenn es sich ausbreitet, versucht es, an Umfang zu gewinnen; es will alles für sich behalten, und der Besitz, den es aufgehäuft hat, muß ihm als Piedestal dienen. Doch wenn es sein wahres Wesen offenbart, so gibt es alles hin, was es hat, und kommt dadurch zur Vollendung, wie die Blume, die aus der Knospe erblüht ist, dem Kelch ihrer Schönheit ihre ganze Süße entströmen läßt.

Solange die Lampe nicht angezündet ist, hält sie ihr Öl fest in sich eingeschlossen und hütet es, daß nicht das geringste davon verloren geht. So steht sie in ihrem Geiz allein, von allen Gegenständen um sie her abgetrennt. Aber sobald sie angezündet wird, hat sie ihren Sinn gefunden, dann ist die Beziehung zwischen ihr und allen Dingen fern und nah hergestellt, und sie opfert freiwillig ihren Vorrat an Öl, um die Flamme zu nähren.

Solch eine Lampe ist unser Selbst. Solange es seinen Besitz aufspeichert, bleibt es dunkel und handelt seinem wahren Zweck entgegen. Sobald es aber Erleuchtung findet, vergißt es sich, hält das Licht hoch und nährt seine Flamme mit allem, was es hat; so offenbart es sein wahres Wesen. Diese Offenbarung ist die Freiheit, die Buddha predigte. Er ermahnte die Lampe, ihr Öl hinzugeben. Aber es zwecklos verschütten würde heißen, das Dunkel noch tiefer und ärmer machen; das kann er nie gemeint haben. Die Lampe muß ihr Öl dem Licht geben und so ihren Zweck erfüllen. Dies ist Befreiung. Der Weg, den Buddha wies, war nicht nur die Übung der Selbstverleugnung, sondern die Ausbreitung der Liebe. Und das ist der wahre Sinn seiner Lehre.

Wenn wir erkannt haben, daß wir zu dem nirvāṇa, das Buddha predigte, durch die Liebe gelangen, so sind wir gewiß, daß nirvāṇa der höchste Gipfel der Liebe ist. Denn die Liebe hat ihren Zweck in sich. Bei allem andern fragen wir uns »warum?« und verlangen einen Grund. Aber wenn wir sagen »Ich liebe«, so ist kein Raum für das »warum?«; damit ist schon die endgültige Antwort gegeben.

Ohne Zweifel kann die Selbstsucht jemanden dazu bewegen, etwas hinzugeben. Aber der Selbstsüchtige gibt nur unter irgendeinem Zwang. Das ist, als wenn man unreife Frucht pflückt; man muß sie gewaltsam vom Baum reißen und verletzt dabei den Zweig. Aber für den, der liebt, wird das Geben eine Freude, wie für den Baum, der freudig die reife Frucht hingibt. All unser Besitz nimmt durch die Schwerkraft unsrer selbstsüchtigen Begierden Gewicht an, wir können ihn nicht leicht abwerfen. Es ist, als ob er ein Teil unsres Selbst wäre, als ob er als eine zweite Haut an uns fest haftete, und wir müßten bluten, wenn wir ihn ablösten. Aber wenn wir von Liebe erfüllt sind, so wirkt ihre Kraft in entgegengesetzter Richtung. Die Dinge, die fest an uns hafteten, verlieren ihre Adhäsionskraft und ihr Gewicht, und wir merken, daß sie nicht zu uns gehören. Wir empfinden es nicht mehr als einen Verlust, wenn wir sie hingeben, sondern erkennen darin die Erfüllung unsres Wesens.

So finden wir die Freiheit unsres Selbst in der vollkommenen Liebe. Nur das, was aus Liebe getan wird, wird frei getan, wieviel Schmerz es auch verursachen mag. Daher bedeutet aus Liebe handeln in Freiheit handeln. Das ist der Sinn der Lehre der Bhagavad-Gītā [S. S. 31.]] vom zweckfreien Handeln.

Die Gītā sagt, daß wir handeln müssen, denn nur im Handeln offenbaren wir unser Wesen. Aber diese Offenbarung ist nicht vollkommen, solange unser Handeln nicht frei ist. Ja, unser Wesen wird verdunkelt durch Arbeit, die wir unter dem Zwang von Mangel oder Furcht tun. Wie die Mutter ihr wahres Wesen im Dienst ihrer Kinder offenbart, so bedeutet wahre Freiheit für uns nicht Freiheit vom Handeln, sondern Freiheit im Handeln, die wir nur im Dienst der Liebe finden.

Gott offenbart sich in seiner Schöpfungsarbeit, und es heißt in den Upanischaden: Wissen, Macht und Handeln ist seine Natur svābhāvikī jñāna-bala-kriyā ca. [Śvetāśvatara-Up. 6, 8.], – seine Natur, nicht eine ihm von außen gestellte Aufgabe. Daher ist sein Wirken seine Freiheit, und in seinem Schaffen verwirklicht er sich selbst. Dasselbe wird an einer andern Stelle gesagt, wenn es heißt: Aus der Freude werden alle Wesen geboren, durch Freude werden sie erhalten, und in Freude gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden ānandād dhy eva khalv imāni bhūtāni jāyante, ānandena. jātāní jīvanti, ānandam prayanty abhisaṃviśantí. [Taittirīya-Up. 3, 6.]. Das heißt, daß Gottes Schöpfung ihren Ursprung nicht in irgendwelcher Notwendigkeit hat; sie entspringt aus der Fülle seiner Freude, seine Liebe ist es, die schafft, daher ist die Schöpfung seine eigene Offenbarung.

Der Künstler, der Freude hat an der Vollkommenheit seiner künstlerischen Idee, stellt sie aus sich heraus, indem er sie gestaltet, und macht sie sich so noch mehr zu eigen. Es ist die Freude, die einen Teil von uns selbst ablöst und ihm Gestalt gibt in Schöpfungen der Liebe, damit wir uns ganz in ihnen wiederfinden. Daher muß diese Trennung sein, die nicht in Ablehnung, sondern in Liebe ihren Grund hat. Ablehnung hat nur das eine Moment in sich, das der Trennung. Aber die Liebe hat beides, das Moment der Trennung, das nur scheinbar, und das Moment der Vereinigung, das ihr wahres Wesen ist.

So müssen wir erkennen, daß der Sinn unsres Selbst nicht im Getrenntsein von Gott und den andern zu finden ist, sondern in der unaufhörlichen Verwirklichung des yoga, das heißt der Vereinigung; daß wir diesen Sinn nicht auf der kahlen Leinwandseite suchen müssen, sondern auf der Seite, wo das Bild gemalt wird.

Darum bezeichneten unsre Philosophen das Getrenntsein unsres Selbst als māyā, als Täuschung, weil sie an sich nichts Wirkliches ist. Dieses losgelöste Selbst sieht gefährlich aus, es türmt sich zu einer schwindlichten Höhe und wirft einen schwarzen Schatten auf das schöne Antlitz der Schöpfung; von außen sieht es aus wie ein jäher Bruch, rebellisch und zerstörend; es ist stolz, herrschsüchtig und launisch, bereit, die Welt all ihres Reichtums zu berauben, um eine augenblickliche Gier zu befriedigen; es möchte mit grausamer, ruchloser Hand dem göttlichen Vogel Schönheit alle Federn ausrupfen, um einen Tag lang seine Häßlichkeit damit zu bedecken; ja, die Sage geht, daß seine Stirn auf ewig mit dem schwarzen Mal des Ungehorsams gezeichnet ist. Doch dies alles ist māyā, die äußere Erscheinung der avidyā; ist Nebel, nicht die Sonne; es ist der dunkle Rauch, der ankündigt, daß das Feuer der Liebe entzündet ist.

Stellt euch einen Wilden vor, der in seiner Unwissenheit glaubt, die papierne Banknote berge den Zauber in sich, durch den der Besitzer alles bekommt, was er braucht. Er häuft die Scheine auf, verbirgt sie, macht die widersinnigsten Versuche damit und kommt zuletzt, wenn er all der Mühe überdrüssig ist, zu dem betrübenden Schluß, daß sie absolut wertlos sind und zu nichts taugen, als ins Feuer geworfen zu werden. Aber der kluge Mensch weiß, daß das Papier der Banknote nur māyā ist, und unnütz, solange man es nicht der Bank hingibt. Es ist nur avidyā, unsre Unwissenheit, die uns glauben läßt, unser Selbst habe, wie das Papier der Banknote, seinen Wert in sich, und indem wir in diesem Glauben handeln, machen wir unser Selbst wertlos. Erst wenn die avidyā abgetan wird, bringt uns unser Selbst unschätzbaren Reichtum. Denn Er offenbart sich in Formen, die seine Freude annimmt ānandarūpam amṛtaṃ yad vibhāti. [Muṇḍaka-Up. 2, 2, 7.] Diese Formen sind von ihm abgelöst und haben nur soviel Wert, als seine Freude ihnen verliehen hat. Wenn wir diese Formen wieder in ihren Ursprung, die Freude, welche gleichbedeutend mit Liebe ist, umsetzen, so lösen wir sie in der Bank ein und erkennen ihr wahres Wesen.

Wenn die bloße Notwendigkeit den Menschen zu seiner Arbeit treibt, so erhält diese einen zufälligen Charakter, sie ist nichts als ein Notbehelf; sie wird im Stich gelassen und zerfällt in Trümmer, wenn die Notwendigkeit in andre Richtung geht. Aber wenn seine Arbeit der Freude entspringt, so haben die Formen, die sie annimmt, Unsterblichkeit. Das Unsterbliche im Menschen teilt ihr sein eigenes Wesen mit.

Unser Selbst, als Gestaltung der Freude Gottes, ist unsterblich. Denn seine Freude selbst ist amṛtam, ewig. Dies ist es, was uns an den Tod nicht glauben läßt, selbst wenn wir an der Tatsache des Todes nicht zweifeln können. Dieser Widerspruch in uns wird aufgehoben durch die Wahrheit, daß in dem Dualismus von Tod und Leben Harmonie ist. Wir wissen, daß das Leben einer Seele, das seiner Erscheinung nach endlich und seinem Wesen nach unendlich ist, auf seiner Wallfahrt nach dem Unendlichen durch die Tore des Todes gehen muß. Der Tod ist monistisch, er hat kein Leben in sich. Aber das Leben ist dualistisch; es hat beides, den Schein und die Wahrheit, und der Tod ist jener Schein, jene māyā, die eine unzertrennliche Begleiterin des Lebens ist. Unser Selbst muß, um zu leben, beständig in seiner Form sich wandeln und wachsen; man könnte sagen, daß gleichzeitig ein beständiges Sterben und ein beständiges Leben in ihm vor sich geht. In Wahrheit werben wir um den Tod, wenn wir dem Tode ausweichen, wenn wir dieser Form des Selbst Dauer verleihen möchten; wenn das Selbst keinen Trieb fühlt, über sich hinauszuwachsen, wenn es seine Grenzen als endgültig nimmt und demgemäß handelt. Dann ergeht an uns der Ruf unsres Meisters, diesem Tode abzusterben, nicht ein Ruf zur Vernichtung, sondern zum ewigen Leben. Es ist das Auslöschen der Lampe im Morgenlicht, nicht das Auslöschen der Sonne. Es bedeutet in Wahrheit nur die Aufforderung, der innersten Sehnsucht unsres Wesens bewußt Folge zu geben.

Wir haben zweierlei Arten von Begierden in unsrer Natur, die wir versuchen sollten, miteinander in Einklang zu bringen. Auf dem Gebiet unsrer physischen Natur haben wir die eine Reihe, deren wir uns immer bewußt sind. Wir wollen unser Essen und Trinken genießen, wir trachten nach körperlichem Wohlsein und Behagen. Diese Begierden gehen nicht über sich selbst hinaus, sie beschränken sich ganz auf die Befriedigung der Triebe, aus denen sie entstehen. Die Wünsche unsres Gaumens stehen oft im Widerspruch zu dem, was unser Magen vertragen kann.

Aber wir haben noch ein anderes Verlangen, nämlich das unsres physischen Systems als eines Ganzen, dessen wir uns für gewöhnlich nicht bewußt sind, das Verlangen nach Gesundheit. Dies ist immer an der Arbeit, bessert aus und rückt zurecht, wo etwas in Unordnung geraten ist, und stellt geschickt das gestörte Gleichgewicht wieder her. Es kümmert sich nicht um unsre unmittelbaren körperlichen Begierden, sondern geht über den Augenblick hinaus. Es ist das Prinzip unsrer physischen Ganzheit, es verknüpft unser Leben mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft und hält die Einheit seiner Teile aufrecht. Der Weise kennt es und bringt seine andern physischen Begierden mit ihm in Einklang.

Wir haben aber noch einen größeren Körper, die menschliche Gesellschaft. Diese ist ein Organismus, dessen Teile wir sind. Als solche haben wir unsre individuellen Wünsche. Wir wollen unser eigenes Vergnügen und unsre eigene Freiheit. Wir wollen weniger bezahlen und mehr erhalten als irgend jemand anders. Dies gibt Anlaß zu Zusammenstößen und Streitigkeiten. Aber in uns ist noch ein anderes Verlangen, das im tiefsten Innern des sozialen Organismus wirksam ist. Es richtet sich auf das Wohl der Gesellschaft und geht über die Grenzen des Gegenwärtigen und Persönlichen hinaus. Es ist auf der Seite des Unendlichen. Der Weise versucht, die Wünsche, die auf Selbstbefriedigung gehen, mit dem Verlangen nach dem sozialen Wohl in Einklang, zu bringen, und nur so kann er sein höheres Selbst verwirklichen.

Auf der endlichen Seite seines Wesens ist das Selbst sich seiner Isoliertheit bewußt und versucht rücksichtslos, sich über die andern zu erheben. Aber als unendliches Wesen sehnt es sich, zu jener Harmonie zu gelangen, die zur Vollendung führt und nicht zu bloßer äußerlicher Größe.

Die Befreiung unsrer physischen Natur erlangen wir durch Gesundheit, die unsres sozialen Wesens durch Gerechtigkeit, die unsres Selbst durch Liebe. Diese letzte bezeichnet Buddha mit Auslöschen, Auslöschen der Selbstsucht, das durch die Liebe geschieht und das nicht zu Dunkelheit, sondern zur Erleuchtung führt. Es ist der Weg zur bodhi, dem wahren Erwachen; es ist die Offenbarung der unendlichen Freude in uns durch das Licht der Liebe.

Unser Selbst muß durch die Unabhängigkeit seiner Individualität zur Harmonie der Seele gelangen, es kann sie nicht durch Zwang erreichen. So muß sich auch unser Wille in völliger Ungebundenheit, durch Rebellion hindurch, zur letzten Vollkommenheit entwickeln. Wir müssen die Möglichkeit der negativen Form der Freiheit, der Gesetzlosigkeit haben, bevor wir zur positiven Form der Freiheit, der Liebe, gelangen können.

Diese negative Freiheit, die Freiheit des Eigenwillens, kann in einer ihrem letzten Ziel entgegengesetzten Richtung gehen, aber sie kann sich den Weg dahin nie ganz abschneiden, denn dann verliert sie ihren eigenen Sinn und hört auf, Freiheit zu sein. Unser Eigenwille hat nur Freiheit bis zu einem gewissen Grade, er kann erfahren, was es bedeutet, vom rechten Wege abzuweichen, aber er kann nicht unbegrenzt in dieser Richtung fortgehen. Denn auf unsrer negativen Seite sind wir begrenzt. Wir müssen mit unserm bösen, zwieträchtigen Tun und Treiben zu Ende kommen. Denn das Böse ist nicht unendlich und die Zwietracht kann nicht das letzte sein. Unser Wille hat Freiheit, damit er die Erfahrung machen kann, daß sein wahres Ziel Güte und Liebe ist. Denn Güte und Liebe sind unendlich, und nur im Unendlichen ist die vollkommene Verwirklichung der Freiheit möglich. So erstreckt sich die Freiheit unsres Willens nicht nach der Seite unsres begrenzten Selbst, nicht dahin, wo es māyā und Negation ist, sondern nach der positiven, unbegrenzten Seite, wo es Wahrheit und Liebe ist. Unsre Freiheit kann nicht ihrem eigenen Prinzip widerstreben und doch frei sein; sie kann nicht Selbstmord begehen und doch leben. Wir können nicht sagen, daß wir unbegrenzte Freiheit haben, uns zu fesseln, denn mit der Fesselung endet die Freiheit.

So haben wir in der Freiheit unsres Willens denselben Dualismus von Schein und Wahrheit – unser Eigenwille ist nur der Schein der Freiheit, und die Liebe ist die Wahrheit. Wenn wir versuchen, diesen Schein ganz von der Wahrheit abzutrennen, so bringt uns dieser Versuch nur Elend, bis wir am Ende doch erkennen, daß er vergeblich ist. In allen Dingen ist dieser Dualismus von māyā und satyam, Schein und Wahrheit. Worte sind māyā, wo sie nur Laute und endlich sind, sie sind satyam, wo sie Gedanken und unendlich sind. Unser Selbst ist māyā, wo es nur individuell und endlich ist, wo es seine Isoliertheit als etwas Absolutes betrachtet; es ist satyam, wo es sein innerstes Wesen im Universalen und Unendlichen erkennt, im höchsten Selbst, in paramātman. Dies ist der Sinn von Christi Wort: »Ehe denn Abraham war, bin ich.« Es ist das ewige Ich, das durch das Ich, das in mir ist, spricht. Das individuelle Ich erreicht sein letztes Ziel, wenn es sich im unendlichen Ich erkennt. Dann geschieht seine mukti, seine Befreiung aus der Knechtschaft der māyā, des Scheins, der aus der avidyā, der Unwissenheit, entspringt; dann gelangt er zum śāntam śı vam advaitam, zur vollkommenen Ruhe in der Wahrheit, zur vollkommenen Tätigkeit in der Güte und zur vollkommenen Vereinigung in der Liebe.

Nicht nur in unserm Selbst, sondern auch in der Natur ist diese Getrenntheit von Gott, die unsre Philosophen als māyā, bezeichnen, weil die Getrenntheit nicht durch sich selbst besteht und der Unendlichkeit Gottes nicht von außen Schranken setzt. Es ist sein eigener Wille, der sich Grenzen gesetzt hat, wie der Schachspieler seine Figuren nicht willkürlich hin und her bewegt. Der Spieler tritt zu jeder besonderen Figur in bestimmte Beziehung und gerade durch diese freiwillige Beschränkung kann er sich seiner Macht freuen. Er könnte die Schachfiguren nach Belieben hin und her schieben, aber dann würde es kein Spiel geben. Wenn Gott sich nur in seiner Allmacht gefallen wollte, so wäre es mit seiner Schöpfung aus, und seine Macht selbst verlöre ihren Sinn. Denn Macht muß, um Macht zu sein, sich Schranken setzen. Gottes Wasser muß Wasser, seine Erde Erde bleiben. Das Gesetz, das sie zu Wasser und Erde machte, ist sein eigenes Gesetz, wodurch er das Spiel vom Spieler getrennt hat, denn in dieser Trennung besteht die Freude des Spielers.

Wie die Natur durch die Schranken des Naturgesetzes, so wird das Selbst durch die Schranken des Egoismus von Gott getrennt. Er hat seinem Willen freiwillig Grenzen gesetzt und hat uns die Herrschaft über unsre eigene kleine Welt gegeben. Es ist, wie wenn ein Vater seinem Sohn ein Taschengeld gewährt, mit dem er tun kann, was er will. Wenn es auch ein Teil von seines Vaters Besitz bleibt, so gibt dieser doch das Verfügungsrecht darüber auf. Dies tut er, weil sein Wille, der der Wille der Liebe und daher frei ist, nur in der Vereinigung mit einem andern freien Willen seine Freude finden kann. Der Tyrann, der nur Sklaven duldet, betrachtet sie als Mittel für seinen Zweck. Es ist das Bewußtsein seiner eigenen Bedürftigkeit, was ihn treibt, ihren Willen zu brechen, um sein Eigeninteresse zu sichern. Das Eigeninteresse kann nicht die geringste Freiheit bei andern ertragen, weil es, selbst nicht frei ist. Der Tyrann ist in Wahrheit von seinen Sklaven abhängig, er braucht sie, und daher ist er nur bedacht, Nutzen aus ihnen zu ziehen, indem er sie seinem eigenen Willen dienstbar macht. Aber der Liebende bedarf noch eines andern Willens zur Verwirklichung seiner Liebe, da die Liebe nur in der Harmonie zwischen Freiheit und Freiheit ihre Vollendung findet. Daher hat Gottes Liebe, der unser Selbst entsprossen ist, es von Gott abgetrennt, und Gottes Liebe wiederum ist es, die die Versöhnung herstellt und Gott mit unsrem Selbst wieder verbindet. Darum muß unser Selbst durch unendlich viele Erneuerungen hindurchgehen. Denn es kann nicht endlos auf seiner Bahn, die es von Gott trennt, weiterwandeln; es muß immer und immer wieder zu seiner unendlichen Quelle zurückkommen. Unser Selbst muß unaufhörlich sein Alter abwerfen, seine Schranken in Vergessenheit und Tod versinken lassen, um seine ewige Jugend zu verwirklichen. Es muß immer wieder in das Universum untertauchen, ja, jeden Augenblick hindurchgehen, um für sein individuelles Leben Kraft zu holen. Es muß bei jedem Schritt dem ewigen Rhythmus folgen und den Grund und die Einheit aller Dinge berühren, um in seiner Isoliertheit Halt zu finden.

Das Spiel von Leben und Tod, diese Umwandlung des Alten in das Neue, sehen wir überall. Jeden Morgen kommt der Tag wieder zu uns, strahlend rein, wie eine frisch erblühte Blume. Aber wir wissen, daß er alt ist. Er ist das Alter selbst. Er ist jener erste Tag, der die neugeborne Erde in seine Arme nahm, sie in seinen weißen Mantel von Licht einhüllte und sie hinaussandte auf ihre Pilgerfahrt unter den Sternen. Und doch sind seine Füße nicht müde und seine Augen ungetrübt. Er trägt das goldene Amulett nie alternder Ewigkeit, bei dessen Berührung alle Runzeln von der Stirn der Schöpfung weichen. Im innersten Herzen der Welt steht unsterbliche Jugend. Tod und Verfall werfen wohl vorübergehend einen Schatten auf ihr Antlitz, aber sie müssen weiter und hinterlassen keine Spuren – und die Wahrheit bleibt frisch und jung.

Dieser uralte Tag unsrer Erde wird jeden Morgen von neuem geboren. Er kehrt immer wieder zur Grundmelodie seiner Musik zurück. Wenn sein Gang in unendlicher gerader Linie vorwärts ginge, wenn er nicht dazwischen immer wieder hinabtauchte in den Abgrund des Dunkels und immer wieder neu hineingeboren würde in das ewig junge Leben, so würde er allmählich mit seinem Staub die Wahrheit beschmutzen und ganz zudecken, und die Erde würde vor Schmerz ächzen unter seinem schweren Tritt. Dann würde jeder Augenblick eine Last von Müdigkeit hinter sich zurücklassen, und der Verfall würde ewig über Schmutz und Trümmern sein Banner schwingen. Aber jeden Morgen wird mit den frisch erblühten Blumen der Tag wieder geboren und kündet uns immer von neuem dieselbe Botschaft und gibt uns die Gewähr, daß der Tod ewig stirbt, daß die See, wenn auch an ihrer Oberfläche die Wogen aufrührerisch toben, in ihrem unergründlichen Schoße tiefe Ruhe birgt. Der Vorhang der Nacht hebt sich, und die Wahrheit tritt hervor in strahlender Reinheit und Jugend, kein Stäubchen auf ihrem Gewand, keine Furche des Alters in ihren Zügen.

Wir sehen, daß Er, der vor Anbeginn aller Dinge war, noch heute derselbe ist. Noch heute läßt seine Stimme das Schöpfungslied erklingen. Das Weltall ist nicht ein bloßes Echo, das von Himmel zu Himmel irrt, wie ein heimatloser Wanderer – das Echo eines alten Liedes, das nur ein einziges Mal im nebelfernen Anfang der Dinge von seinem Meister gesungen und dann verwaist zurückgelassen wurde. Nein, jeden Augenblick steigt es auf aus dem Herzen des Meisters und wird von seinem Odem getragen.

Und darum kann es sich über den Himmel ausbreiten wie ein Gedanke, der in einem Gedicht Gestalt annimmt und braucht nicht unter der Last seiner eigenen immer wachsenden Schwere zu zerbrechen. Daher überrascht es uns durch endlose Variationen, daher die unendliche Reihe von Individuen, von denen kein einziges in der Schöpfung zum zweitenmal begegnet. Wie es am ersten Tage war, so geht es fort bis zum letzten, ein Beginnen, das nie endet – ewig alt und ewig neu ist diese Welt.

Es ist die Aufgabe unsres Selbst, zu erkennen, daß es jeden Augenblick seines Lebens neu geboren werden muß. Es muß hindurchbrechen durch alle Täuschungen, die es mit der Kruste des Alters umgeben und mit der Last des Todes drücken.

Denn das Leben ist unsterbliche Jugend, und es haßt das Alter, das seine Bewegungen zu hemmen sucht, das Alter, das nicht wirklich zum Leben gehört, sondern ihm folgt, wie der Schatten der Lampe folgt.

Unser Leben schlägt wie der Fluß an seine Ufer, nicht um sich von ihnen eingeschlossen zu fühlen, sondern um jeden Augenblick von neuem zu erkennen, daß es nur nach dem unendlichen Meere hin freie Bahn hat. Es ist wie ein Gedicht, das bei jedem Schritt die feste Schranke des Metrums fühlt, aber nicht, um durch ihre Starrheit zum Schweigen gebracht zu werden, sondern um im Gleichmaß des Rhythmus die innere Freiheit seiner Bewegung zum Ausdruck zu bringen.

So führen uns auch die Grenzmauern unsrer Individualität, indem sie uns auf der einen Seite in unsern Grenzen festhalten, dem Unbegrenzten zu. Nur wenn wir versuchen, diese Grenzen absolut zu machen, geraten wir in unmögliche Widersprüche und brechen jämmerlich zusammen.

Dies ist die Ursache der großen Revolutionen in der menschlichen Geschichte. Allemal wenn ein Teil, das Ganze mißachtend, seine eigene Bahn zu laufen sucht, wird er durch einen heftigen Ruck dieses Ganzen jäh angehalten und in den Staub geschleudert. Allemal wenn der Einzelne den ewig fließenden Strom der Welt-Kraft einzudämmen und auf das Feld seines persönlichen Nutzens zu beschränken sucht, führt er eine Katastrophe herbei. Wie mächtig ein König auch sein mag, er kann nicht das Banner des Aufruhrs gegen die unendliche Quelle aller Kraft, die in der Einheit des Alls liegt, erheben und doch mächtig bleiben.

Es steht geschrieben: Durch Gottlosigkeit haben die Menschen Erfolg, erlangen, was sie begehren, und triumphieren über ihre Feinde, aber danach verdorren sie an der Wurzel. adharmeṇaidhate tāvat tato bhadrāṇi paśyati tataḥ sapatnāñ jayati samūlas tu vinaśyati. [Manu 4, 174.] Unsre Wurzeln müssen tief ins Ewige hinabreichen, wenn wir zur ganzen Größe unsrer Persönlichkeit emporwachsen wollen.

Es ist das Ziel unsres Selbst, jene Vereinigung zu suchen. Wir müssen tief unser Haupt beugen in Liebe und Sanftmut und da unsern Stand nehmen, wo alle, groß und klein, sich begegnen. Wir müssen durch unsern Verlust gewinnen und durch unser Unterliegen uns erheben. Das Spiel des Lebens würde uns mit Entsetzen erfüllen, wenn wir nicht immer wieder dazwischen zu der Liebe des Ewigen zurückkehrten, wie das Kind von seinen Spielen in die Arme seiner Mutter zurückkehrt. Unser Ichstolz wird uns zum Fluch, wenn wir ihn nicht in der Liebe aufgeben können. Wir müssen erkennen, daß es nur das Unendliche ist, was sich immer wieder neu und ewig schön in uns offenbart und was unserm Selbst seinen Sinn gibt.


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